Die Stunde auf der Lichtung
Der Journalist und Autor Wolfgang Büscher lässt die deutsche Tradition der Reiseliteratur wieder aufleben.
Als der Journalist und Reiseschriftsteller Wolfgang Büscher 1970 noch zur Schule ging, besuchte der damalige DDR-Ministerpräsident Willi Stoph seine Heimatstadt Kassel. Ein Ereignis, das bei dem damals 19-Jährigen großen Eindruck machte. „Ganz Kassel war so aufgewühlt, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte“, berichtet Büscher, in einer Hotelbar in Berlin-Mitte sitzend. „Das war schon etwas Besonderes, dass in diesem kühlen Hessisch-Sibirien, wo es viel regnet und die Winter lang und hart sind, die Leute bis weit nach Mitternacht in der Innenstadt auf den Straßen und Plätzen standen und redeten. Es war, als ob ein Pfropfen aus einer Flasche geflogen war, als ob der Himmel aufgerissen war. Und ich fragte mich, was ist hinter dieser Mauer, dieser Wand, hinter die ich nicht schauen durfte, das die Leute so bewegt?“
In dieser Erinnerung liegt wohl der Ursprung für Büschers Neugier und Sehnsucht nach dem Unbekannten und Fremden, der geografischen und kulturellen Grenzüberschreitung.
Nach einigen Studienjahren in Marburg zog er Ende der Siebziger schließlich nach Berlin, um seiner Faszination für das geteilte Land journalistisch und später auch literarisch nachzugehen. Er schrieb für Tageszeitungen und Agenturen, später für den „Spiegel“, die „Süddeutsche Zeitung“, reiste für „Geo“ in fremde Länder, wurde Leiter des Ressorts „Reportage“ bei der „Welt“ und arbeitet heute beim „Zeit“-Magazin.
In der Textsammlung „Drei Stunden Null“ bewegte er sich 1998 erstmals im Grenzgebiet zwischen Literatur und Journalismus, näherte sich über die eigene Geschichte den deutschen Schicksalsjahren 1945,1968 und 1989. Und wenn er etwa seinen Marsch um das wiedervereinigte Berlin beschreibt, leuchtet darin nicht nur die deutsche Geschichte, sondern auch eine vergessen geglaubte Tradition der Reiseliteratur auf.,Als Journalist muss man einfach Regeln folgen. Man man muss ja den Vertrag mit dem Zeitungsleser einhalten“, erklärt Büscher den Unterschied zwischen seinen journalistischen und literarischen Texten. „Man sollte also möglichst die Wahrheit sagen und informieren. Da kann man nicht einfach irgendwelchen Inspirationen nachhängen. Der Vertrag mit dem Leser von Literatur ist ein anderer, der lautet: Du sollst mir eine gute Geschichte erzählen. Natürlich spielt der Wahrheitsgehalt bei Texten, die wie meine in einem Grenzbereich angesiedelt sind, auch eine Rolle. Das Literarische liegt nicht darin, dass es von Abis Z erfunden ist, sondern darin, dass es nicht so sehr darum geht, Informationen zu liefern, als eine Geschichte zu erzählen.“
Eine besonders packende Geschichte erzählt Büschers erstes großes Buchprojekt, für das er sich 2002 weit hineinwagte ms Land hinter dem einstigen Eisernen Vorhang, das ihn seit der Jugend so fasziniert hatte. Mit Rucksack und einigen Karten machte er sich zu Fuß auf den Weg von Berlin nach Moskau. Er wählte die Route, die schon sein Großvater als Mitglied der Heeresgruppe Mitte während des Zweiten Weltkriegs gegangen war. Wie weit dieser dabei kam, wusste Büscher nicht, denn sein Großvater war nie zurückgekehrt.
Neben den Spuren der Familiengeschichte gab es noch eine weitere Motivation, die Büscher zu dieser Reise bewegte. „Ich wollte einfach mal einen Sommer lang mit mir allein sein“, meint er. „Ich wollte nicht in irgendwelchen Büros sitzen, nicht in irgendwelchen bekannten Straßen auf und ab laufen, wollte keine bekannten Gesichter sehen. Ich wollte nicht reden müssen. Ich wollte jeden Morgen eine Tür hinter mir zumachen, von der ich wusste: Die machst du nie wieder auf, die Klinke fasst du nie wieder an.“
Ein nicht ganz ungefährlicher Aufbruch ins Ungewisse. Es waren aber nicht etwa Gottvertrauen oder die—wie er sagt – „viel zu guten Karten“, die Büscher bei dieser waghalsigen Unternehmung, durchs teilweise sonst nur von gesetzlosen Banden durchkreuzte Niemandsland zu wandern, Mut und Gelassenheit gaben. „Es war ein Lied, das mich bis nach Moskau gebracht hat, mich irgendwie in eine Siegfriedsche Drachenhaut eingehüllt hat, so dass ich dachte, ich wäre unverwundbar“, erklärt er. „Es war .Blind Willie McTell‘ von Bob Dylan. Im Winter, bevor ich losging, ist dieses Lied zu mir gekommen. Vorher kannte ich das gar nicht. Aber von da an hab ich es jeden Tag mindestens zehn Mal gehört. Es hat mich genau in die Stimmung versetzt, in der ich dann im Juni losgelaufen bin. Morgens früh um Fünf. Dieser Song war wichtiger als alle Karten, wichtiger als alle Visa, als alle Schuhe und Hemden.“
„Berlin – Moskau“, die Schilderung dieser Reise, wurde schließlich ein Bestseller. Auch der Nachfolger, das 2005 erschienene, nicht weniger faszinierende „Deutschland, eine Reise“, in dem Büscher seinen Fußmarsch um die deutsche Grenze beschreibt, wurde ein großer Erfolg. Und obwohl er hier die Städte, Dörfer und Wege seiner und unserer Heimat beschreibt, hat man als Leser immer das Gefühl, man reise durch ein faszinierendes, fremdes, teilweise märchenhaftes Land. Vielleicht liegt es daran, dass die Bundesrepublik reiseliterarisch so gut wie unerschlossen ist, sicher aber auch an Büschers Sprache, die wie aus einer fernen Zeit auf das Papier geweht scheint. „Ich bin sicher nicht in der dekonstruktivistischen Sprachzerstörung zu Hause“, lacht er. „Damit verglichen bin ich eher ein restauratives Element. Ich finde schon, dass man auf dem großen Flügel spielen sollte und nicht auf der Quetschkommode.“
Büscher nennt Büchner, Eichendorff, Nabokovs Erzählungen und seinen Roman „Die Gabe“ sowie vor allem Werner Herzogs „Vom Gehen im Eis“ (das übrigens im April bei Fischer wieder veröffentlicht wird) als literarische Vorbilder und Inspirationen. „Und Joseph Conrad habe ich natürlich verschlungen, als ich jung war“, fährt er fort. „Allerdings war es da nicht so sehr die Sprache als vielmehr die Haltung, die mich mitgenommen hat.
Es gibt ja große Wellen der Faszination für das Fremde. Etwa um 1900 herum, als aus vielen Großwildjägern Tierfotografen wurden. Zu der Zeit schrieben auch Conrad, Kipling und E.M. Foster. Bei denen gibt es immer ein Bewusstsein dafür, dass die letzte Verschmelzung mit dem Fremden am Ende nicht gelingen kann. Dass die Liebe immer scheitert, die malayische Geliebte den Protagonisten umbringt oder verlässt. All die Lord Jims sind ja letztendlich verlorene Gestalten. Im Gegensatz dazu ist in den vergangenen 20, 30 Jahren im Sog des Multikulturalismus die Idee der großen Verschmelzung populär geworden. Wir lieben uns alle, fallen uns um den Hals, es gibt eigentlich gar keine Identitäten mehr. Da liegt mir Conrads Haltung dann doch um vieles näher.“
Bei Büscher hat diese Haltung einerseits mit einem Respekt vor dem Andersartigen und Fremden zu tun, beruht aber vor allem auf persönlicher Erfahrung. „Ich reise sehr gerne, und ich lasse mich auch gern in diese fremden Kulturen hineinsaugen“, erklärt er, ,Aber irgendwann kommt dann eben doch der Punkt, an dem man der Tatsache ins Auge schaut, dass man letzten Endes nur ein Fremder ist.“
Auch in den seinen neuen Erzählungen, die nun unter dem Titel ,Asiatische Absencen“ (Rowohlt, 16,90 Euro) erschienen sind, gibt es diesen Moment immer wieder. Etwa wenn der Protagonist einen Tempel besucht und aufgefordert wird, zu Göttern zu beten, die nicht die seinen sind, wenn er vom Blick eines gelbäugigen Inders hypnotisiert wird und ins Fieber fällt oder wenn er am Ende in einem tibetische Dorf mit dem sagenumwobenen Namen „Shangri-La“ landet, dass sich als eine rein westliche Fantasie entpuppt.
In der vielleicht befremdlichsten Erzählung der .Asiatischen Absencen“ nehmen Büscher und sein Begleiter — ein hippieesker Ethnologe — an einem Schamanengipfel im Himalaya teil. Nach dem gefährlichen Autstieg auf einen heiligen Berg wird Büscher von einem der Schamanen aufgefordert, mit ihm auf eine Trancereise zu gehen. Auf dem Boden vor einer Reisschale sitzend, von Trommelschlägen hypnotisiert, gelangt er in einen verfallenen Palast, der ihm zuvor schon viele Jahre in seinen Träumen erschienen war. Selbst die fremdartigste Erfahrung führte ihn also am Ende wieder zum Vertrauten zurück.
Die Sehnsucht, das Fremde einzufangen, bleibt am Ende immer unerfüllt, schreibt Büscher. „Wir streifen durch fremdes Terrain – äußerste Wachheit. Hier gilt sie keinem Hinterhalt, sie gilt dem, was in diesem Moment im Augenwinkel erscheint oder am Horizont. Der Moment ist ein scheues Wild, der Horizont immer dort, wo wir nicht sind. Eine unstillbare Jagd, wir wissen es. Die Jagd ist nur Vorwand. Was zählt, ist die Stunde am Rande der Lichtung.“
Als wir nach Ende unseres Gesprächs die Hotelbar verlassen wollen, ruft Büscher mich noch einmal zurück. Er zeigt auf eine Fotografie, die einen Säulengang zeigt. „Erinnern Sie sich an den verfallenen Palast aus der Erzählung? So sieht er aus. Ich habe die ganze Zeit, während wir redeten, auf dieses Bild gestarrt.“
Von den Gipfeln des Himalaya bis zu einer Bar in Berlin-Mitte – Wolfgang Büschers Träume sind überall zu Hause.