Die Stille vor dem Sturm
Nach etlichen vergeblichen Anläufen haben Coldplay endlich ihr drittes Album fertiggestellt. Die Erwartungen sind gigantisch.
Daß Coldplay da oben auf der Bühne stehen, ist natürlich ein Luxus: Bloß 800 Leute passen in das kleine Kölner „Gloria“, und das intime Ambiente des alten Kinosaals läßt einen die Publikumszahl noch niedriger schätzen. Es ist eine Weile her, daß Coldplay auf so kleinen Bühnen zu sehen waren, und man fühlt sich erinnert an die ROLLING STONE-Roadshow, in deren Rahmen die vier Engländer erstmals deutschen Bühnenboden betraten. Damals waren Chris Martin, Will Champion, Guy Berryman und Jonny Buckland der letzte Schrei an jungen traurigen Engländern, jener damals frischen Sorte neuer britischer Musikstars, die den schal gewordenen Britpop-Pfauen endlich den Rang abliefen. Doch die Erinnerung an diese ersten Coldplay-Konzerte ist im Kölner „Gloria“ nur flüchtig. Wie Chris Martin da oben selbstsicher tänzelnd sein Territorium absteckt und auch die drei Kollegen souverän ihrem Handwerk nachgehen, das hat wenig zu tun mit den niedlich-geduckten Performances, mit denen Coldplay damals die Songs vom Debüt^/hnJcAtt/es“ zum Besten gaben. Nur einmal, als die Band sich in der Mitte der Bühne eng zusammenstellt und den ganz akustischen hidden track des neuen Albums „X & Y“ spielt, sieht man plötzlich wieder die Nachwuchs-Combo, ganz unprätentiös, nahbar, sogar ein bißchen unsicher.
Doch das Verhindern jeder Blöße ist hier ohnehin nicht das Thema. Coldplay sind gekommen, um ihre neuen Songs vor kleinem Publikum zu erproben und auf Standfestigkeit zu überprüfen; da muß man sich also was trauen. Der ganz groß gedachte Opener „Square One“, das kleinfühlige „What If“ der psychedelisch schwelgende Titel-Track: Noch schlagen diese Lieder, um ein schönes Wort von Joachim Hentschel zu zitieren, nicht wie große Herzen, sondern bleiben ein bißchen widerspenstig am Bühnenrand stehen. Man hatte schon in den Tagen vor der Show davon gehört, hatte sich aus dem „Troubadour“ in Los Angeles von Unsicherheiten berichten lassen und dem schwierigen Bühnendebüt einer unter Schwierigkeiten entstandenen neuen Platte.
Wie gesagt, ein bißchen was davon spürt man auch im Kölner „Gloria“. Doch dafür sind Coldplay bei „Yellow“ und „In My Place“ umso mehr eine große Band mit selbstredender Magie und großem Momentum; es wird viel mitgesungen und gejubelt. Martin bedankt sich für die Geduld des Publikums, sagt sonst aber ein bißchen zu wenig, wie die Band insgesamt sichtlich mit sich selbst beschäftigt ist. So sind Coldplay: Man kann beim Werden zusehen und auch die jeweiligen Begrenztheiten gut erkennen – aber auch das Besondere, Heilige, Lichtdurchflutete.
im Moment ist jede Show die bis dahin beste Show“, sagt Martin beim Gesprächstermin am nächsten Tag, „wir gewöhnen uns an die neuen Songs und haben immer mehr Ideen, wie wir sie am besten rüber bringen können. Am Ende der letzten Tour war alles sehr routiniert; jetzt sind wir wieder sehr konzentriert, was zwar anstrengend sein kann, aber vor allem äußerst befriedigend ist.“
Das Interesse an Coldplay ist enorm groß, seit sie ungefähr ab Frühjahr 2003 ihre in diesem Ausmaß nur schwer voraussehbare Potenz für ein weltweit massenhaftes Publikum voll entwickelten und plötzlich in jedem Radio und auf jeder Riesenbühne zu hören waren. Angesichts der aufgeregten Anspannung vor Ort denkt man wieder an jene ersten Tage dieser Karriere: Das erste Gespräch fand im Jahre 2000 auf einer Treppe im Backstage-Bereich der Hamburger „Großen Freiheit“ statt, wo Martin sich mit einer Limonade in die Ecke kauerte und mit leisen Worten und unterwürfiger Miene den plötzlichen Erfolg der ersten Platte bestaunte. Nun staunt Martin immer noch und ist ein sehr dankbarer, bescheidener Mensch. Doch dieser Mann hat sich ganz entfaltet: Die ruhige Souveränität, die klaren Worte, dazu der konzentrierte Blick ins Auge des Gegenübers, all das sind Attribute von einem, der sich seiner sicher ist und fest genug steht, um wohl die Sache, nicht aber die eigene Person über die Maßen wichtig zu nehmen. Und die Welt drumherum trotz allem Honigschmieren und Hinternlecken nicht aus den Augen zu verlieren.
St. Martin ist zurück, und er hat der Versuchung widerstanden. „Für uns ist ‚A Rush Of Blood To The Head‘ eine wirklich gelungene Platte, aber nicht mehr“, grenzt Martin ab, „wenn wir anfangen würden nachzudenken, warum sie so riesig geworden ist, würden wir wahrscheinlich das Gleichgewicht verlieren. Wir sehen nach wie vor nur den künstlerischen Aspekt, und mit dem sind wir – gerade aus der jetzt gewonnenen Distanz – sehr zufrieden.“ – „Wobei es für sehr gefährlich ist, die Vergangenheit zu verklären“, erweitert Trommler Will Champion, „als wir die Platte gemacht haben, hatten wir ganz ähnliche Probleme wie beim neuen Album. Dieses Mal dachten wir: Oh je, wir werden nie wieder einen Song wie ,The Scientist‘ schreiben – letztes Mal dachten wir dasselbe von ,Trouble‘. Auch als die Konzerte begannen, hatten wir durchaus Mühe mit den Songs. So wird es auch dieses Mal sein: Die Songs werden ihr wahres Gesicht bald zeigen, und wenn sie nicht funktionieren, dann spielen wir sie eben nicht“
Bei Null anfangen, apropos. Als Coldplay im Herbst 2003 ihre eineinhalb Jahre lange Tour beendet hatten, sollte Pause sein. Man habe ein bißchen leben wollen, erklären Martin und Champion fast entschuldigend, nicht zuletzt, „um am Ende nicht eine Platte über Tourbusse und Hotelzimmer schreiben zu müssen“. Die Geschichte dieser Pause ist eine so profane wie im direkten Erleben vermutlich höchst befriedigende: Häuser wurden gekauft, Familien gegründet, der neue Lebensstil als wohlhabender Popstar eingeübt, in aller Bescheidenheit, versteht sich. Wobei gerade Martin nichts wissen will von der großen Veränderung, die eine Ehe mit einem der größten Filmstars der Welt doch vermutlich mit sich bringt: Der Wohnsitz aller Coldplays sei nach wie vor London, sagt Martin knapp und mit bestimmtem Kopfnicken, und in seinem Mund wird die britische Metropole interessanterweise zum Symbol für ein bodenständiges, überschaubares Leben, jedenfalls einen Ort weit weg von Hollywood und allem hohlen Glamour. Wir sollen das als Beleg dafür verstehen, daß Chris Martin seine Überzeugungen nicht von äußeren Umständen verwässern läßt, sondern ganz der bleibt, der er nun einmal ist.
Der Endspurt für „X & Y“ war so nötig wie bei keinem Album vorher. Bis zum September 2004 hatten sich Coldplay Zeit gelassen, hatten lose mal in diesem, mal in jenem Studio in L. A., Chicago und London mit den vorhandenen Song-Layouts gespielt und waren ganz zufrieden mit den Ergebnissen. „Wir waren wirklich sehr entspannt“, wundert sich Champion im Nachhinein, „Guy und ich waren fast nie zur selben Zeit im Studio, sondern probierten mit unseren Parts herum, immer nur drei, vier Stunden am Tag. Wir hatten praktisch kein Interesse daran, was die jeweils anderen mit den Songs anstellten.“ Die Bombe platzte im Sommerurlaub 2004: Alle vier Coldplays hatten die vermeintlich fast fertigen Aufnahmen zum privaten Gewöhnen mit nach Haus bekommen, stellten aber fest, daß da kaum Leben war in diesen Liedern – und eine neue Platte nicht in greifbarer Nähe, sondern in weiter Ferne lag. „Als uns klar wurde, wie wenig wir in den Händen hielten, wurde es ziemlich brenzlig“, erinnert sich Martin, „wir waren plötzlich an einem Punkt, an dem es sehr natürlich und ehrlich gewesen wäre, die Band aufzulösen.“ Wie bitte? „Na ja, vielleicht nicht aufzulösen – wir hatten den Eindruck, die Band laufe auf ihren Endpunkt zu, und waren drauf und dran, das mit einem Achselzucken hinzunehmen. Stattdessen sind wir nach Liverpool gegangen.“ Ein paar Wochen lang waren sie die Kumpels von früher, die zusammen Trinken gehen, Fußball spielen und vor allem miteinander reden. „Das ist natürlich ein Klischee“, sagt Martin, „aber eines, das unsere Band gerettet hat Wir haben uns intensiv darüber ausgetauscht, was Coldplay für uns bedeutet.“
Zurück in London, ließen sie die ganze Studiotechnik beiseite und schlossen sich in einen Proberaum ein. „Was der Platte bis dahin fehlte, waren Performances, leidenschaftliche Momente“, erklärt Martin, „und als wir diese Performances endlich hinbekamen, war das ein aufregender Moment. Und wenn wir aufgeregt über unsere Musik werden, werden wir besessen von ihr. So klingen wir, wenn wir ganz wir selbst sind.“