Die Trendmaschine
Die britische Musikpresse ist legendär. Titel wie New Musical Express und Melody Maker dienten einst als Wegweiser der Popgeschichte. Heute ist Britanniens Blätterwald allerdings dünn geworden.
Selbst die englische Musikpresse hat nicht immer recht. „Wenn Sie auf Gimmick-Stimmen stehen, wird Sie diese Single glatt umhauen“, stand da im New Musical Express (NME) geschrieben, „aber wenn Sie guten Gesang zu schätzen wissen, dann werden Sie es bestimmt nicht schaffen, das Stück bis zum Ende durchzuhören.“ Das war im März 1956, es ging um „Heartbreak Hotel“, die erste Platte von Elvis Presley, die auch in Großbritannien zu kaufen war. Zwei Monate später äußerte sich auch der Melody Maker zum Thema: „Der Rock’n’Roll-Kult bildet eine monströse Gefahr für die moralische Akzeptanz und die künstlerische Emanzipation des Jazz“, hieß es da: „Dagegen werden wir uns bis ans Ende wehren.“ So komplett daneben getroffen hat die britische Musikpresse später höchstens noch ein paar Wochen lang bei den Sex Pistols. Ansonsten lag sie häufig richtig. Mehr noch: Vom ersten Ton der Beatles an hatte eine lange Reihe von wöchentlichen, englischen Musikpublikationen maßgeblichen Anteil an der Entwicklung einer Popkultur, deren Wirkung weit über die Grenzen der Unterhaltungsindustrie hinaus zu spüren war. In den großen Boom-Zeiten der britischen Musikszene – also in den sechziger Jahren und dann wieder während der New WaveÄra – gab es eine zweistellige Zahl von Musikzeitschriften zu kaufen. Und dies wohlgemerkt jede Woche. Der Unterschied zu den USA hätte krasser nicht sein können. Dort ein Land mit endlosen Horizonten und schnurgeraden Autobahnen, dessen einzige wöchentliche Musikzeitschrift Billboard eine Fachzeitschrift für Musikbusinessleute war. Die Trends von New York erreichten Rapid City, South Dakota, nur, wenn finanzstarke Plattenfirmen Geld für eine landesweite Werbekampagne aufbrachten und – auch mit Schmiergeld – sicher stellten, dass die Lokalradios „das Produkt“ spielten. 1967 erschien zum ersten Mal der zweiwöchentliche Rolling Stone – hier konzentrierte man sich zwar auf den „Underground“, beschränkte sich zunächst allerdings auch nur auf die großen Namen. Großbritannien andererseits war geographisch gesehen sehr kompakt. Es war möglich, seine Platten innerhalb von drei, vier Tagen per Morris Mini eigenhändig im ganzen Land auszufahren. Chris Blackwell vertrieb so die ersten paar Dutzend Reggae-Singles, die am Anfang von Island Records standen. Natürlich führte der Konkurrenzkampf unter den Musikzeitschriften dazu, dass sich die Publikationen gegenseitig mit der Entdeckung der neuesten Sounds auszustechen versuchten. Dazu kam. dass auch deshalb ein solcher Erfolg, weil sie als alternatives Modell zu einem Popstarentwurf funktionieren, wie ihn Pete Doherty oder Großbritannien mit der BBC über einen zentralen, landesweiten Radiosender verfügte, der zumindest von der zweiten Hälfte der Sixtiesan neue Musik sofort in die hintersten Täler von Schottland trug (vorher hatten Piratensender und Radio Luxemburg für die Verbreitung von Beat-Musik gesorgt). Die rasante Abfolge von Trends stürzte das Land in einen regelrechten Musikrausch. Der Wissensdurst der Musikfans kannte keine Grenzen. Das war dem NME und Melody Maker nur recht – sie mussten jede Woche ja eine erhebliche Anzahl von Seiten füllen. So wurden die Interviews und Reviews immer länger. Die Stars und selbst ihre Drummer wurden nicht mehr nach ihren liebsten Speisen und bevorzugten Automarken befragt, sondern in punkto Lebenshaltung und Lifestyle bis auf die Nieren geprüft. Damit verwandelte sich die britische Rock- und Popszene in eine komplexe Jugendkultur mit vielen Verästelungen. Die Musikpresse war deren bevorzugtes Sprachrohr. Nie zuvor hatte die Generation der 15- bis 25-Jährigen einen derart direkten Draht zu den Massenmedien gefunden. hält sich die Begeisterung für Scouting For Girls in Grenzen. Der ehrwürdige Guardian analysierte gewohnt trocken: „It’s not clever,
Die Geburt der Weekhes
atmosphärische Flirren der Smiths, die melodische Großspurigkeit von Oasis, aber auch die genaue Beobachtungsgabe eines Ray Der Melody Maker wurde 1926 als Zeitschrift für die Musikerszene von London lanciert und gilt als die erste wöchentliche Musikzeitung überhaupt. Am Anfang konzentrierte man sich zeitgemäß auf Dance- und Big Bands, später wurde das Hauptgewicht auf Jazz verlegt – ein Grund dafür, warum man 1956 über keine Journalisten verfügte, die Verständnis für den Rock’n’Roll aufbrachten. 1952 kam der Erzrivale NME auf den Plan. Die Publikation war aus dem „Musical Express And Accordion Weekly“ hervorgegangen und wartete am 15. November 1952 mit der ersten britischen Singles-Hitparade auf (Nummer eins: AI Martino, „Here In My Heart“). Nach einem in Sachen aktueller Popmusik ebenfalls zurückhaltenden Start mauserte sich der NME in den frühen sechziger Jahren zum Trendleader. Melody Maker wandte sich an ein etwas älteres Publikum und hatte auch für Folk und Jazz Platz. 1973 wurden vom NME jede Woche fast 300.000 Exemplare verkauft, vom Melody Maker 250.000. Zu den eifrigsten Lesern gehörte ein gewisser Allan Jones im südwalisischen Industriestädtchen Port Talbot. „Wir fühlten uns weit weg und isoliert“, berichtet der spätere Chefredakteur des untereinander verschickten Nachrichten verschlüsseln konnten.
Melody Maker, der heute das gehobene Musik- und Filmmagazin Uncut betreut. Die Lektüre von Melody Maker, NME, Disc und Music Echo zeigte ihm eine unwiderstehlich exotische, fremde Welt: „Ray Colemanvom Melody Maker schien ein FreundjedesBeatlezusein. Ständig hieß es: ,Wie mir John Lennon am Wochenende mitteilte‘. Oder Chris Welch, der erste Musikjournalist, über dessen Stories sein Foto prangte. Der war, verdammt nochmal, mit Clapton und Hendrix unterwegs, traf sich im Speakeasy einfach so mit Keith Moon und Mitch Mitchell!“ Allan Jones‘ Konzert-Highlight aller Zeiten? Jimi Hendrix, Pink Floyd (mit Syd), The Nice, The Move und Eire Apparent, alle am gleichen Abend in einer Halle in Cardiff. (NME) geschrieben, „aber wenn Sie guten Gesang zu schätzen wissen, dann werden Sie es bestimmt nicht schaffen, das In Newport besuchte Jones wie so viele Altersgenossen die Kunstschule: „Ich ging hin, weil auch Keith Richards, John Lennon, Pete Townshend und Ray Davies hingegangen waren. Was hätte es für eine bessere Empfehlung geben können?“ Sein bester Kumpel an der Art School war John Mellor, aus dem später Joe Strummer wurde. Jones zog nach London und ergatterte 1974 £inen Job beim Melody Maker. Seine Erwartung, dass das Büro mit lauter kleinen Rockstars besetzt sein würde, wurde allerdings herbe enttäuscht. Er war umgeben von seriösen Herren, die dem langhaarigen Neuankömmling mit Misstrauen begegneten. Nach ein paar Wochen hatte es Jones satt, sich mit banalen Nichtigkeiten herum zu schlagen. Als er einen Anruf entgegennahm, mit welchem die Firma Columbia einen Redakteur zum Interview mit Leonard Cohen bestellte, behielt er die Nachricht für sich und ging selbst hin. Nachher sei die Hölle los gewesen, aber die Qualität der Geschichte überzeugte den Boss davon, dass Jones schreiben konnte. kaufen. Und dies wohlgemerkt jede Woche. Der Unterschied zu den USA hätte krasser nicht sein können. Dort ein Land mit endlosen Damals in den siebziger Jahren sei es ungleich leichter gewesen, den Künstlern auf ungezwungene Weise näher zu kommen. „Wenn man abends im Dingwalls einkehrte, standen da Nick Löwe, Ray Davies und Elvis Costello. Mit denen kam man problemlos ins Gespräch.“ Das änderte sich gegen Ende der achtziger Jahre. „Schon damals lief alles nur noch über PR-Firmen. Heute kann man mit der winzigsten Indie-Band erst reden, wenn man einen fünfseitigen Vertrag mit vier Kopien ausgefüllt hat.“ Die Nähe zum Künstler schlug sich aufs Lesegefühl nieder. Auch als Jones 1984 selbst die Chefredaktion des Melody Maker übernahm, waren die Qualifikationen als Musikfan wichtiger als das journalistische Können. „Wir legten viel Wert auf Vielseitigkeit. Unsere Schreiber mussten Enthusiasmus mitbringen, sie mussten ihre Materie verstehen. Wir ließen uns auch stark von unserer eigenen Überzeugung führen und setzten Bands aufs Cover, mit denen niemand sonst einen Titel gemacht hätte – R.E.M., The Smiths, Nirvana, Stone Roses und viele andere mehr.“ Über die ganze New-Wave-Zeit hinweg bis zum Grunge las jeder britische Musikfan sowohl Melody Maker und NME, vielleicht auch noch das metallischere Sounds und den poppigen Record Mirror. Dann wandelte sich alles blitzartig. „1988 konnten wir Thin White Rope aufs Cover setzen und problemlos 80.000 Exemplare absetzen“, erinnert sich Jones. „Ein paar Jahre später, als der Britpop im Zenit stand, hatten wir zwei exklusive Oasis-Cover hintereinander und kamen auf kaum je 30.000.“ trug (vorher hatten Piratensender und Radio Luxemburg für die Verbreitung von Beat-Musik gesorgt). Was war geschehen? Zum einen hatte die seriöse britische Tagespresse – Zeitungen wie Times und Sunday Times, Guardian und Observer – angefangen, eine erstklassige Musikberichterstattung zu bieten, die sich vorab an die etwas älter gewordenen Fans füllen. So wurden die Interviews und Reviews immer länger. Die
der New Wave wandte. Andererseits war die Boulevardpresse, die sich seit den Beatles nicht mehr um Musik gekümmert hatte, dank des Britpop-Booms mit der ewigen Fehde zwischen Blur und Oasis wieder auf den Pop-Geschmack gekommen. Inzwischen hatte der Erfolg der zweiwöchentlichen Postille Smash Hits gezeigt, dass eine neue Generation von Popfans keine langen Abhandlungen mehr lesen wollte, sondern zufrieden war mit Klatsch und Kurzfutter. Jones: „Es war fast schon zynisch, wie Smash Hits die Kurzatmigkeit und die Launen einer gewissen Art von Musikfans ausnutzte. Hier glaubte man nicht mehr an die Musik als Ausdruck einer gemeinsamen Kultur, die es zu schüren galt.“ (NME) geschrieben, „aber wenn Sie guten Gesang zu schätzen wissen, dann werden Sie es bestimmt nicht schaffen, das Einer bleibt auf der Strecke Kunstschule: „Ich ging hin, weil auch Keith Richards, John Lennon, Pete Townshend und Ray Davies hingegangen waren. Was hätte Smash Hits war bunt, laut und lustig, während die traditionellen Blätter vielleicht etwas allzu ernst geworden waren. Der Verlag des Melody Maker roch Lunte und verlangte von Jones, dass er das Blatt auf ein jüngeres Publikum zuschneide. Es war der Anfang vom Ende. Jones stieg aus, als ihm der Befehl, noch einmal die gänzlich lächerliche Britpop-Band Menswear aufs Cover zu setzen, den letzten Nerv kostete, und konzipierte fortan für den gleichen Verlag Uncut. Inzwischen hatte nämlich ein beträchtlicher Teil des Publikums die hysterische Jagd der Wochenblätter nach den neuesten Trends satt. Solche Leser kauften neben der Sunday Times nun lieber das 1986 lancierte Q mit seinen wohlrecherchierten Stories über die großen Bands der Zeit. Uncut mischte dem noch eine Prise Film und eine heftige Dosis Americana bei und liegt heute bei einer Auflage von 87.000. Mojo, das ganz auf Nostalgie baut, liegt bei 100.000. Markt-Leader Q hingegen, einst über 300.000 mal verkauft, ist auf 103.000 abgestürzt (ein unlängst gestarteter Versuch, sich an ein jüngeres Publikum zu wenden, hat offenbar die alten Leser vergrault, ohne neue anzulocken). „Wenn man abends im Dingwalls einkehrte, standen da Nick Löwe, Ray Davies und Elvis Costello. Mit denen kam man problemlos Für die Wochenpresse sieht es bitter aus. Melody Maker wurde im Jahr 2000 vom NME absorbiert. Dieser schafft es gemäß neuesten Ziffern gerade noch auf 49.000 Exemplare. 2006 ging auch noch Smash Hits ein: Das Kurzfutter war mittlerweile nämlich so kurz geworden, dass die Leserschaft erkannte, dass es sich auch sehr gut ohne leben ließ. Abgesehen davon war der Klatsch, den man in den Tabloids und auf der Gratis-Website www.popbitch.com finden konnte, wesentlich saftiger. Einzig das zweiwöchentliche Heavy-Metal-Magazin Kerrang! erfreut sich weiterhin einer gesicherten Existenz. niemand sonst einen Titel gemacht hätte – R.E.M., The Smiths, Nirvana, Stone Roses und viele andere mehr.“ Über die ganze Das Internet hat die Fronten gründlich verschoben. Fanatische Fans, die früher jedes Wort im NME verschlangen, tummeln sich heute in den Website-Foren und können über die zwangsläufig verspätete Berichterstattung in der Presse nur noch lachen. „Mit den Foren ist eine bestimmte Art von Fans noch fanatischer geworden“, sagt Jones. „Diese Fans scheint außer ihrer eigenen Band absolut nichts anderes mehr zu interessieren.“ Cover hintereinander und kamen auf kaum je 30.000.“
trug (vorher hatten Piratensender und Radio Luxemburg für die Eine weitere Veränderung, die der traditionellen Musikpresse in England zu schaffen macht, betrifft das Musikgeschäft im Allgemeinen. Allan Jones: „Der Musikpresse ging es immer dann am besten, wenn es eine reichhaltige Palette von Musik und Ereignissen gab, über die man schreiben konnte. Stiff Records mit seiner DIY-Philosophie und all den eigenwilligen Künstlern, oder auch Harvest Records, Island und später 4AD und Rough Trade das war für uns großartig, denn darin steckte persönliche Haltung und Philosophie. Heute scheint im Mainstream bloß noch eine Plattenfirma zu existieren: Universal. Denen gehört fucking alles. Da regiert nur noch eine Ästhetik -jene, die sich verkauft. Und um eine Duffy zu verkaufen, braucht es keinen NME.“