Die Schnüfflerinnen
Die Arte-Sendung "Tracks" buddelt Woche für Woche in verborgener Popkultur und bringt jede Menge Szene ans Licht: Mit wilden Ideen, staubiger Straßenarbeit und konkurrenzloser Qualität. Wie aber wird das purste Musik-TV-Konzentrat gewonnen?
Es riecht im „The Smell“. Nach kaputter Toilette, nach feuchter Stirn, nach grellen Graffitis und nach Zwei-Mann-Punkbands ohne Basser. Wonach es hier jedoch am meisten riecht, ja geradezu stinkt, ist eine Story für Tracks: „Unsere Autoren leben im Dschungel der Popkultur und bringen heiße Themen“, erklären Christiane von Hahn und Katja Ferwagner aus der Arte-Redaktion des Bayerischen Rundfunks; „Tracks hat absoluten Kultstatus. Alle in der Szene kennen unser Format.“
Tracks ist keine Sendung, Tracks ist eine Mission. Der deutschfranzösische Sender Arte strahlt jeden Freitagabend das einzige journalistisch hochwertig gemachte popkulturelle Magazin aus, das derzeit in der Region zwischen Krabbenbrötchen und Kaiserschmarrn existiert. Die deutschen Beiträge für Arte kommen von der ARD und vom ZDF, und da die ARD eine Gemeinschaft mehrerer Sendeanstalten wie WDR, NDR oder eben BR ist, gibt es bei jedem dieser Mitglieder eine Arte-Redaktion. Für den BR, der als einziger Zulieferer im eigenen Haus produziert, erdenken und organisieren die beiden oben genannten Damen regelmäßige Tracks-Beiträge – eine Arbeit, bei der die Spürnase eines Trüffelschweins gefragt ist: „Wir bewegen uns selbst in den entsprechenden Kreisen, um geeignete Themen abzapfen zu können, durchstöbern Zeitschriften, Blogs, Internetseiten und hören stapelweise Platten. Manchmal kommt man auch durch den Freundeskreis auf gute Ideen, wenn jemand über zehn Ecken etwas Spannendes aufgeschnappt hat.“
Die wichtigste Informationsquelle allerdings sind die verdeckten Ermittler: die Autoren. So liefert beispielsweise einer dieser „Außendienstler“ neue Entwicklungen im Bereich „absurde Sportarten“. Base Jumping gehört da mittlerweile fast zu den Normalitäten, denn erst kürzlich stieß der Informant die Redaktion auf einen Buggy Roller an – einen Mann im selbstgebauten Anzug, der Rollen überden gesamten Körperverteilt hat, sich hiermit ebenso auf nervenzerfetzende Abfahrten macht wie auf entspannte Stadtbummel und es sogar schon bis ins Hollywood-Kino geschafft hat. Der Beitrag, der am 12.12. gesendet wurde, ist dem Hinweis eben jenes Szenekenners zu verdanken. „So einen Typen ziehen wir uns als Autoren heran, weil er aus der Szene kommt und uns Informationen liefert, an die wir allein gar nicht herankommen würden“, sagt Christiane. Tracks lebt von diesen Autoren. Sie sind Teil der Szene und verschaffen der Sendung auf diese Weise jede Menge Authentizität und den direkten Zugang zu den Hauptdarstellern. Für die Redaktion selbst ist es jedoch wichtig, kein direkter Teil einer Szene zu sein, um die professionelle Distanz der Beiträge nicht zu gefährden. „Augenhöhe ist wichtig“, so Katja, „wir sind kein Fanzine.“
Der Hauptbestandteil von Tracks sind neue Musikströmungen. Das „LA.-Special“, das am 14.11. für Gesprächsstoff sorgte, berichtete über brandheiße Bands vor dem Durchbruch, die zur neuen Punk- und D.I.Y.-Szene (do it yourself) L.A.s gehören und im Kult-Club „The Smell“ auftreten. Angereichert wird jede Sendung mit passenden Berichten über Künstler anderer Ressorts. Im Fall „Los Angeles“ sind dies: ein Sprayer, der u. a. mit dem Blut seiner Nase malt und sich jeden Morgen vor der Arbeit selbst ins Gesicht schlägt, um seine Farbe zu erhalten. Dazu der erfolgreichste Produzent des Alternative Porno, der halbwegs normale Mädchen in alltäglichen Umgebungen in Akt und Szene setzt. Dann noch Pamela des Barres, die als Supergroupie mit Mick Jagger und Jimmy Page im Bett war und ihre Abenteuer unbeschwert ausplaudert. Und schließlich ein Surfer-Pärchen, das eine aus Hawaii stammende Tradition wiederentdeckt hat: Wellenreiten mit überdimensionalem Board und zusätzlichem Paddel – eine Variante, die dem sonstigen Individualistensport etwas Gemütlichkeit und Geselligkeit verpasst.
Doch was genau qualifiziert ein Thema für die Verwendung in Tracks? „Zwei Dinge: Es muss popkulturell relevant sein, jenseits etablierter Strukturen liegen und echten Neuigkeitswert besitzen. Denn beim Fernsehen haben wir einen größeren Vorlauf als zum Beispiel die meisten Printmedien, und eine Story darf nicht abgenudelt sein, wenn sie nach mindestens drei Monaten Produktionsphase gesendet wird“, sagt Katja. Ansonsten gilt: Alles kann, nichts muss. Von der knorpeligsten Indie-Nische bis zum breitfüßigsten Mainstream ist alles erlaubt. Wichtig ist nur, dass der jeweilige Beitrag das Kunststück vollbringt, ein Thema aus unüblichen Blickwinkeln zu zeigen, es zu durchleuchten und neue Aspekte zum Vorschein zu bringen: „Die Frage ist nicht: Dürfen wir über Amy Winehouse berichten? Sondern die Frage ist: Wo hat Amy Winehouse ihren Sound geklaut?“, schildert Christiane ihren redaktionellen Leitgedanken, und Katja setzt schonungslos noch einen drauf: „Tracks geht in die Tiefe und versucht, das Gehirn von Leuten aufzuschneiden.“
Die beiden sind ganz normale Freaks. Christiane, die „kurze Blonde“ mit der viereckigen Mediengestalterbrille, hat Romanistik studiert, ein Praktikum bei Arte in Straßburg absolviert und ist über ein Volontariat beim BR zur Arte-Redakteurin geworden. Sie arbeitet jeweils zur Hälfte für Arte und für die Redaktion Dokumentarfilm. Katja hingegen war bereits vor ihrer Rekrutierung zur Redakteurin als Autorin für Tracks aktiv. In ihrem Steckbrief stehen ein Journalistik-Studium, ein Praktikum bei VIVA 2, ein Verlagsvolontariat und eben ihre Autorentätigkeit in den Gebieten Mode und Musik.
Die Zwei-Frau-Redaktion ist sich einig: Das Schönste im Leben ist die Freiheit. Bei Tracks gibt es keine Programmvorgabe, keine inhaltliche Limitierung, kein anderes Bier. Heißt: keine Werbepartner und somit null wirtschaftliche Abhängigkeiten, die das Format beeinflussen könnten. Die einzigen inhaltlichen Grenzen, die sich Tracks selbst setzt, sind ethisch-moralischer Natur: Als sich zum Beispiel bei den Dreharbeiten für ein Special über Drogen der Schlagzeuger der Flaming Lips vor der Kamera Heroin spritzt, ist klar, dass diese Szene so nicht gezeigt wird. „Wir stellen uns immer die Frage: Ist das voyeuristisch, will man damit Zuschauer kriegen, hat das was mit der Aussage zu tun? Gerade bei Drogen oder im Rechtsradikalismus ist immer fraglich, ab welchem Punkt man die Leute eher anzieht und für das Thema begeistert, anstatt neutral zu berichten.“
Ein paar Naturgesetzen ist Tracks dann doch unterworfen: Obwohl man Autoren in London, New York und anderen Metropolen hat, fallen hohe Reisekosten an, „die wir uns nicht von den Plattenfirmen der dargestellten Künstler bezahlen lassen dürfen. Aber so stehen wir auch nie im Konflikt der Bestechlichkeit oder Zensierung“, sagt Christiane. Das geringe Budget stelle oftmals eine „wahre Herausforderung“ dar, aber das einzige wirklich ärgerliche Problem liege auf einer eigenbrötlerischen Nordsee-Insel: „Das Blöde am Fernsehen ist, dass wir Bild und Ton brauchen. Gerade die Engländer aber sind bei Vertragsverhandlungen immer heikel und machen viele Schwierigkeiten – selbst wenn man bei einem Konzert mal vier, fünf Songs für einen sechsminütigen Beitrag mitfilmen möchte. Wir verbringen Stunden damit, mit denen Verträge hin und herzu schubsen und über Ausstrahlungsminuten zu feilschen.“
Doch gute Ideen sind in Verbindung mit Hartnäckigkeit eine Erfolg versprechende Kombination. Tracks ist etabliert und beliebt, wird als Kult-Format wahrgenommen und gewinnt immer mehr Jünger. Und auch die Gunst des Moments spielt der Sendung in die Karten: Denn Arte ist nicht nur popkulturell ausgerichtet, sondern spricht ein sehr breites und teilweise sogar konservatives Publikum an, weshalb viele Menschen den Sender auf der Nummer 4 der Fernbedienung gespeichert haben und gelegentlich aus Versehen über einen Tracks-Bericht stolpern. „Wenn alle Leute, die Tracks als ihre Lieblingssendung bezeichnen, jede Sendung schauen würden, wären die Quoten ganz woanders“, gibt Christiane zu verstehen. Vielleicht liegt es an der Sendezeit, die zwar bisher auf Freitagabend um 22:30 Uhr angesetzt war, jedoch gern von Woche zu Woche variierte und nach hinten rutschen konnte, oder am Sender selbst, der weniger etabliert ist als andere. Ab Januar 2009 soll Tracks fest auf 23:30 Uhr programmiert sein.
Das Faszinierende: Fast jeder Zuschauer, der bei Tracks landet, bleibt hängen. Zu knusprig sind die Themen, zu anders die Aufbereitung, zu nah die Berichterstattung und zu geschickt die Ansprache, als dass man auf „die Nanny“, „Lanz kocht“ oder den Bodensee-„Tatort“ weiterzappen könnte. Dabei setzen die Macherinnen auf ganz besondere Werte und Worte, die im Fernsehen ziemlich rar geworden ist: „Es hat sich eine gewisse Fernsehsprache entwickelt, die viel redet und wenig sagt. Wir versuchen, konkret zu werden, ohne unverständlich zu sein. Wir möchten quasi ein Programm machen, das für jeden Zuschauer interessant ist und selbst den Leuten, die aus der jeweiligen Szene kommen, nicht peinlich vorkommt und einen Mehrwert bietet. Weil sie etwas kennen lernen, das eine Relevanz für unsere Gesellschaft hat“, legt Christiane vor, und Katja locht ein: „Wir wollen uns nicht anbiedern und eine Pseudo-Jugendsprache benutzen, sondern so rüberkommen, als würden wir einem Freund die Welt erklären.“ In ihren Augen liegt die große Kunst darin, etwas einfach zu sagen und trotzdem das Thema zu treffen. Zudem seien eine gewisse Lockerheit und vor allem „Sprechsprachlichkeit“ wichtig, denn „man muss als Experte nicht zwangsläufig verschwurbelt reden.“ Das Gleichgewicht zählt: eine gesunde Balance aus ganz neuen Themen, bei denen man die Leute überall hin begleiten kann, und Superstar-Interviews, denen man neue Aspekte abgewinnen will. Und die Schnelligkeit. Denn wenn die Leute bekannter sind, kann man sie nicht mehr so einfach zu Hause besuchen und beim Zähneputzen filmen.
Im „The Smell“, dem Mittelpunkt des L.A.-Specials, wird es auch in Zukunft riechen. Damit Konventionen gebrochen und die Seele der Kunst neu belebt wird. Und damit ein Format wie Tracks all man Autoren in London, New York und anderen Metropolen hat, fallen hohe Reisekosten an, „die wir uns nicht von den dies genau hier in allen Facetten einfangen kann: Bands wie No Age, Abe Vigoda oder Mika Miko, die popkulturell Arsch treten und kurz vor dem Durchbruch stehen, beim Proben im eigenen Schlafzimmer oder schweinisch schwitzend auf kleiner Bühne. Ungewaschen, ohne Schminke und mit vergessener Nähe. Wie der Tracks-Beitrag.