Die sonnige Seite des Mondes
Wie der Geruch des Prog mich verführte, mein Leben veränderte – und mich zum kleinen Plattenboss für die Band IQ machte.
Wir standen vor dem Marquee Club in der Londoner Wardour Street, die Tür war nur halb geöffnet (also für uns ganz und gar geschlossen). Ein Punkermädchen saß an den Kasse und sortierte irgendetwas, nachts war es wahrscheinlich ganz hübsch, jetzt hatte es Pickel. Aber sie war drinnen und wir waren draußen. Der Geruch von Rock’n’Roll wurde von der Hitze auf die Straße gezogen wie an einer Schnur, direkt in meine Nase. Ich war 16 Jahre alt und atmete sehr tief ein.
Das war der Morgen des 13. Juli 1985. Am Abend sah ich das Konzert, das mein Leben veränderte. Nach den ersten Minuten wusste ich: Wenn ich Musik wäre, wäre ich diese Musik. Auf der Bühne stand mein musikalisches Alter Ego.
Heute, über 25 Jahre später, verwalte ich mit drei Freunden den beachtliche Back-Katalog dieser Band. Ein Viertels ihres Labels GEP, Giant Eletric Pea, gehört mir. Ich bin ein Plattenboss, wenn auch nur ein ganz kleiner. IQ, „UK’s leading progressive rock band“, ist unser bestes Pferd im Stall. Wenn Sie (wie die meisten Menschen auf der dieser Welt) noch nie von dieser Band gehört haben, sehen Sie, wie viel Arbeit noch vor uns liegt. Die Firma hat vier Teilzeit-Direktoren und eine Teilzeit-Angestellte. Die Kundschaft ist superloyal und superkaufbereit, aber nicht eben supergroß.
Ganz ehrlich: Es ist mehr Arbeit, als ich dachte. Viel mehr Arbeit. Mit Reichtum ist nicht unbedingt zu rechnen, eine Yacht vorzubestellen, wäre extrem verfrüht, an Richards Bransons Stadtpalast im Marrakesch gehe ich nach wie vor neiderfüllt vorbei. Der letzte Prog-Rock-Chartbreaker war Marillions „Kayleigh“. Manchmal frage ich mich: Warum hast du dir das auch noch angetan?
Die Antwort: An diesem Tag in London, an dem ich vor dem Marquee stand und Witterung aufgenommen hatte, wusste ich, dass es mir nie genügen würde, nur Konsument zu sein. Ich wollte ein Teil dieser Welt sein.
Aus England zurückgekehrt, gründete ich die Band Twilight Revolution. Wir probten nur ein paar Mal, und trotz des fantastischen Bandnamens lief von Anfang an alles schief. Also wurde ich Journalist. Ich redete über nichts lieber als Musik, warum sollte ich nicht darüber schreiben? An allen vorbei in die Halle („Tschuldigung, ich steh‘ auf der Gästeliste“), backstage abhängen („Wir können die Fragen ja auch nach dem Konzert machen“), den Kühlschrank leer trinken („Ist doch okay, wenn ich mir ’n Bier nehme, oder?“) war mein erster Vorstoß ins Innere von Sex, Drugs and Rock’n’Roll. Ich dachte, meine Meinung hätte Gewicht, blieb aber ein Anhängsel. Ich wollte in den Club marschieren, vorbei an dem gelangweilten Punkmädchen, über die Bühne backstage klettern, weil ich dort etwas zu tun hätte. Eine echte Aufgabe.
Ich wurde erwachsen, blieb Journalist, wechselte das Genre. Wurde Bestimmer, hatte Einfluss, veränderte Dinge und prägte sie. Das war mein bürgerliches Leben, erfolgreich, effektiv. Aufregend, spannend, glücklich. Aber die Gänsehaut war nie so stark wie in dem Moment, wenn das Saallicht erlischt und eine gesichtslose Masse sich in Rage klatscht. Ich war den längsten Teil meines Lebens ein männliches Groupie, das hat nichts mit Sex zu tun, absolut gar nichts. Dazu ist die Sache zu ernst.
Die Band, der ich mich anschloss, war IQ. Los Angeles, Pennsylvania, London, Rotterdam, Berlin, Rom, Barcelona, Aschaffenburg, New York, Amsterdam, Montreal, Hamburg, San Diego, Mailand. Erste Reihe, linke Seite ist mein Stammplatz, und in den vergangenen 20 Jahren gab es kaum ein Dutzend Konzerte, auf denen er leer geblieben ist. Es gibt wirklich böse Geschichten (featuring: brennende Büsche im Fotografengraben, diverse Volltrunkenheitsfahrten, F., der an der Kette auf die Bühne gezerrt wurde). Aber da sind vor allem die Momente, die niemals vergessen werden: Als Mike uns erzählte, dass es zu Ende sei. Als „der alte Sänger“ zurückkehrte, das Konzert „damals in Paris“. Wie „wir“ in Cuxhaven vor 30 Leuten gespielt haben. Als Ledge starb. Die „Kollegin von Anne“ auf dieser Party, 1990.
Natürlich sind wir Freunde geworden, wir kennen uns schließlich seit einem Vierteljahrhundert. Selbstverständlich hilft man aus. Im Gegenteil zu Leuten, die virtuos sechs Saiten bedienen können, weiß ich, wie man in Spanien vegetarisches Essen bekommt, wo man von heute auf morgen 100 T-Shirts drucken kann und warum Instrumente nicht in einer Nacht von Paris nach Rom kommen können. Trotzdem war klar: Hier die Band, da die Entourage. Wir stehen immer auf der Gästeliste, mussten aber immer danach fragen.
Letzten Herbst fragte mich Mike, ob ich Lust hätte, bei GEP einzusteigen, dem Label, das er und drei Freunde 1992 gegründet hatten, nachdem die Band ihren Vertrag mit Phonogram verloren hatte. Ich dachte: Richard-Branson-Grinsen-Der-goldene-Backstagepass-Demos-anhören-Ein-Album-mit-Bethany-Mann-produzieren-Endlich-raus-aus-diesem-nichts-Halbes-und-nichts-Ganzes-Einen-Traum-erfüllen!
Meine Frau war dagegen, sie hatte Angst um unser Eigenheim. Aber mein Herz war dafür, und die Freunde, auf die es ankommt, machten große Augen. Plattenboss at least! Ich sagte natürlich zu.
Geld wurde überwiesen, mein Name und meine Adresse beim englischen „Companies House“ eingetragen, offiziell wurde es in London kurz vor Weihnachten, wir stießen mit Flaschenbier an, und noch am gleichen Abend sagte ich zum ersten Mal den magischen Satz „Schon okay, ich gehöre zur Plattenfirma“, als mein bester Freund beim Konzert ohne Fotopass knipste und ein Bouncer der Islington Academy ihn rauswerfen wollte.
Natürlich musste ich Lehrgeld zahlen: Für unser erstes Vorstandstreffen mietete ich einen Konferenzsaal samt Getränkepauschale, das war wohl ein bisschen zu deutsch, gezankt wurde trotzdem. Bethany Mann will offensichtlich keine Platte mit mir aufnehmen. Meine Partner wollten die Band Ark nicht signen, und die Gruppe trat entgegen meiner klaren Empfehlung nicht auf der Loreley auf.
Stattdessen: Promotexte schreiben, neue Website konzipieren, Gigs buchen, Demos anhören, noch mehr Demos anhören, Streit schlichten. Dazwischen mal kurz das große Ganze durchdiskutieren: Öffnen wir uns für andere Musik? Gibt’s unseren Vertriebspartner XY in zwei Jahren noch oder macht er pleite? Wer sind die neuen Muse? Braucht man überhaupt noch Plattenfirmen oder ist alles MySpace?
Es macht Spaß und es macht stolz. Ich bin da, wo ich immer sein wollte und ich gehe in den Clubs an den Punkmädchen vorbei zur Bühne. Aber der Duft hat sich verändert, er ist nicht mehr so betörend und süß wie damals vor 25 Jahren, er ist jetzt eher ein frische Brise, die auch Sturm bedeuten kann. Ich wollte Verantwortung und ich habe sie bekommen.
Andererseits musste ich das aufgeben, was sich wie ein roter Faden 25 Jahre durch mein Leben gezogen, Freundschaften, Liebschaften und Jobs überdauert hat. Ich kann nicht einfach mehr Fan sein. Früher sah ich nur die Dinge, die gut liefen. Jetzt sehe ich die, die nicht laufen. Das ist der Unterschied.
Die erste Platte, die ich mitveröffentlicht habe, hieß „The Wake“. Auf Deutsch: Das Erwachen.
Peter Huth, 41, finanzierte die Prog-Rock-Leidenschaft mit seiner Tätigkeit als Freier Journalist, später als Chef der Hamburger Lokalausgabe der „Bild“. Seit 2008 ist er Chefredakteur der „B.Z.“ in Berlin.