Die Stones im Studio
Die Einladung, bei den Aufnahmen von „Vodoo Lounge“ als Co-Produzent zu fungieren, war ebenso schmeichelhaft wie überraschend. Don Was, selbst Musiker und inzwischen gefragter Produzent, fand sich urplötzlich in einer Rolle wieder, die mehr als nur gesundes Selbstbewußtsein verlangte: als Stones-Fan die Stones produzieren zu sollen. „Wir hatten uns vorher zu einem Gespräch getroffen, bei dem es primär darum ging, ob die Stones überhaupt einen Produzenten brauchen. Ich fühlte mich geschmeichelt, daß sie meine Meinung hören wollten. Mick und Keith sind nun mal gewöhnt, alles selbst zu entscheiden.“
Hat man dir denn gesagt, was man konkret von dir erwartet?
„Nein, so läuft das nicht bei den Stones. Die Mitteilung besteht darin, daß du mit an Bord bist. Ich habe mir dann im Vorfeld immer wieder die Frage gestellt, wie man einem Mick Jagger erklären kann, daß sein Gesang vielleicht hier und da verbesserungswürdig ist. Man sagt einem Jagger doch nicht, wie er zu singen hat!“
Hattest du am ersten Tag im Studio Muffensausen?
„Anfangs ja – klar. Aber dann sagst du dir, daß du nicht als Fan engagiert wurdest, sondern daß man von dir erwartet, daß du dich einmischst. Leicht war es nicht. Da steht Keith und spielt ein so geniales Solo, daß einem die Luft wegbleibt. Und dann grinst er dich fragend an, und du hörst dich sagen: «Nicht schlecht, Keith, aber das kannst du noch besser‘.“
Kam es vor, daß deine Einwände und Vorschläge ignoriert wurden?
„Nein, aber es kam vor, daß sie trotzdem zu anderen Ergebnissen kamen als geplant. Sie sind wirklich Meister ihres Faches. Nimm Mick Jagger: Der Mann hat im Studio eine Präsenz, die ans Übernatürliche grenzt. Du baust ein Mikro vor ihm auf, und er ist von einer zur nächsten Sekunde nur noch Stimme – und die springt dich geradezu an, wenn du das Band abhörst. Er projiziert seine Persönlichkeit so machtvoll in seinen Gesang, daß du befürchtest, er durchlöchert die Lautsprecher. Niemand auf der Welt ist zu dieser Konzentration fähig, davon bin ich überzeugt Oder Keith: Er spielt so intuitiv, so großzügig und offen. Man hört ihm zu, glaubt zu wissen, worauf er hinauswill, doch dann nimmt seine Gitarre eine Abkürzung, wo es eigentlich keinen Weg zu geben scheint, und kommt auf wundersame Weise zum exakt richtigen Zeitpunkt am Ziel an. Keith ist ein Improvisationswunder. Ronnie ist vor allem unglaublich vielseitig. Abgesehen von David Lindley spielt niemand die Steel Guitar auf so eigene Art wie er. Und dann Charlie! Der sitzt da wie Art Blakey und spielt nur von der Hüfte an abwärts, aber mit mehr Power als all diese Gewichtheber und wilden Männer, die auf ihr Schlagzeug einprügeln. Sein Oberkörper ist ganz ruhig, aber er swingt wie kein anderer. Meisterhaft! Die Stones sind für den Rock’n’Roll das, was Muddy Waters für den Blues war: absolut einmalig.'“ (WD) Kurz bevor man auf die Bühne geht, trifft man sich im Gang – und ist dann hoch konzentriert. Im Augenblick, bevor sie auf die Bühne gehen, sind die Stones spürbar angespannt. Das sind Momente, wo ein Gesicht nicht mehr lügen kann – egal, was sie sonst zu diesem Thema erzählen. Die Anspannung ist geradezu greifbar, aber man spürt gleichzeitig auch, daß sie nach wie vor ungeheuren Bock haben. Wenn die 100 000 Zuschauer im Stadion rasen, merkt man, wie sie das noch immer genießen. Da ist von abgestumpfter Routine rein gar nichts zu spüren.
Vom Stadion zurück zum Hotel fährt man meist mit zwei Limousinen: Keith und Ron in der einen, Mick und Charlie in der anderen. Wobei überhaupt die Achse Mick – Charlie immer stabiler geworden ist. Während man früher den Eindruck hatte, daß sich Charlie am liebsten aus allem raushält und allenfalls mit Bill Wyman, dem anderen großen Stillen in der Band, paktiert, hat sich mittlerweile zwischen Mick und Charlie eine erstaunliche Allianz herauskristallisiert. Beide sind gemeinsam für das Bühnendesign zuständig und sprechen folglich regelmäßig über Lichtprobleme und Bühnentechnik. 1981 hatte man Charlie erstmals den Auftrag gegeben, sich um die Bühne zu kümmern; seitdem hat er sich in diese Thematik richtig reingekniet.
Charlie ist ohnehin unglaublich aufgetaut. Früher konnte man keine zwei Worte mit ihm wechseln; bei Interview-Anfragen wurde nur müde gelächelt: Charlie spricht grundsätzlich mit niemandem. Er ist noch immer der zurückhaltende englische Gentleman, aber für seine Verhältnisse geradezu mitteilsam geworden. Inzwischen kann man mit ihm locker in der Voodoo Lounge eine halbe Stunde über Miles Davis und andere Jazz-Legenden plaudern. Er kommt sogar von sich aus auf einen zu und sucht das Gespräch.
Charlie ist auch nach wie vor dieser herrliche Zyniker, der mit seinem trockenen Humor herum grantelt: „Freunde, nehmt diesen ganzen Rock’n’Roll-Zirkus doch bitte nicht ernst.“ Andererseits hat man innerhalb der Band das Kunststück vollbracht, selbst einen Miesmacher wie ihn stärker einzubinden.
Die Entscheidung, wer der Nachfolger von Bill Wyman werden sollte, wurde ausschließlich in seine Hände gelegt. Man hatte vor Tourbeginn einige Kandidaten, unter anderem auch Darryl Jones, in einem New Yorker Studio angetestet – und dann alles weitere Charlie überlassen. „Ihr Schweine“, hatte Charlie damals geflucht. „Ihr wollt mich wohl allein im Regen stehen lassen!“
„Klar, Charlie“, hatte Keith nur gelacht. „Zum ersten Mal in 30 Jahren bist du derjenige, der eine Entscheidung ganz alleine treffen muß. Mick und ich werden dir dann sagen, was wir davon halten.“ Charlies Entscheidung, sich auf Darryl Jones festzulegen (die Tatsache, daß Jones fünf Jahre lang bei Miles Davis gespielt hatte, machte die Entscheidung für Jazz-Fan Watts natürlich erheblich leichter), wurde ohne Gegenstimme akzeptiert.
Ein Jahr später ist Darryl Jones nicht nur als Mensch akzeptiert und voll integriert (Charlie: „So was ist schon die halbe Miete“), sondern auch ein Garant dafür, daß die band-interne Chemie und Arbeitsteilung besser funktioniert denn je.
Alles klar also in der Voodoo Lounge. Die musikalisch vermutlich ausgereifteste Stones-Tournee kann kommen. Wenn da in Deutschland nicht die Katholische Kirche wäre: Man intervenierte bei Stones-Sponsor VW auf allerhöchster Ebene, um „das Schlimmste“ in letzter Minute doch noch zu verhindern: Es könne doch nicht angehen, so ein Kirchensprecher, daß ein traditionsreicher Konzern wie Volkswagen eine Tournee unterstütze, die sich schon mit ihrem Namen zu heidnischen Bräuchen bekenne…
Über das Eröffnungskonzert der Europa-Tournee am 3. Juni in Stockholm wird der ROLLING STONE ausführlich in seiner nächsten Ausgabe berichten. Das Konzert wird europaweit im Fernsehen übertragen (Regie: Dolezal & Rossacher). Wie vor Redaktionsschluß bekannt wurde, wurden insgesamt fünf europäische Zusatzkonzerte anberaumt, zwei davon auf deutschem Boden: das eine definitiv in Schüttorf, das andere in Leipzig oder Dresden. Sicher ist bisher nur, daß alle Zusatzkonzerte im August stattfinden werden.