Die Schatzkiste
Eine sentimentale Reise in die Jahre 1996 und '97 nebst einigen Anmerkungen zu Anoraks, Schuhen & einem Kasten voll Singles.
„Please don’t put your life in the hands of a rock’n’roll band“, so plärrte es ungefähr ein Jahr lang aus dem Fernseher und der HiFi-Konsole, und aus dem Radio tönte „Wonderwall“, und diese Songs vermischten sich mit „Hello“, mit „Some Might Say“, „Cast No Shadow“, „Champagne Supernova“. Magisches, britisches, ewig junges 1996! Noch tönten Pulp mit „Different Class“und wiederholten Oasis sozusagen als Farce: „Pencil Skirt“, „I Spy“, „Mis-Shapes“ handelten von der Vorstellung all dessen, was die Rabauken wohl so mit Frauen trieben. Der kauzige Jarvis Cocker hatte die anspruchsvollere Lyrik (und wahrscheinlich war auch sein Leben eher sophisticated), und Blur entwarfen ein geradezu Dickenssches Gesellschaftspanorama – aber Oasis waren entschieden realistischer: Mit großer Klappe, Alkohol, Zigaretten und Drogen gaben sie sich dem Rock’n’Roll hin; ihr hedonistisches Modell kannte keine Ironie, keine Angst, kein Zaudern. „Take me to the place/ Where nobody knows/ Is it night or day“: In „Don’t Look Back In Anger“ schwang natürlich John Osbornes Theaterstück „Blick zurück im Zorn“ mit und der ganze Trotz des jungen Richard Burton in der Filmfassung, jenes Super-Proleten, der aus ähnlich trostlosen Verhältnissen stammte wie die Gallaghers, der ein geldgieriger Stiesel war, ein Trinker und einer der größten britischen Schauspieler. Und Verführer. Im Sommer 1997 radelte Jan Ullrich an der Spitze der Tour de France durch Frankreich, und damals dachten wir noch, ihm gelinge dies kraft idealer Hebelverhältnisse und vieler Bananen. Ein warmer Wind wehte auch durch die Stadt. „D’You Know What I Mean“ war endlich erschienen, die neue Oasis-Single, und das Video sah aus, als wäre ein verdammter Krieg im Gange. Was auch immer das für ein Krieg war – wir wollten dabei sein. Wir wollten diese Anoraks mit Kapuze haben, die Clarks-Gesundheits-Schuhe und diese Hemden, von denen Torsten Groß immer erzählt. Eben noch hatten wir ein Kleidungsgeschäft nur unter Protest betreten – nun suchten wir in der Stadt nach Britpop-Läden. Und kauften in einer Boutique, die sich später als altehrwürdiger schwedischer Vertrieb von Sport- und Segelbedarf herausstellte, eine Windjacke. Die Schwedin hinter dem Schalter war sehr freundlich, als wir die Zentrale ihrer Firma in der Londoner Savile Row vermuteten und nach englischem Weingummi fragten. Bei Görtz fanden wir auch ein Paar Clarks-Treter, die nicht wie Papas Wildledergurken aus den 70er Jahren aussahen. Dafür wirkten sie wie die Halbschuhe, die in der Schule immer von den Spießern getragen wurden.
Dann erschien „Be Here Now“, und der eine Freund war begeistert, weil in Berlin gerade antithetisch die sogenannte Love-Parade an seinem Fenster vorbeiwalzte, und ein anderer Freund zog in eine andere Stadt und ließ im Möbelwagen „Stand By Me“ und „Fade In-Out“ dröhnen, und irgendwie ahnten wir, dass es das Ende von etwas war. Niemand schrieb damals von einer monströs misslungenen Platte, von Kokainstürmen und geistiger Umnachtung. Niemand wunderte sich über Schnickes wie den Rolls Royce im Swimmingpool. Es war einfach so, dass dieses Gefühl, jung zu sein und es zugleich zu merken, nicht wiederkam, „ße Here Now“ war das Ende vom Schützenfest.
Jenen Kasten in Verstärkergestalt aber, der alle Singles der Alben „Definitely Maybe“ und „(What’s The Story) Morning Glory?“ enthält, hüte ich noch immer. Der Glamour von Oasis war ja mit den Jahren sehr verblasst, und auch der Wert dieser Preziose sank um das Jahr 2002 bedenklich. Ein echter Engländer wollte 150 Euro dafür zahlen. So viel wäre die Schatzkiste schon wert gewesen, wenn sich keine einzige der formidablen Singles der glorreichen Tage darin befunden hätte. Also nicht verkauft.
Die bizarre Cover-Gestaltung der Singles hat heute bereits mehr Patina als die späten Beatles-Platten. Am schönsten ist das Cover von „Some Might Say“: ein viktorianisches Häuschen mit Spitzgiebel an einem trocken gelegten Kanal, ein Mann fährt Fische in einer Schubkarre davon; am Eingang steht eine Frau; ein Bettler sitzt an die Wand gelehnt, neben sich ein Pappschild mit der Aufschrift „Education please?“. Man braucht eben keine Erziehung, wenn man weiß, wie es geht. Und deshalb können die Leute reden, was sie wollen.