Die Songs
Von der Redaktion ausgewählt: 50 der besten Hits und versteckten Perlen der Nullerjahre
Aaliyah
Try Again
2000 Blackground
Der Paradigmenwechsel im R&B und HipHop zum Jahrtausendbeginn: weg von der afroamerikanisch codierten Soul-Tradition, hin zur Avant-Elektronik Europas. Um den Sprung zu erfassen, höre man die Instrumental-Version: es zerrt, glitscht und fiept, als habe Aphex Twin Regie geführt. War aber Timbaland am Gipfel seiner Schaffenskraft. Raus aus dem Labor und Avanti an die Spitze der Billboard-Charts.
Stan
2000 Aftermath
Durch Regen und Donner schneidet der Stift, der übers Papier kratzt: ein Liebesbrief, den Eminem sich selbst schreibt, aus der Sicht des närrischen Fans. Stan stürzt sich am Ende mit dem Auto von der Klippe, um dem arroganten Idol Albträume zu verschaffen, nur Sängerin Dido singt weiter ihren gesampelten Refrain, als gute Mutter Maria dieses Liedes. Und Eminem gönnt sich nach Selbstliebe und Selbsthass doch noch die Absolution.
Radiohead
How To Disappear Completely
2000 Parlophone
In sechs die Kehle zuschnürenden und gleichzeitig befreienden Minuten schafft es Sänger Thom Yorke, dass die Welt sich um einen herum auflöst. „How To Disappear Completely“ entstand zehn Jahre zuvor als Reaktion auf den Trubel um „OK Computer“ – doch in einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint, ist dieses Lied bis heute eine Hymne für alle, die ihr Unwohlsein nicht mehr ertragen.
The Avalanches
Since I Left You
2000 Modular
Auf die Idee, ein Stück fast ausschließlich aus Samples zu konstruieren, kamen die Australier, als bei den ersten Bandproben die Instrumente bald in der Ecke landeten und man sich lieber alte Platten vorspielte. Dass die Musik trotz der Collagentechnik wie ein großes Ganzes wirkt, ist das Resultat harter Arbeit. Seit fast zehn Jahren haben die Avalanches nichts mehr veröffentlich. Derzeitiger Status laut Homepage: Rechte für Samples klären.
Missy Elliott
Get Ur Freak On
2001 Goldmind
Wo Aaliyahs „Try Again“ – ohne die Gesangsstimme – nach einem Knochenbrecher aus dem Hause Warp klang, könnte das Timbaland-Instrumental zu „Get Ur Freak On“ einer Bollywood-Oper entstammen. Massenorgie im Tempel. Prompt wird Missy als „mächtigste Frau im Business“ gefeiert: kein Püppchen, sondern eine Frau, die weiß was sie will, in control, selbstbewusst, trotz Fett. Die Feier dauert eine Viertelstunde. Die nächste Szene: Missy Elliott ab ins Gym! Schade drum.
Alicia Keys
Fallin‘
2001 J Records
Klingt erst wie „It’s A Man’s Man’s Man’s World“, ist aber der Mädchen-Mutmachsong des Jahrzehnts. Alicia, die Elevin mit den Zöpfen, schaffte es mit unermüdlichem Klavierüben und diesem selbstgeschriebenen Lied aus Hell’s Kitchen auf die hohe Bühne, sang „Fallin'“ 2007 sogar zur Friedensnobelpreisverleihung. Und lieferte Abertausenden von Gleichgesinnten das Ticket zur nächsten Runde: Wahrscheinlich wurde kein Song bei den Castingshows der Nuller häufiger gesungen als dieser. Blumfeld
Graue Wolken
2001 Eastwest
Mit „Graue Wolken“ wurden Blumfeld musikalisch so zugänglich wie nie zuvor, nahmen Kurs auf Schlagerpop. Und doch sang Jochen Distelmeyer nicht von einer heilen Welt, sondern von der Sinnlosigkeit des Lebens: „Ich weiß nicht, warum ich lebe, nur, dass ich am Leben bin.“ Die Spannung zwischen Form und Inhalt war ebenso gewagt wie alles, was die Band in ihrem Frühwerk gemacht hatte.
The Moldy Peaches
Who’s Got The Crack
2001 Rough Trade
Viele haben Kimya Dawson und Adam Green „authentisch“ genannt und damit auf ihr ungewaschenes Haar und den schrägen Gesang angespielt. Weniger Höfliche sagten: Freaks. Dabei ist „Who’s Got The Crack“ weder authentisch noch freakig, sondern nur komplett dilettantisch. Im positiven Sinn. Wie schön hätte alles werden können mit dem Anti-Folk, wäre Dawson nicht schwanger und Green kein mittelmäßiger Solokünstler geworden.
The Strokes
Last Nite
2001 RCA
Die Strokes haben die Rockmusik nicht neu erfunden, ihr aber die Beiläufigkeit zurückgegeben. Als Nu-Metal-Bands ihre Musik zu Tode produzierten, bewiesen die Strokes, dass es viel besser klingt, nicht alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Schlicht, lässig, schmutzig und verzerrt – weil die Band es so wollte, nicht, weil sie nicht anders konnte. Dass danach Künstler mit engen Jeans und Vorliebe für Papas Plattensammlung von ihrer Musik leben konnten, ist vor allem ihr Verdienst.
Wilco
Ashes Of American Flags
2002 Nonesuch
Ursprünglich ein einfacher Folksong, bis Jeff Tweedy ein Strawinsky-Stück – rückwärts durch einen Synthesizer gespielt – als bedrohliche Soundkulisse hinter seiner Gitarre aufzog. Es waren wohl Migräne-Attacken, die ihn im Sommer 2000 zu Zeilen wie „I know I would die if I could come back new“ inspirierten. Doch als das Album „Yankee Hotel Foxtrot“ im April 2002 erschien, war nicht mehr der Sänger, sondern das Post-9/11-Amerika gemeint.
Scissor Sisters
Comfortably Numb
2002 A Touch Of Class
Die Symbiose aus dem Kernstück von „The Wall“ und Frankie Goes To Hollywoods „Relax“ infizierte bald die Dancefloors von New York City. Im regenbogenfarbenen Clubland von Manhattan feixten die Schwulen über die Übernahme eines Songs der Heten-Band Pink Floyd – 2004 tanzte dann die ganze Welt zu dieser Version, der etwas sehr Seltenes gelingt: Sie deutet ein Stück komplett um, ohne sich über die Vorlage lustig zu machen.
The Libertines
What A Waster
2002 Rough Trade
Heilige Scheiße! Die Kraft, die Direktheit, die Rotzigkeit, die Geschwindigkeit, der Text über eine drogenabhängige Prostituierte. Mit ihrer Debütsingle inspirierte die Band um Carl Barât und Pete Doherty eine neue Generation britischer Rocker: ein Sound zwischen Indie-Rock und Punk, der jede Künstlichkeit ablegte. Dass die Unmittelbarkeit in Selbstzerstörung enden sollte, ahnte damals bloß noch keiner.
LCD Soundsystem
Losing My Edge
2002 DFA
Eine Art „High Fidelity“ im Song-Format: Ein alter Sack wehrt sich gegen die Kids, die sich per Breitband mal eben die gesamte Popkultur auf die Rechner ziehen. Erst prahlt er damit, dabei gewesen zu sein, als Can ihre erste Show in Köln spielten und Suicide in New Yorker Lofts probten. Dann zählt er hysterisch die Angeberbands auf, deren Platten bis auf ihn kaum einer besitzt: Section 25, Faust, Swans … Zum Happy-End tanzen alle gemeinsam.
Bruce Springsteen
My City Of Ruins
2002 Columbia
Ursprünglich schrieb Springsteen diesen Gospel im Jahr 2000 für seine Heimat Asbury Park, New Jersey, über die Hoffnungslosigkeit in der vom Verfall geprägten Stadt: „There’s a blood red circle/ On the cold dark ground/ And the rain is falling down“. Eine Zeile, die dem Stück nach dem 11. September 2001 eine bittere Umdeutung bescheren sollte. Springsteen trug dazu selbst bei, als er den Song zehn Tage nach den Anschlägen zur Gedenkfeier „America: A Tribute To Heroes“ spielte.
Herbert Grönemeyer
Mensch
2002 Grönland
Ein Sänger trauerte öffentlich, so etwas gibt es sonst nur im Blues. Dreieinhalb Jahre zuvor hatte Grönemeyer erst seinen Bruder und dann seine Frau verloren. Aus der Schockstarre heraus entstand der Wille, die leicht dahingesagte Aussage, auch Musik sei eine große Liebe, ernst zu nehmen. Und mit ihr zusammen die Verluste zu verarbeiten. Das Titelstück des unglaublich erfolgreichen Albums war seine erste Nummer-eins-Single, die letzte Zeile des Refrains nahm sogar Westernhagen-Fans gefangen: „Du fehlst.“
Coldplay
In My Place
2002 Parlophone
Dass Coldplay einmal die größte Popband auf Erden werden sollte, deuteten die vier jungen Männer bereits in den ersten Sekunden von „In My Place“ an. Vorbei waren die Zeiten des intim-verhuschten und spärlich produzierten Singer/Songwritertums des Debüts.Chris Martin wollte überbordende Popmusik, die ganz große Geste. Der neue Sound stellte selbstbewusst klar: Wir bleiben nun eine ganze Weile hier und wir werden alle Stadien füllen. Es sollte nicht die letzte große Geste bleiben.
The Rapture
House Of Jealous Lovers
2002 DFA
Die erste Hymne des Post-Punk-Revivals: schrill und pumpend, der Sänger hysterisch, die Kuhglocke virtuos gespielt. Danach versuchten unzählige Nachahmer, sich ein ähnlich zwingendes Stück draufzuschaffen – noch immer erscheinen dauernd Songs, die es laut Platteninfo mit „House Of Jealous Lovers“ aufnehmen könnten. Stimmt natürlich nie, denn wer eine dermaßen furiose Hochzeit zwischen Rock und Dance feiern möchte, muss zwingend beide Brautleute kennen.
The Roots feat. Cody Chesnutt
The Seed (2.0)
2002 MCA
Version 1.0 findet sich auf Chesnutts großartigem Lo-Fi-Reigen „The Headphones Masterpiece“. Eines der besten Stücke schnappten sich die Roots und produzierten es auf den Punkt. Gerne hätte man gelauscht, wie die Feministinnen aus der intellektuellen Rapper-Clique den Refrain fanden: „I push my seed in her bush for life/ It’s gonna work because I’m pushin‘ it right.“
The Mountain Goats
No Children
2002 4AD
„So much I loved you, so much I wish you would die now“ – so hat John Darnielle den Song einmal im Konzert angekündigt, dieses ewig gültige Manifest über das, was oft bleibt, wenn die Liebe kaputt ist: Hass. „I hope it stays dark forever“, schreit er trotzig und gekränkt – denn manchmal ist Selbstmitleid die einzige Option. Der perfekte Soundtrack für Saufgelage, nach denen man nie mehr nüchtern werden möchte.
The Knife
Heartbeats
2002 Rabid
Ein Doppelrahmstufen-Synthesizer-Skateboard-Song, in Wahrheit das Beste, was in dieser Dekade aus Schweden kam. Der eigentliche Clou, den das Geschwisterpaar Dreijer hier landete, lag in der Zweitverwertung: Die Rechte an José González‘ Coverversion ließen sie sich von Sony für einen Fernseher-Werbespot teuer abkaufen, deckten damit die Fixkosten ihres Plattenlabels. Popper wurden ihre eigene Industrie.
The White Stripes
Seven Nation Army
2003 XL
Was die Sportfreunde Stiller absichtlich taten, war bei den White Stripes ein Versehen: Das Riff in „Seven Nation Army“ hatte bei Fußballfans einen ähnlichen Effekt wie der WM-Schlager „’54, ’74, ’90, 2006“. Wenn eine Sache simpel, leicht nachzugrölen und auch noch mit den Füßen stampfbar ist, bedarf es mehr als einer Armee, um die betrunkene Masse zur Raison zu bringen. Die Zeile „A seven nation army couldn’t hold me back“ wurde zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Zum Glück waren den Fußballfans andere White-Stripes-Songs zu kompliziert.
Beyoncé feat. Jay-Z
Crazy In Love
2003 Columbia
Nachdem Timbaland den Charts-R&B für technoide Umtriebe geöffnet hatten, retournierte das Traumpaar mit einem Punch aus dem Katalog der Soul-Klassik. Zur Sample-Fanfare der Chi-Lites feiert ein offenbar von sich und seiner Potenz überzeugtes Paar – sich und seine Potenz. Ein Hit von der Strahlkraft alter Stax-Stomper, der noch mal die Generationen versöhnte, die sich bei Timbaland entfremdet hatten.
OutKast
Hey Ya!
2003 LaFace
Das sei ja gar kein HipHop, sondern ein Rocksong, meinte Greil Marcus, und er meinte es als Lob. Für den Rock. Einen „Indie Rock Little Richard“ wollte der amerikanische Rolling Stone gehört haben. Hatte André 3000 etwa unerlaubt das HipHop-Ghetto verlassen? Neben „Crazy In Love“ der andere große afroamerikanische Versöhnungshit, ein Feel-Good-Stück aus dem Bilderbuch. So derart Bilderbuch, dass der alte Booker T. den alten Neil Young einlud, als er „Hey Ya!“ coverte.
Franz Ferdinand
Darts Of Pleasure
2003 Domino
Was die Strokes sich nur halb trauten, zogen Franz Ferdinand tollkühn durch: „Darts Of Pleasure“ war der erste in einer langen Reihe von Songs der Band, die zwar irgendwie noch Rock waren, zu denen man aber tanzen konnte wie auf Discomusik. Wer einmal fast atemlos „Ich heiße Su-per-fan-tas-tisch!“ mitgesungen hatte, der wusste, dass diese Nacht mindestens großartig werden würde. Und es keine Schande war, enge Maßanzüge zu tragen.
Kanye West
Through The Wire
2003 Roc-A-Fella
Raketenstart für den HipHop-ABC-Schützen, der heute in Höhen schwebt, in denen das Hirn oft nicht mehr ganz funktioniert. Sein Solodebüt rappte Produzent Kanye tatsächlich mit drahtumwickelten Kiefer, through the wire: die Folgen eines Autounfalls, den der Demütige gleich als Teil der großen Erzählung sieht, als Nachtrag zu Biggies Tod und Michael Jacksons Pepsi-Vorfall. In diesem Rap-Ohrwurm ist nichts in Ordnung. Und doch alles.
Jay-Z
99 Problems
2003 Roc-A-Fella
Ice-T hatte 1993 im Original noch all die bitches aufgezählt, um die er sich nicht sorgen muss: eine für dies, die andere für das. Jay-Z, gewichtigster Rap-Star der Nuller, musste es keinem mehr zeigen und machte es andersrum: Er beschrieb eine Verkehrskontrolle, in der der rassistische Officer ihm jede Sonderbehandlung versagt. Aus den 99 Problemen, angedeutet wird’s, haut ihn der teure Anwalt trotzdem wieder raus. Die bitch tanzt nur dazu.
TV On The Radio
Staring At The Sun
2004 Touch & Go
Ein Plädoyer für die Körperlichkeit in einer von Gesichtern, Fakten und Geld geprägten Zeit: „Beat the skins and let the loose lips kiss you clean.“ Beim ersten Hören sehnt man sich noch danach, dass der Song im Finale explodiert, sich öffnet. Wie gut, dass er es nicht tut! TV On The Radio halten Spannung und Fieber bis zum Schluss. Als hätten sich Prince und My Bloody Valentine in irgendeinem Wolkenkuckucksheim zu einer Session verabredet.
Joanna Newsom
The Book Of Right-On
2004 Drag City
Mittlerweile kennt man sie vor allem für ihre atemnehmenden epischen Erkundungen des amerikanischen Westens, für vertrackte Arrangements und polyrhythmisches Harfespiel. Aber alles begann mit diesem eigentümlichen Popsong: „I killed my dinner with karate/ Kick ‚em in the face, taste the body“, quäkt das junge Mädchen und zupft dazu sein Instrument. Sechs Jahre später konnten The Roots nicht widerstehen und sampelten den Song auf ihrem Album „How I Got Over“.
Sido
Mein Block
2004 Aggro Berlin
Der Junge mit der Silbermaske rappte über das Leben in der Berliner Peripherie und schaffte es damit direkt in die Einkaufsstraßen des deutschen Pop. 2004 hatte das etwas Geheimnisvolles, doch kritische Geister witterten bereits die Gefahr. Gewaltverherrlichend und misogyn sei diese Musik. Alles richtig. Und alles Quatsch! „Mein Block“ ist meilenweit entfernt vom dümmlichen Klischee-HipHop eines Bushido. „Meine Gedanken, mein Herz, mein Leben, meine Welt reicht vom ersten bis zum 16. Stock.“
Neighborhood #2 (Laika)
2004 Merge
Ein Song wie eine Bombe: Explosion, Zerstörung – und neue Hoffnung. Auf eine Band, der es nach Klonen und Langweilern gelingen konnte, uns zu überraschen, zu euphorisieren. Acht Menschen, von denen jeder mindestens drei Instrumente beherrscht. Und die uns hier mit schmerzverzerrten Stimmen die Geschichte von Alexander Supertramp ins Gesicht brüllen. Den Aussteiger, von dem das Stück angeblich handelt, haben seine Abenteuer umgebracht. Uns allen dagegen haben Arcade Fire neues Leben eingehaucht.
Snoop Dogg
Drop It Like It’s Hot
2004 Doggystyle
Dass HipHop mit oraler Überlieferung zu tun hat, das lernen heute Drittklässler. Dass der nebenberufliche Pornoproduzent Snoop Dogg bei „oral“ an etwas anderes denkt, das wissen heute Fünftklässler. Also ist es irgendwie logisch, dass Snoop mit den Neptunes den oralsten und minimalistischsten Hit seit „Papa-Oom-Mow-Mow“ von den Rivingtons gelandet hat.
Rufus Wainwright
The One You Love
2004 Geffen
Zwischen all den düsteren Sündenbekenntnissen auf „Want Two“, direkt nach dem unheimlichen Eröffnungsstück „Agnus Dei“, hatte der Meister seinen hitverdächtigsten Song überhaupt versteckt. Die Gitarren schrammeln, das Schlagzeug scheppert fast wie in der Indie-Disco. Aber da würde Wainwright natürlich nie hingehen, und so landen wir am Ende doch wieder in der Oper, wo Lady Gloom ihm bei der Orgie über die Schulter schaut.
Bright Eyes
First Day Of My Life
2005 Saddle Creek
Der letzte große Song von Conor Oberst, der letzte Moment, in dem er wirklich gelitten hat. Die Zeile „I’m glad I didn’t die before I met you“ fasst zusammen, was die Band Bright Eyes in ihren besten Zeiten ausgemacht hat: die Kunst, schrecklichste Seelenqualen in positive Energie umzuwandeln. Und es ist immer dasselbe – sobald es ihnen besser geht, tut auch ihre Musik nicht mehr weh. Nicht, dass wir Oberst kein glückliches Leben gönnen. Aber trotzdem.
Antony & The Johnsons
Hope There’s Someone
2005 Secretly Canadian
Antony Hegarty sagt, Hoffnung sei fester Bestandteil jedes seiner Songs – doch wenn er auf „Hope There’s Someone“ das Auftauchen des alten Gevatters am Horizont vertont, dann verschwinden Nähe, Wärme und Trost. Es tanzt der Tod – und als Hörer spürt man den Drang, sich mal wieder bei alten Freunden zu melden.
Seeed
Aufstehn!
2005 Downbeat
„Steh auf, jetzt oder nie“, mies gelaunter Indie-Nerd, „das Leben will einen ausgeben. Komm, wach auf, ich zähl bis zehn. Das wird unser Tag, wenn wir endlich aufstehn. Die Nacht ist vorbei, die bösen Geister sind weg.“ Lasst uns endlich rausgehen, ihr Träger asymmetrischer Emo-Frisuren, damit auch ihr mal Farbe und gute Laune abbekommt. „Wir holen uns zurück, was irgendwann auf der Strecke blieb.“ Und wenn es nur das Recht ist, auf Konzerten Spaß zu haben, statt nur verklemmt mit dem Kopf zu nicken.
Arctic Monkeys
I Bet You Look Good On The Dancefloor
2005 Domino
Der Song steht für zwei Dinge, eines großartig, das andere nicht: 1. Alle paar Jahre kommt eine Band, die so tut, als habe nie jemand vor ihr Rockmusik gespielt, und die dafür sorgt, dass man sich neu darin verliebt. 2. Nach den Arctic Monkeys verwies jeder Bericht über eine neue Band auf die außerordentliche Zahl von Aufrufen der MySpace-Seite oder die explodierenden Downloadzahlen. Mehr brauchte es nicht mehr, um das Etikett „The Next Big Thing“ zu rechtfertigen.
Gossip
Standing In The Way Of Control
2006 Back Yard Recordings
Beth Ditto machte auf selbstbewusste Emanze, schüttelte den drallen Körper zu eingängigen New-Wave-Beats, bevor sie ihrer Anhängerschaft verkündete, dass Dicksein doch nicht das Maß aller Dinge sei. Dem Boulevard war’s einerlei, so lange die Diva weiter gegen die Diskriminierung von Schwulen und Lesben wetterte: „Standing In The Way Of Control“ ist die wütende Reaktion auf George Bushs Heiratsverbot für gleichgeschlechtliche Partner.
Hot Chip
Over And Over
2006 EMI
2009 tauchte ein Video von „Over And Over“ auf, in dem der Sprechgesang „K-I-S-S-I-N-G“ durch „C-R-I-S-I-S“ ausgetauscht wurde. Band-Gitarrist Al Doyle hatte den Song neu verfilmt, für ein Londoner Charity-Event: 20 obdachlose Tänzer sprangen, sangen und sahen verdammt glücklich aus. Die alte Geschichte über die coolen bunten Brillen und die genialen Nerds von Hot Chip? Steht schon anderswo.
Neil Young
Living With War
2006 Reprise
Im Hotel in Gambier, Ohio, fiel Youngs Blick auf die Titelseite der „USA Today“, die einen Operationstisch im Flugzeug zeigte, das verwundete US-Soldaten vom Irak nach Deutschland flog. Wenige Tage später hatte er ein ganzes Album aufgenommen, auf dem er seinem Ärger über die Bush-Regierung Luft machte: „I’m living with war in my heart every day“, sang er – und der schlimme 9/11-Song „Let’s Roll“ war vergeben und vergessen.
Queens Of The Stone Age
Feel Good Hit Of The Summer
2006 Interscope
Nikotin, Valium, Vikodin, Marihuana, Ecstasy, Alkohol waren für Josh Homme die geeigneten Mittel für den perfekten Sommer. Nein, halt, eins noch: „C-c-c-c-c-cocaine.“ Das lyrische Gerüst des Songs wird Literaturwissenschaftler kaum beschäftigen, umso mehr hypnotisierte der Song die Indie- und Stoner-Rocker der Welt. Zwei Minuten präzise stapfender Post-Punk, ein einziges, unzerstörbares Riff.
Lily Allen
Smile
2006 Regal
Wie Lily Allen im Video ihrem Ex-Lover Abführmittel in den Kaffee kippt, wie sie à la Bridget Jones Frustschokolade isst – immer wirkt sie so blasiert, so halbherzig. Wie fast alles an ihr: der Entschluss, Musik zu machen, die Musik selbst und ihre Ansage, sie wolle ab 2009 nur noch als Schauspielerin arbeiten. Doch wo soll sie mitspielen? In einem Teenie-Film, in dem sie ihrem Ex-Lover Abführmittel in den Kaffee kippt? „Smile“ war trotzdem ein Hit.
Amy Winehouse
Rehab
2006 Island
Was singt Amy Winehouse, wenn Papa Mitchell sie in die Entzugsklinik stecken möchte? „No, no, no!“ Das Kaputte gehört zu ihr wie die Bienenkorbfrisur. Sie wurde nachts barfuß von Londons Straßen aufgelesen, wegen Drogenbesitzes aus Norwegen verwiesen, von Paparazzi beim Crack-Rauchen gefilmt. Wenn „Rehab“ nicht so schmerzhaft autobiografisch wäre, wenn es keine Klatschblätter gäbe oder wir kein Englisch verstünden – dann wäre dies einfach ein wunderbarer Song.
Randy Newman
A Few Words In Defense Of Our Country
2007 MP3 ohne Label
Die „New York Times“ druckte den Text als prominenten Gastkommentar. Newman war erfreut, fühlte sich aber ertappt: Eigentlich wollte er nie Lieder über bestimmte Momente schreiben. „Dieses Lied wird in ein paar Monaten nicht mehr relevant sein, wenn eine andere Regierung zum Zug kommt“, sagte Newman damals. Hier irrt der Meister: Ausdrucken und beim nächsten Aufmarsch der Tea Party verteilen.
Rihanna feat. Jay-Z
Umbrella
2007 Def Jam
Little Miss Sunshine schluckte den Regen, spie ihn aus, bis er durch die Wolken platzte und oben in der Sonne glitzerte: Das „Ella-ella-ella“ ging damals vielen Leuten derart auf den Geist, dass „Umbrella“ auch mehrfach zum obersten Hass-Song der Dekade gewählt wurde. In Wirklichkeit war es das kindlich-jubilanteste Kirchenfenster-Soul-Lied seit den Jackson Five.
M.I.A.
Paper Planes
2007 XL
Mit neuen Technologien kann man reisen, ohne vom Sofa aufzustehen. Auch wenn man mal Einreiseverbot hat, weil man die Tochter eines tamilischen Tigers ist, nachdem man sein Album benennt: Arular heißt der Vater von Maya Arulpragasam. Und Joe Strummer dreht sich im Grab rum, weil er nicht mehr miterleben darf, wie eine modeverrückte Anti-Imperialistin mit einem Clash-Sample die USA erobert.
MGMT
Kids
2007 Columbia
„Kids“ war der meistgespielte Umbaupausen-Füller des Festivalsommers 2008. Sobald der Applaus verhallt war, ging es los mit Tanzen und Mitsingen. Weil „Kids“ ein Gute-Laune-Ding für die Massen war. Es lief so oft im Radio, dass auch der Letzte den Refrain mitnuscheln konnte. Und es verkörpert das, was man auf Sommerfestivals fühlt. Exzess, Sonnenbrand, Rausch, Abenddämmerung. Oft war die Enttäuschung groß, wenn die nächste Band auf die Bühne kam.
Vampire Weekend
A-Punk
2008 XL
„The New Yorker“. „Mad Men“. Mole-skine-Notizbuch. Im Ausland studieren. Bionade. Jonathan Safran Foer. Ironie. Clarks Originals. Literaturstudium. Altbau. Hass auf Ed-Hardy-Träger. Als Letzter gewählt werden. Meersalz. Elite-Uni. V-Ausschnitt. Reisen in die Dritte Welt. Abneigung gegen Großunternehmen. Fahrrad fahren. „Juno“. Selber kochen. American Apparel. „A-Punk“ von Vampire Weekend.
Fleet Foxes
White Winter Hymnal
2008 Bella Union
Vieles, was als neuer Folk verkauft wird, ist nur Rock unter akustischer Kappe. Fleet Foxes aus Seattle, die erfolgreichste Band der Welle, sind jedoch keine Mogelpackung: Die mehrstimmigen Gesänge sind an überlieferten Weisen aus Wäldern und Bergen geschult, dazu bietet ihr Vorzeigestück eine strenge Struktur: drei Mal Strophe, kein Refrain. Dass dazu in Indie-Discos getanzt wird, gehört zu den bizarrsten Trends des Jahrzehnts.
Animal Collective
Summertime Clothes
2009 Domino
Der große Wurf des Kollektivs lag in der Luft, nachdem Drummer Panda Bear mit dem Solowerk „Person Pitch“ beachtlich vorgelegt hatte. Das wies auch den Weg für „Merriweather Post Pavilion“ – keine Gitarren, dafür jede Menge Samples, die Beach Boys eingebettet in einen ozeanischen Klang. Animal Collective bewegen sich auf dem schmalen Grat, an dem der Song endet und der Ambient-Sound beginnt, und finden dort unter Geräuschen und Maschinen ihren größten Pop-Moment.
Lady Gaga
Bad Romance
2009 Interscope
Dass Rockisten sie hassen, spricht für Lady Gaga. Dass aber eine verdiente Feministin wie Camille Paglia, die Madonna für die Cultural Studies entdeckt hat, „beeindruckende Persönlichkeiten wie Tina Turner oder Janis Joplin“ gegen Gagas Oberflächenreize ausspielt, ist ein Rückfall in Zeiten, als man für die Kunst noch authentisch leiden musste. Sich verprügeln lassen vom Ehemann, zu Grunde gehen an der Verachtung der schweigenden Mehrheit – das wird Gaga nicht passieren.