Die Tagebücher von Kurt Cobain erzählen einem wenig Neues, das aber so detailliert, dass man sich bisweilen wie ein Voyeur vorkommt.
Man fühlt sich ein bisschen schuldig dabei. Ab Kind hat man ja schon gelernt, dass man das nicht darf: in Tagebüchern anderer schnüffeln, das ganz Private ausspionieren. Man traute sich das bei der eigenen Schwester nicht, und jetzt soll man all die geheimen Aufzeichnungen von Kurt Cobain lesen dürfen? Courtney Love hat es erlaubt, aber es kommt einem trotzdem nicht richtig vor.
„Cobains Journals“, zu deutsch „Tagebücher“ (Kiepenheuer & Witsch, übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann), stammen aus den Jahren 1988 bis 1994, sie erhalten allerdings keine genauen Daten – das hätte auch kaum zu seinem Kopfchaos gepasst. So lassen die Aufzeichnungen einen oft rätseln, was wohl gerade passiert sein mochte, dass nun ein Depressionsschub entstand, ein Wutanfall oder ein Horrortrip. Die deutsche Version bietet nur eine Auswahl aus dem Material der US-Originalausgabe, aber das reicht schon, um sich endlich ein eigenes Bild des Nirvana-Kopfs zu machen – auch wenn natürlich vorher gehörig zensiert wurde: Hier gibt es, da seien alle Sensationshungrigen gleich gewarnt, kaum Details zur Ehe mit Courtney, keine Kommentare zur Tochter Frances Bean. Dafür viel über Musik, die Anfangstage Nirvanas, die Tourneen, die Drogen, den öffentlichen Druck.
Streng genommen sind die „Tagebücher“ gar keine, sondern Notizen jeder Art, darunter nie abgeschickte Briefe an den Melvins-Drummer Dave Crover, an Screaming Trees-Sänger Mark Lanegan und Eugene Kelly von den Vaselines. Dem ersten Nirvana-Schlagzeuger Dave Foster kündigt Cobain schriftlich – und schämt sich für seine Feigheit. Gleichzeitig erkennt man in dem Brief schon Kurts Ehrgeiz, aus dieser Band etwas zu machen – und die Angst, es nicht zu schaffen: „Eine Band muss proben, nach unserer Ansicht mindestens fünfmal pro Woche, wenn sie etwas erreichen will. Wir sind die ständige Ungewissheit leid, jedesmal wenn wir einen Auftritt haben. Dann fragen wir uns: ‚Werden wir wieder beschissen sein? Haben wir es schon drauf‘?“ Kurz darauf stellt er Chad Channing als Fosters Nachfolger vor und schreibt immer krakeligerer: „We expect you to be totally pissed off and hate our guts and we don’t blame you.“ Immerhin.
Die Faksimiles sind so rührend, weil sie all die Konfusion schon in der Schrift offenbaren – und zeigen, dass Cobain einerseits keine Scheu hatte, geliebten Kollegen viele Komplimente zu machen und andererseits gar keinen Wert auf die richtige Schreibweise von Stars legte: Er erwähnt „Jackson Brown“, „Jimmi Hendrix“ und „Gerry Garcia“. Er selbst nannte sich ja auch Kurdt Kobain, Kurt Kobain, Kurt Cobain.
Humor hatte er übrigens auch – eine Tatsache, die oft vergessen wird. Vielleicht, weil sie sich nur zwischen so viel Selbsthass finden lässt. In einem Moment nennt sich Cobain selbst einen „borderline anorexic-Auschwitzgrunge-boy“, dann stellt er lakonisch fest: „I hope I die before I turn into Pete Townshend.“
Seine Kreativität hat niemals nachgelassen, trotz Krankheit und Heroin und Courtney. Die Journals sind voll mit komischen Comics, Treatments und Ideen zu Videos, Songtexten und Erklärungen dazu. Außerdem findet sich der erste, von Kurt selbst verfasste Promotext: „Nirvana is a trio who play heavy rock with punk overtones.“ Etwas simpel ausgedrückt, aber nicht falsch. Er notierte vorsichtshalber auch noch die „things the band needs to do“ – einen Übungsraum finden und so. Er war da sehr genau. Immer wieder listete er Songs anderer Gruppen auf, seitenlang. Und bald begann er, sich Gedanken um die eigenen Karrierewege zu machen – die Entscheidung war gar nicht einfach.
„Es gibt nur zwei Möglichkeiten für einen Songwriter, entweder ist er ein trauriger, tragischer Visionär wie Morrisey (sic!) oder Michael Stipe oder Robert Smith, oder er ist der typische alberne weiße Junge, ein Hey-let’s-party-und-wir-machen-uns-keinen-Kopf-Typ wie Van Halen oder der ganze andere Heavy-Metal-Scheiß.“ Kurt wollte leidenschaftlich sein und ehrlich und doch auch Spaß haben. Zu der Zeit hörte er noch Aerosmith. Und AC/DC.
Es dauert nicht lange – wohl ungefähr bis zur Veröffentlichung von „Nevermind“, bis die Begeisterung für die Band umschlägt in die Erkenntnis, dass ihn so viele so überhaupt nicht verstehen und dass er wahrscheinlich keinen Weg mehr zurück in die Normalität finden wird. „Ich habe nicht die Zeit, das, was ich verstehe, in Konversation umzusetzen. Mit Konversation habe ich größtenteils schon im Alter von neun Jahren abgeschlossen. Ich fühle allein durch Grunzer, Schreie und Töne – und mit Handbewegungen und meinem Körper. Im Geist bin ich taub.“
Die Tourneen strapazieren den körperlich ohnehin anfälligen Cobain, er verliert die Orientierung und weiß nicht, wie er jeden Abend auf der Bühne bestehen soll. „Der Unterschied zwischen einem aufrichtigen Entertainer und einem ehrlichen Schwindler ist schwer auszumachen.“ Glaubt man seinen eigenen Worten, so entschied er sich damals bewusst für die Heroinsucht, um seine Magenschmerzen zu lindern: „Ich war oft wochenlang buchstäblich ans Bett gefesselt, kotzend und hungernd. Da überlegte ich mir, wenn ich mich schon wie ein Junkie fühle, da kann ich auch gleich einer werden.“
Und dann kommt die vielleicht schlimmste Passage, in der er gegen all die fiesen Journalisten wütet und gegen all die gemeinen Berichte über ihn und Courtney und schließlich feststellt: „Ich habe so viele lächerliche Freud-für-Arme-Einschätzungen meiner Persönlichkeit von Kindheit an bis heute anhand unserer Interviews gelesen, und dass ich ein notorisch fertiger Heroinsüchtiger und Alkoholiker bin, ein selbstzerstörerischer, dabei jedoch übersensibler, zerbrechlicher, einnehmender, narkoleptischer, neurotischer kleiner Wichtigtuer, der sich irgendwann eine Überdosis verpassen, vom Dach springen und überschnappen und den Kopf wegschießen wird, oder alles drei zusammen, weil ich mit dem Erfolg nicht klar komme!“
Tatsächlich würde es ihm gelingen, sich gleich doppelt umzubringen, wie Charles R. Cross in seiner recht pathetischen, aber sehr genauen Biografie „Der Himmel über Nirvana“ (Hannibal) schildert. Am 5. April 1994 drückte Cobain zunächst so viel Heroin, dass er an der Überdosis wohl sowieso gestorben wäre. Aber in den wenigen Sekunden, die ihm bis dahin blieben, schoss er sich noch in den Kopf. Das „Kunststück“, sich gleich zweimal zu töten, hatten schon zwei seiner Verwandten versucht: der Großonkel hatte sich einst in Kopf und Bauch geschossen, der Urgroßvater sich ein Messer in den Bauch gerammt und die Wunde später noch einmal aufgerissen.
Wer nun unbedingt alles über „Kurt Cobains Leben und Sterben“ (so der Untertitel von „Der Himmel über Nirvana“) erfahren will, der ist mit Cross‘ Biografie wohl tatsächlich besser bedient. Der Musikjournalist und Courtney-Freund bekam die „Tagebücher“ vorab zu lesen, wertete sie aus und reicherte sie mit vielen Details an – bloß der Himmel weiß, woher er all die Informationen hatte. Dass nach Kurts Tod noch „Automatic For The People “ im CD-Player lag, okay. Aber wie Cross die letzten Stunden schildert, scheint doch ein wenig gewagt – als wäre er dabei gewesen: „In der Küche öffnete er den Zehntausend-DoUar-Edelstahlkühlschrank von Traulson und holte eine Dose Barq’s Root Beer heraus, vorsichtig, damit ihm dabei die Flinte nicht vom Arm rutschte. Beladen mit diesem merkwürdigen Sammelsurium – Limonade, Handtücher, eine Zigarrenkiste mit Heroin und eine Flinte -, das man später um ihn herum finden sollte, öffnete er die Hintertür des Hauses und überquerte die kleine Terrasse. Über dem Rasen hing der Dunst in der Dämmerung.“ Ein Selbstmord ist doch kein verdammter Krimi.
Aber diese Brutalität, die Entschlossenheit, der Wille zur Selbstzerstörung – die Hinweise darauf sind auch die bewegendsten Momente in den sonst doch eher unspektakulären „Tagebüchern“. Nach all den Krankheitsberichten und der Journalisten-Schelte (bei der die Übersetzer übrigens Kurt Loder zum“Herausgeber des ROLLING STONE“ machen – was Cobain sicher auch nicht gefallen hätte…) bleibt am Ende vor allem Zynismus übrig – gepaart mit Hoffnungslosigkeit „Wir wollten den dummen Heavy-Metal-Kids bloß eine andere Art zu denken nahebringen und für etwa 13 Jahre emotional und gesellschaftlich wichtige Musik geben, und alles, was wir dafür bekamen, waren Stress, Intrigen und Pearl ————— Jam.“ Die angeblich integren Kollegen bei den kleinen Labels hasst er auch: „Ich werde nicht einen einzigen Dollar dem beschissenen, immer bedürftigen Indie-Faschistenregime spenden, die sollen verhungern. Sollen sie doch Vinyl essen. Jeder Krümel für sich allein. Ich werde dank meines Kultstatus noch jahrelang meinen untalentierten, sehr ungenialen Arsch zu Markte tragen.“ Aber dazu kam es dann ja nicht mehr.
Der letzte, wirre Eintrag entstand auf Hotelbriefpapier am 3. März ’94 in Rom – kurz vorm ersten Selbstmordversuch. Der Abschiedsbrief ist aus unerfindlichen Gründen nicht abgedruckt. So bleibt man am Ende ratlos zurück. Das kann doch nicht alles sein? Vielleicht hat Kurt Cobain die wichtigsten Fragen nur in seinem Kopf und seinen Songs verarbeitet. Vielleicht gab es Seiten, die nie jemand lesen soll, oder später nur Frances. Vielleicht plant Courtney Love auch längst Journals II – The Love Letters“. Smells like meanspirit.