Die Spice Girls-Schwemme
Was in Australien bereits traurige Realität ist, steht nun auch Deutschland bevor: Popstars werden nur noch in den Testlaboren der TV-Anstalten gezüchtet
Beim Volksmusik-Publikum herrscht noch Sitte und Anstand. Wir erinnern uns an die große BILD-Debatte: Hat Dudel-Trompeter Stefan Mross wirklich selbst geblasen oder hat er – wie unehrlich – volkstümlich blasen lassen und im Musikantenstadl immer nur die Lippen zum Playback bewegt? Am Ende musste Mross notariell beaufsichtigt vorblasen, um seine Authentizität zu beweisen. Das Rentnerpublikum nimmt es da noch genau, ob es zu echten oder geklauten Tönen schunkelt. Ethische Fragen, die man sich in der Popmusik nicht stellt. Jetzt fängt das Fernsehen an, Popgruppen gleich konsequent zusammenbauen zu lassen – egal ob musikalische Vorkenntnisse oder nicht. Und was früher verschämt verschleiert wurde, wird nun als „Doku-Soap“ öffentlich verkauft. Im deutschen Herbst 2000 wetteifern gleich zwei „Formate“ um den Rang, die erste vollsynthetische Fernsehband geschaffen zu haben.
RTL 2, Spezialsender für Sendungen aus Containern und Swingerklubs, tritt ab 14. November mit „Popstars“ an. RTL dagegen hat dem kleineren Konzern-Bruder das Schnellschuss-Projekt „Deine Band“ vor die Nase gesetzt, das schon seit Anfang Oktober läuft. Das Konzept, so versichern beide Seiten, sei völlig unterschiedlich. Und in der Tat: „Popstars“ kreiert, nach einem australischen Vorbild, eine Mädchenband als Clonierung der Spice Girls. Für „Deine Band“ wurden dagegen, weil es unheimlich schnell gehen musste, nur „Profimusiker“ gecastet. Die Endauswahl, wie auch weitere richtungweisende Entscheidungen rund um den Werdegang der Band, sollen nun die Zuschauer per Telefon-Aktion jeweils selber bestimmen. Die beiden Auftaktsendungen im Wochenend-Nachmittagsprogramm wurden freilich kaum eingeschaltet. Die Propaganda-Maschine läuft nur langsam an, obwohl mit RTL und BMG Ariola zwei Bertelsmann-Mediengiganten zusammenarbeiten. Ein anderer Musik-Boss, der dem Schnellprodukt einen Korb gab, meint gan es werde nur „schnell gewurschtelt“. Hauptsache, man ist schneller als die Konkurrenz.
Unterdessen castete die Produktionsfirma „Tresor“ Tausende von Mädchen für „Popstars“. Während „Deine Band“ schon ein wenig vor sich hinsendet, ist RTL 2 mit den 30 Mädchen, die die Endrunde des „größten Castings Europas“ erreicht haben, noch im Trainingscamp auf Mallorca. Die Sendung soll ab Mitte November im besten Abendprogramm (dienstags, 21.15 Uhr) laufen. Der Seiteneffekt riesiger Plattenverkäufe von „Big Brother“-Helden wie Zlatko hat Appetit auf mehr gemacht Und „Popstars“ hat auch sonst Ähnlichkeiten mit dem Überwachungs-Format des Senders. Auf Schritt und Tritt sollen die fünf am Ende auserwählten Mädels bei Gesangs- und Tanzübungen und sonstigen Schritten zum Ruhm begleitet werden. Girls, so glaubt man, sind „sexy“ – auch fürs nicht mehr ganz so junge männliche Publikum. Dabei bleibt freilich wenig dem Zufall überlassen. Fast alle Abläufe sind weitgehend vorgeschrieben. Dem echten Leben sollte man nicht allzuviel Raumlassen – wer weiß, was es sonst anrichtet.
Das „Popstars“-Original war zunächst in Neuseeland mit der Mädchenband „True-Bliss“ und danach auf dem australischen Massenkanal „Channel 7“ mit der Band „Bardot“ ein Überraschungserfolg. „Popstars“ war das meistgesehene Fernsehformat: Vier Millionen Zuschauer waren Minimum (Australien hat nur 18 Millionen Einwohner) bei den 15 Folgen. Die Medienhysterie um die „Bardot“-Mädels mündete in drei Nummer-1-Single-Hits in Folge. Dazu hatten der Sender und Warner Music vorab alle wichtigen Radiosender der „Austereo“-Gruppe und viele Printmedien regelrecht „eingekauft“, um nichts dem Zufall zu überlassen. „Screentime“, die Produktionsfirma aus Sydney, hat das Format an RTL2 weiterverkauft.
Im Vergleich zu dem Prototyp aller Fernseh-Popgruppen, den guten alten Monkees (eine Zeitlang größer als die Beatles und Stones zusammen), wird bei „Popstars“ das richtige Leben der Protagonisten versprochen. Die Monkees, um Kinderstars wie Micky Dolenz oder Davey Jones, waren „nur Schauspieler und spielten alberne Comedy-Erlebnisse, wie sich amerikanische Lieschen-Müllers den (natürlich drogenfreien) Flowerpower-Alltag ihrer Teenager so vorstellten. Immerhin führte damals der spätere Star-Regisseur Bob Rafelson Regie.
In Australien wurden „Bardot“ zwar vom Feuilleton des Landes erwartungsgemäß mit Kuhfladen beworfen. Aber gestört hat das nicht weiter. Die stete Verheißung von Channel 7 „nicht nur Brustwarzen, sondern alles“ zu zeigen, war einfach stärker als Appelle an die Reinheit der Kunst. Am Ende sangen „True Bliss“, die Neuseeländerinnen, gegen „Bardot“, die Australierinnen, im Vorprogramm des wichtigsten Rugby-Länderspiels der Saison: Australien gegen Neuseeland. Kids und tätowierte Biertrinker vereint.
Jahrelang im „Star-Club“ für ein paar Mark rumzocken, mit der geringen Aussicht, hinterher die Beatles zu werden, ist im Zeitalter der Betriebswirte nicht mehr der effiziente Weg zum Ruhm.