DIE TELE-BEICHTE – die öffentlich-rechtliche Nummer zum Glück
Landes- Und Bundespolitiker echauffieren sich vehement über die "Schmuddel-Talker", so als hätten sie die Erfolgs-Formel "Quoten durch Zoten" erst heute dechiffriert. Dabei hat die Strategie, Gaffer-TV als Therapieplatz zu verkaufen und trotzdem Zuschauer zu holen, längst ihren öffentlich-rechtlichen Guru: Schleimer Domian macht, geht's um die Peinlich- und Befindlichkeit, selbst Fliege zur Schnecke...
Kaum ist die Geisterstunde vorbei, kommt er vorgefahren: quietschfidel mit Baseball-Kappe und euphorisch beklatscht von den Passanten am Straßenrand. Der Beat hämmert sein hysterisches „Eins live!“, dann wird der Kamerasog unerbittlich, und Jürgen Domian landet im Fernsehstudio für die tägliche Telefonstunde Oralverkehr mit Bekenntniswilligen. Punkt ein Uhr morgens sitzt er dienstags, mittwochs, donnerstags, freitags und samstags in Gesprächspose, stülpt sich die Kopfhörer über und öffnet sein schäfchenbetörendes Lächeln wie einen quergesetzten Reißverschluß. Es kann losgehen. Die Arme sind ausgebreitet. Die Rufnummer genannt Er blickt in die Wohnstuben. 0180-5678-11L Wir dürfen ihn liebhaben.
Therapiesüchtige und Voyeure wie ich bilden die Gruppe der hundert- bis zweihunderttausend Südkurvenfans, die des nachts auf beichtende Mitmenschen wie Jennifer warten. Meist geht es um die uralte Frage: „Was Sie schon immer über Sex loswerden wollten, sich aber bisher nicht zu sagen trauten.“ Hier jedenfalls klappt’s.Jennifers spezielles Problem: Sie soll ihrem Freund auf den Bauch kacken, was sie aber gar nicht will. Jürgen rät – JiiHeeeäääääh!!“ – zur Enthaltsamkeit. Auf den Bauch kacken ist Scheiße. Und er landet einen Punktsieg. Kurze Fragen zum Prozedere des Eierlegens, damit sich die angetörnte Fernsehgemeinde Bilder machen kann. Dann aber wird therapiert, denn Jennifer fühlt sich unter Druck gesetzt, und das ist nicht gut Der Druckmacher und -empfanger kommt an den Apparat, um detailliert Bericht zu erstatten. Doch seine Liebe zu Jennifer ist Gott sei Dank groß, so daß Jürgen den beiden bald alles Gute für die Zukunft wünschen kann. Es könnte so einfach sein.
Mirko, der Marokkaner bumst mit seiner Ziege. Er und die Ziege können es immer, doch die dummen Ziegen, die er sonst noch so kennt, wollen manchmal noch reden, und das törnt ab. Sein Opa in Marokko, so erfahren wir, ist genauso einer. Die Oma ist passe. Opa pennt mit dem Tier. Mirko hat angerufen, um uns die Kultur der Sodomisten ein wenig näherzubringen. Mirko hat zwar eine Freundin, mit der er sogar intimer ist, weil er sie, im Gegensatz zur Ziege, auch ohne Gummi genießt. Doch den eigentlichen Kick erlebt er beim Orgasmus-Gemecker. Jedenfalls ist das Ziegenficken in Marokko bei den Männern ein al’er Brauch, und Jürgen wünscht den lieiden noch viel Spaß. Solange das Tier nicht leidet Jeder Jeck ist halt anders. Woody Allen hatte Recht.
Wir erfahren von Lars und von seinem Hang zu Autofelktio: Wie krieg ich meinen eigenen Schwanz in den Mund, ohne die Lust dabei zu verlieren? Die Sendung folgt dem Motto: auf Biegen und Brechen. Doch übelkeitserregend scheint der Geschmack nach fachmännischem Bekenntnis nicht – was die Problematik auf den Themenkreis „öfter mal Hausmannskost“ erweitert Lars jedenfalls versichert, daß es auf die Länge nicht ankommt Eher auf Gelenkigkeit Bei Jürgen muß sich niemand verbiegen. Er ist freundlich. Er ist interessiert. Er wünscht uns allerseits viel Spaß und rät: „Denk an deinen Rücken!“
Der Windelfetischist Robert – absoluter Brüller sucht einen zahnspangentragenden Mitfetischisten und muß sich in seiner feuchttraurigen Einsamkeit mit Träumen vom Bat(nässer)man begnügen. Ein homosexueller Gynäkologe heiratet Inzestopfer mit Tochter aus großväterlichem Tabubruch, deren Mutter – Partner des Gynäkologen also – vom Sexualpartner desselben therapiert wurde, bis sich Domian des Falles annahm. Hartmut, Masochist und Boss einer Putzkolonne von 200 Frauen, erzählt von Domina Elke. Drei Schwule und eine Lesbe zeugen via Cocktailglas ein Kind und fragen sich, ob es, wenn männlich, eine Tunte wird oder ein Bodybuilder oder so dick wie Dirk Bach. Wir erfahren über die Vorlieben beim Furzen. Wir erleben Satanismus und Lustmord. Haben wir Verständnis für Päderasten? Haben wir beim Autofellatio Gewissensbisse oder Bißspuren auf der Eichel? Hat sich Jürgens Dödel von der Brennesselkur erholt? Können Melanies Schwanzfotos kompromittierend sein? Wird der Hackfleischmann geheilt werden von seiner Manie, sich eine Frau aus 60 Kilo Mett zu formen und hineinzutauchen? Fragen, direkt vom Zehnmeterturm der Tiefenpsychologie, und die Leitung bleibt stehen, bis es spritzt. Dann aber wiid ausgeklinkt und nach dem nächsten gefragt.
Domian und sein Talk sind beileibe kein Einzelfall, denn nie war die Beichte so öffentlich wie heute. Auf allen Kanälen, vom besten bis zum schlechtesten Sendeplatz, tummeln sich reumütig Redselige oder vom Schwatzdruck zum Platzen Gebrachte oder die tatsächlich Bedrückten und bekennen hier auf Teufel komm raus – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Glaubwürde der Beichtväter riecht in der Regel nach Lack. Wir haben sie hassen gelernt wie das Private am Funk, das Konservative und das apolitische Gesülze tagaus, tagein. Wir haben uns arrangiert mit der Tatsache, daß die Intellektuellen tot sind oder zumindest so tun, als würden sie so riechen. Wir haben die Meisers, Veras, Sonjas und Flieges im Geist mit Zielkreuzen versehen und mit Kalkofe gefragt, warum eine „fleischgewordene Beileidskarte“ eine Fernsehsendung moderiert, anstatt vor Karstadt den „Wachturm“ zu verkaufen. Und wir haben uns köstlich amüsiert, als die sprechende Denkblockade namens Meiser in Wieland Backes‘ Tälkshow aneinandergeriet mit Titanic-Chef Oliver Schmitt, der das rhetorische: „Meinen Sie etwa, die Leute in meiner Show sind dumm?!“ demagogisch mit Ja!“ beantwortete.
Meiser und Co. als Siegelbewahrer des schlechten Geschmacks, des miefigen Mobs, des Denkens von Gestern – das waren die Positionen entlang einer Demarkationslinie, Dahinter mochten sie ja wirken wie Spätheimkehrer und Wehrmachtsbewahrer und unsere befreite Sexualität in ihren Sendungen zu billigem Voyeurismus denunzieren. Hier sonnten wir uns auch weiterhin im Glauben, unser Ego wie einen Tabubrecher durch jene rissigen Moralvorstellungen zu schieben, vor denen wir unsere Eltern stets gewarnt hatten. Drüben, bei den Meisers, war Jugend etwas Käufliches, tummelte sich Arabella Kiesbauer, regierten die Zombies, die Rechten und die Quote. Hier aber war Jugend noch immer Kultur, und sie würde es auch bleiben – bis zum völligen Verschwinden.
Mit Domian kam die Wende. Endgültig. Sein Erfolg war vielleicht der noch fehlende, allerletzte Beweis, daß Popkultur als integrer Bereich schon längst nicht mehr existiert und sich aufzulösen beginnt, so daß er. sich kaum mehr unterscheiden läßt vom Rest des Quarks. Die Aggressivität eines Howard Stern, der sich im US-Radio langmähnig den Gesetzen des sogenannten Geschmacks widersetzt; oder auch nur der gezähmte Kodderton eines Ali Khan etwa auf TV-München – für Domian wäre das undenkbar. Unter den Pflegefallverwaltern des Funks liefert er nichts anderes als die bizarre Version eines Beichtvaters und Weichtalkers. Er, dessen Persönlichkeit ein Surrogat zu bilden scheint aus allem, wofür sich die vergangenen 30 Jahre ureigentlich gelohnt haben: freie Sexualität, Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Liebe, Meinungsfreiheit, Offenheit und Toleranz. Er tut genau das gleiche wie Hans Meiser, die wiedererstandene Knetekönigin Schreinemakers und vor allem wie Jürgen Fliege – mit eigenem Vorzeichen.
Doch man betrachte es genauer. In der Topographie des Talkens hat die Beichte ja ihren kulturgeschichtlichen Platz und läßt das Koordinatengewirr um Phänomene wie Domian und Fliege in Konkurrenz zu den Meisers, Schreinemakers und Kiesbauers beinahe selbstverständlich erscheinen. Ebenso ihr Verhältnis zum strippopulistischen Dauergeplauder der Orgasmusbranche um Trendsetterin Erika Berger nebst Ablegerinnen Lilo Wanders oder Verona Feldbusch. So bezieht sich der Landauer Theologieprofessor Rolf Schieder in seinem Essay über Jürgen Fliege, „Die Talkshow als säkularisierte Beichte“, auf Michel Foucault und dessen Untersuchungen zum „Geständnisritual“ in der modernen Gesellschaft. In „Der Wille zum Wissen“ formuliert er eine Gesellschaft des Geständniszwangs. Foucault zufolge wird uns die Verpflichtung zum Geständnis „mittlerweile von derart vielen verschiedenen Punkten nahegelegt, daß sie uns gar nicht mehr als Wirkung einer Macht erscheint, die Zwang auf uns ausübt; im Gegenteil scheint es uns, als ob die Wahrheit im Geheimsten unserer selbst keinen anderen »Anspruch‘ hegte, als den,an den Tag zu treten (~) Das Geständnis befreit“ Und deutlicher: „Die Ausweitung des Geständnisses, des Geständnisses über das Fleisch ist nicht aufzuhalten“, was sich in den typisch deutschen und typisch ökonomiefixierten Medienbedingungen der modernen Gesellschaft wunderbar einrichten kann. Vor allem über solche Koordinaten wie „Betroffenheitswahn“, „Unterhaltung“, „Suche nach Lebenshilfe“ und „Lust am Spannen“. Dabei spielt es auch keine Rolle, daß sich die intime Atmosphäre einer Beichte und der Zirkusarenenstil moderner Bekenntnis-Shows scheinbar ausschließen. Schieder verweist auf den frühchristlichen Modus der „Exhomologese“, der öffentlichen Buße, wie sie beim Karthagoer Kirchenvater Tertullian belegt ist, und wie sie sich hinüberpervertiert hat in die modernen Techniken des Schauprozesses.
Domian ist neben Fliege der geschickteste Stratege, wenn es darum geht, Gaffer-TV als Therapieplatz zu verkaufen – und trotzdem noch Zuschauer zu bringen. Das Wort „Südkurvenfäns“ am Anfang des Artikels war natürlich nicht ganz korrekt. Südkurvenfans sitzen bei RTL oder SAT1 oder den anderen Privatanstalten der rülpsenden Mattscheibe. Bei Domian sitzt (auch) die Intelligenz und fühlt sich besser. Sie bekommt zwar nichts zu sehen. Sie macht sich die Bilder aber selbst Gesteuert vom Moderator, was ja immer eine Nummer schräger ist als die Realität Domian ist tolerant bis über beide Ohren und engstirnig, wann immer es notwendig scheint Vom Pfad der Korrektheit abzuweichen, würde er nicht wagen. Päderasten, Pädophile, Kinderschänder aller Art gehören, seiner Meinung nach, lebenslänglich in den Knast und knallhart zwangstherapiert Beim Stichwort „Todesstrafe“ fragt er sich, ob es für diese Sorte von Sexualtätern nicht schlimmer sei, den Rest des Lebens hinter Gittern zu verbringen. Dem Minderheitenmann Domian sitzt der Mehrheitsbeschafier im Nacken, der sich zur Projektionsfläche macht für alles und jeden. Er hat sich ein dermaßen synthetisches Image zurechtgelegt, daß er sich als einziger bundesdeutscher TV-Moderator sowohl über den Vornamen ab über den Nachnamen anbietet Ganz gleich, ob die Leute ihn Jürgen“ oder „Domian“ nennen. Das Du wird in jedem Fall mitgeliefert Persönlich-vertraulich und im Mischungsverhältnis von – wie er selbst einmal sagte – gutem Kumpel, Erika Berger und katholischem Geistlichen.
Letzteres ist er wohl vor allem deshalb, weil das konfessionsgebundene Weltverständnis zwar zerbröselt, nicht aber das Bedürfnis nach irgendeiner persönlichen und persönlich glaubhaften Form von moralischer Führung. Priesterliche Weihen wie sie ab den frühen Sechzigern noch ihro Segensreich Pfarrer Sommerauer vertrat, sind längst out. Er, der seine Jovialität fast so lange über die Fernsehbühne rollte wie die Stones durch die Rockgeschichte, konnte sich zum Volk noch in väterlicher Autorität hinunterbeugen und in Sendungen wie Je später der Abend“, „Schaukelstuhl“ oder „Höchste Zeit“ moralisches Schwergewicht vertreten. Sein Augenmerk galt Fundamentalfragen wie „Mangel an Liebe“, den „Problemen einer Überflußgesellschaft“, er sinnierte öffentlich-rechtlich über die menschliche Kunst der Geselligkeit, und er maß die protestierende Jugend an ihrer Spendenbereitschaft für „Brot für die Welt“. Immerhin aber hatte die Kirche mit Sommerauer erkannt daß dem schleichenden Autoritätsverlust nur mit telegenen Gestalten zu entgegnen sei. Seitdem waren Fernsehpfarrer irgendwie umgänglich und irgendwie sinnlich, auch wenn es dann meist um die mönchischen Tugenden von essen und trinken ging. Fliege als Nachfolger Sommerauers greift das Wirken seines Vorgängers auf und deutet es um in eine Zeit, in der die Kirche das Kreuz ihrer Glaubwürdigkeit selber tragen muß. Er setzt auf den „Dornenvögel-Effekt“, denn „das Volk hat Hunger nach einer erotischen Religiosität, Zuwendung, Hinhören, zärtlich sein.“ Er praktiziert Kirche durch die Hintertür.
Die Beichtstuhlgänge bei Jürgen Domian scheinen zunächst völlig von weltlicher Natur zu sein. Doch Leute mit Wiedergeburtsphantasien und Esoteriker jedweder Couleur rufen bei ihm genauso an wie Gläubige mit Problemen gegenüber den Richtlinien der Amtskirche. Domian wettert gegen den Papst und dessen restriktive Sexualmoral, könnte sich aber im gleichen Atemzug ein Leben als Katholik vorstellen. In seiner Jugendzeit verzeichnete er eine fast schon fundamentalchristliche Phase mit sonntagmorgendlichem Protestieren vor der Kirche gegen die Messemüdigkeit der modernen Feierabendgläubigen. Er steht auf so kernige Namen wie Hermann, Minna und Knut Er wandert gern in den Alpen. Sein Lieblingstier ist der Adler. In ‚Zeiten des Beliebigkeitsfetischismus, der Unübersichtlichkeit und der belächelten bis veralberten Werte futtert, er das heimliche Ordnungsbegehren derjenigen, die sich verloren fühlen oder überfordert zwischen alt-/neuem Denken in Hierarchien und dem heimlichen bis heftigen Verlangen nach Liberalität. Das sind eine ganze Menge, und darin unterscheidet er sich nicht wesentlich von Fliege. Domian ist weich wie Sanso. Aber innerhalb von fünf Minuten rückt er die Leute zurechtwenns drauf ankommt.
Der Theologe und Literaturwissenschaftler Frank Hiddemann hat Domians „Eins Live“-Talk-Radio im WDR 3 mal als säkulare Beichte charakterisiert und die Arbeit des Ex-Philosophiestudenten zwischenQuotenarbeit und ehrlicher Seelsorgerei angesiedelt Domian steht, laut WDR, für „einfühlsame, intensive und engagierte Gespräche. Sein Themenspektrum reicht von ,Sex an ungewöhnlichen Orten‘ bis zum Asylgesetz und Tod. (~) Im Hintergrund arbeitet immer ein Diplompsychologe mit, der sich um besondere Problemfalle kümmert.“ Ähnlich zu der Beichte aber läuft die nächtliche Talkshow nach festem Ritual ab. Die einminütige Pause nach der ersten halben Stunde. Die grüne Wasserflasche, die seit Beginn der Sendung dabei ist. Der stereotype Umgang mit den Anrufern: begrüßen, Problem rauskitzeln und prickelnde Details für die Bildschirmgemeinde. Während Pfarrer Fliege seine Fangemeinde von schmachtenden Witwen heimsucht wie der Heiland und durch Handauflegen zu heilen versucht, herrscht bei Domian die Scheinintimität eines Gesprächs, das von zweien geführt und von Hunderttausenden gehört wird. Der Pfarrer als soziale Instanz der Bestätigung ist ja insbesondere bei Jüngeren out. Die Öffentlichkeit ist an seine Stelle getreten. Was ich der gestehen kann, belastet mich nicht mehr. Auch das ist eine Beichte. Domian müht sich um immerwährendes Interesse, ähnlich erfolgreich wie Fliege – und die Übereinstimmungen in offiziellen oder Pressestatements zu beiden verblüfft. Im „Express“ las man über Fliege, er sei“bis zur Penetranz liebenswürdig und hat für alles Verständnis“. Die ARD nennt ihn ab „Garanten, daß es nicht um Voyeurismus geht, sondern um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Menschen.“ Was den Sender allerdings in erster Linie interessiert, ist die Zuschauerzahl. Als Fliege Mitte Oktober seine Beichtbühne von München in die neuen Bundesländer verlegte, galt das nicht nur der Mitmenschlichkeit und der Einsicht, daß die Gabe der Fernheilung nicht funktioniert. Die „taz“ witzelte süffisant, der Osten sei immer noch Meiser-Land. Das wollte der Herr dann wohl ändern. Für Domians Radio-Grundlage ergeben sich ähnliche Prämissen. Die Medienwissenschaftler Michael Barth und Klaus Neumann-Braun behaupten, daß Anrufer dem Sender als „kostengünstige Lieferungen Material für die Zurschaustellung von Authentizität“ bieten. Ziel also: nicht Gespräch oder Hilfe, sondern Unterhaltung.
Tolle Möglichkeiten bietet dabei das Format einer Sendung, mit dem der Kölner bei Pseudointellektuellen so gut ankommt, weil es dem Strip-Charakter angeblich entgegensteht. Daß es lediglich zurückgreift auf den kalkulierten Betrug, wird natürlich verschwiegen. „Eins Live“ hat wunderbar lernen können von „Night Talk 0137“, die von Mai ’93 bis Dezember ’94 unverschlüsselt auf „Premiere“ lief und Moderatorin Bettina Rust qua Fon, Fax oder BTX mit Quasselnden verband. Das Konzept war natürlich nicht neu, aber die Erfahrungen ermutigend, stellte man bei „Premiere“ doch fest, daß die Zuschauer unter dem Deckmantel der Anonymität eine ganz andere Person darstellen konnten oder Alter, Geschlecht, Berufänderten. Sie konnten den allergrößten Schwachsinn erzählen, ohne sich dabei das Rotwerden anmerken lassen zu müssen.
Domian kommt nur höchst selten auf die Idee, den Wahrheitsgehalt all der Geschichten zu überprüfen. Solange kein offensichtlicher Fall von Fake vorliegt, läßt er weitererzählen und spielt den Ahnungslosen – bis zur Peinlichkeit. Der überraschte Jürgen, dessen üblicher Kunstgriff dann in Richtung: „Erzähl mal genauer! Das interessiert mich jetzt“ geht, holt aus den Leuten solch schöne Auskünfte heraus, wie weit man zum Beispiel beim Fisten den Arm in den Arsch des Partners schieben kann und welche Sorte von Schmiermittel die Profis verwenden. Wir hören von den Stellungsmöglichkeiten des Pupens beim Sex, von individuellen Duftnoten, von den Gefahren beim Spiel mit dem Feuerzeug am Hintern, und wir lernen die Antwort auf die Frage, ob’s antörnt oder nicht – nun ja, „blowing in die wind“, wie es so schön heißt Domian ist teil des Gesamtkonzeptes „Eins Live“, einstmals aus der Schmach des WDR geboren, am Südrand von Nordrhein Westfalen höhere Verlustquoten an den SWF zu haben als die DDR am Todesstreifen – an Oberläufern, wohlgemerkt Während SWF3, als er noch existierte, so was wie ein Kultprogramm fuhr, dümpelte die gute alte Tante WDR vor sich hin, bis im Rahmen einer Programmrefbrm mit „Eins Live“ konsequent auf Quote und Jugend gesetzt wurde – mit all den Tricks der Hörerbindung, die psychologisch geschulten „Programm“-Machern so einfallen. Jetzt haben wir den Salat Der WDR aber hat den höchsten Zuwachs an Hörern und Werbeetiösen seit Jahren. Und wenn jetzt das zweite Domian-Buch mit ausgewählten Gesprächsprotokollen samt Kommentaren herauskommt, dann zündet auch beim Projekt „Nachtfalke“ die Stufe zwei. „Extreme Leben“, Band I des „Talking Head“, kam Ende ’96 raus. Er verkaufte sich super, war aber senderpsychologisch kein Bringer: Hörerbindung generiert halt primär die Person Domian. Also mußten bei Jenseits der Scham“ viel mehr Infos zu Jürgen rein: in diesem Falle ein durch Gesprächsprotokolle unterbrochenes Endlosinterview mit Hella von Sinnen.
Zu erwarten ist ein Buch, in dem uns der Jürgen wie du und ich, der Jürgen jenseits der Scham, der Jürgen der Existenzkrisen und der Jürgen mit Papi und Mami so richtig nahegebracht wird. Das nämlich ist der Jürgen, der alle Probleme schon kennt und versteht Selbst wenn’s um „Peanuts“ geht, kann man ihn konsultieren. Etwa so, wie Charlie Brown seine Lucy. – Ihr wißt schon: „The doctor is in.“