Die Rolling Stones, der RIAS und die Stasi
Wie ein Jugendlicher wegen eines harmlosen Musikwunsch-Briefes an den RIAS in die Fänge der Stasi geriet
Je länger die ‚Friedliche Revolution‘ in der DDR im Herbst 1989 zurückliegt, je mehr verblasst das Geschehene. Das DDR-Regime hatte in Relation zu ihrer Einwohnerzahl (1988 rund 16,67 Millionen) eine riesige Geheimpolizei, die erheblich die eigene Bevölkerung überwachte und drangsalierte. Das 1950 gegründete Ministerium für Staatssicherheit hatte 1989 rund 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter sowie rund 180.000 registrierte Inoffizielle Mitarbeiter. Zu den von der Stasi Überwachten zählten auch zahlreiche Fans von Blues-, Rock-, Pop- und Jazz-Musik, die aus dem Westen kam und von den DDR-Politikern als dekadent und die Jugend vergiftend eingeschätzt wurde.
„Dreck aus dem Westen“
Besonders in den 1960er Jahren und vor allem nach dem sogenannten Kahlschlag-Plenum der SED Ende 1965, kam es unter dem DDR-Staatschef Walter Ulbricht zu erheblichen Einschränkungen und sogar zu zahlreichen Verboten von Beat- und Rock-Bands. Und das DDR-Regime scheute auch nicht vor etlichen Verhaftungen zurück. ,Spitzbart‘ Ulbricht brachte damals mit seiner Fistelstimme seine tiefe Abneigung gegenüber der West-Mugge auf den Punkt: „Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nun kopieren müssen ? Ich denke Genossen, mit der Monotonie des Yeah, yeah, yeah und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen.“
Nach dem Bau der Mauer im August 1961 war es ostdeutschen Musikfans von heute auf morgen plötzlich nicht mehr möglich, in West-Berlin oder Hamburg und München, Konzerte zu besuchen. Auch der Kauf und Zugang zu West-Schallplatten wurde viel komplizierter. Einzig West-Radio und -Fernsehen waren in der DDR größtenteils empfangbar.
Ein Beispiel, geschehen vor gut 50 Jahren, verdeutlicht den gewaltigen Irrsinn der DDR-Politikobrigkeit, die mit Hilfe ihres großen Stasi-Apparates, mit riesigem Aufwand selbst harmlose, junge Musik-Fans einst verfolgte. Besonders wenn diese gerne West-Musiker und -Bands hörten. Auch die englische Rock-Band Rolling Stones galten den DDR-Oberen lange als Inbegriff des bösen Kapitalismus.
Musikwünsche an den RIAS und die Folgen
Der damals 17-jährige Eisenbahner-Lehrling aus der thüringischen Bezirksstadt Gera, Helmut W., hatte am 12. Oktober 1969 an den Westberliner Radiosender RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) einen vierseitigen Brief geschrieben und sich von der Redaktion der beliebten Musiksendung „Treffpunkt“ mehrere Songs von den Rolling Stones gewünscht. Dies geht aus Stasi-Unterlagen hervor, die dem Autor vorliegen. Konkret hatte der Jugendliche, der ein bekennender Stones-Fan war, seinen Brief an eine sogenannte Deckadresse in West-Berlin geschickt, die von den RIAS-Moderatoren in ihren Sendungen zuvor durchgesagt worden war. Denn längst war damals bekannt, dass die Stasi Briefe und Postkarten aus der DDR, die direkt an den „Hetz- und Feind-Sender“ RIAS (so die damalige DDR-Diktion) adressiert waren, beschlagnahmte und die Absender dann schikanierte.
Der junge Mann aus Gera indes war clever und verfasste seinen Brief an den RIAS unter dem Pseudonym „Stones-Fan John Dillinger aus Gera“.
Doch all seine Vorsicht nützte ihm nichts. Denn die Schlapphüte vom Überwachungsapparat der Stasi hörten im Dienstauftrag auch die Radiosendungen des RIAS ab und schrieben die durchgesagten Post-Deckadressen für die wahren DDR-Fans ebenso mit und gaben diese dann umgehend an die Postfahndungs-Abteilung der Stasi weiter. Was Helmut W. nicht wusste: Die Stasi hatte bereits ein Jahr zuvor, am 5. Oktober 1968 einen von ihm an den Rias gerichteten Brief und danach noch vier weitere seiner Briefe sowie eine Postkarte von ihm konfisziert.
Somit kamen die Musikwünsche des Thüringer Stones-Fans nie beim RIAS an. Das Postgeheimnis, was in der DDR nur Makulatur war, wurde damit belegbar mehrmals gebrochen.
Aufwändige Schriftenfahndung
Durch eine aufwändige, mehrmonatige Schriftenfahndung der Stasi, sogar in den Berufsschulen und in den Erweiterten Oberschulen (EOS) in Gera, wurde Helmut W. als Verfasser ermittelt. In bemerkenswerter Klarheit hatte er seine Zeilen an den RIAS gerichtet. … „Ich bin seit zwei Jahren ständiger Hörer eures ‚Treffpunktes‘. Dabei möchte ich Euch gleich mitteilen, dass ich auch auf Tonband mitschneide. Aber ich finde es nicht schön, dass der Moderator am Sonnabend in einige Songs reingeredet hat. Wenn es möglich wäre, würde ich ihn höflich bitten, dies das nächste Mal zu unterlassen.“
„Der 20. Jahrestag (der DDR am 7. Oktober 1969, der Autor) war bei uns in Gera die totale Asche. Früh mussten wir bei der 4-Stunden lang währenden Kampfdemonstration mitmarschieren. Und ich als Stones-Fan musste mit ein Spruchband tragen, weil ich FDJ-Sekretär der Klasse bin. Ich kann Euch nur sagen, mir hing es zum Hals heraus wie noch nie, diese ewigen Hurra-Rufe und das andere Gequatsche von Sozialismus und Demokratie. … In Bezug auf den jugendfreundlichen Staat ist zu sagen: Alles Quatsch. Seine Meinung darf man nicht sagen, da ist man das schwarze Schaf. Spielt eine Musik-Gruppe einmal wirklich gut und laut, wird sie gleich verboten. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich einen anderen Namen zu suchen oder aufzuhören.“ … „Von mir aus gesehen, ist meine liebste Gruppe die Rolling Stones. Dazu gleich einige Musikwünsche.“
Dann listete er zehn Stones-Songs auf. An erster Stelle stand „The Under Assistent West Coast Promotion Man“. Es folgten „2120 South Michigan Avenue“ und „Tell Me“. Sein Brief endete mit dem Wunsch: „Am liebsten wäre es mir und vielen anderen Fans, die Stones würden einmal in die DDR kommen.“
Die Stasi-Offiziere verhörten daraufhin den Lehrling, setzten ihn „hinsichtlich seiner Verbindungsaufnahme zu Einrichtungen in Westberlin und Westdeutschland, die einen Kampf gegen die DDR führen“ unter Druck und rangen ihm im Dezember 1970 eine Verpflichtungserklärung als Inoffizieller Mitarbeiter ab. Doch Helmut W. plagten zunehmend Gewissenskonflikte, so dass er 1972 eine weitere Zusammenarbeit mit der Stasi ablehnte. Daraufhin brach der Geheimdienstapparat die Verbindung zu ihm ab. Wie das Leben von Helmut W. danach verlief, war bislang leider nicht in Erfahrung zu bringen.
Im Stasi-Unterlagenarchiv finden sich zahlreiche weitere Akten, die sich mit den Stones beschäftigen.
Wie die Stones 1982 durch die DDR fuhren
Die Rolling Stones hatten zwar ein nahezu einmaliges Konzert im Ostblock gegeben, am 13. April 1967 im Kulturpalast in Warschau/Polen. Ein Gastspiel in der DDR gaben die Stones allerdings vor dem Fall der Mauer am 9. November 1989 nicht. Jedoch, was bis heute kaum bekannt ist, reisten die Stones im Juni 1982 mit Reise-Bussen aus der Bundesrepublik über den Grenzübergang Helmstedt/Marienborn auf der Transitautobahn (A 2) durch die DDR nach West-Berlin. Dort spielten sie in der Waldbühne am Abend des 8. Juni 1982 ein vielbejubeltes Konzert.
Bei der Anreise der Stones sei es laut BILD-Zeitung, Ausgabe vom 9. Juni 1982, am Grenzübergang Dreilinden zu einem Zwischenfall gekommen. Unter der Überschrift: „Vopo knöpfte Mick Jagger 200 DM ab“, vermeldete BILD: „Mick Jagger ist stocksauer auf die Vopos am Grenzkontrollpunkt Dreilinden. Als er morgens eine Zigarette aus dem Bus warf, kamen die ,DDR‘-Grenzer angelaufen: ‚Das ist verboten, Sie verunreinigen das Gelände.‘ Erst als Jagger 200 Mark Strafe gezahlt hatte, durfte der Konvoi weiterfahren.“
Die Tageszeitung „BZ“ erwähnte zudem: „Dennoch gaben die Rockstars bereitwillig Autogramme bei der Paß-Kontrolle.“
Stasi-Rapport zur Zigarettenkippe von Mick Jagger
Die Stasi-Hauptabteilung VI (zuständig für Grenzkontrollen, Reise- und Touristenverkehr, der Autor) stellte laut Aktenlage in ihrer umgehenden „Westpresseüberprüfung“ und in Rücksprache mit der DDR-Volkspolizei dazu am 9. Juni 1982 folgendes fest:
Die Stones sind am 8. Juni 1982 mit zwei Bussen über die Autobahn-Transitstrecke vom Grenzübergang Helmstedt/Marienborn (00.30 Uhr) nach Drewitz/Dreilinden (02.30 Uhr) nach West-Berlin gefahren. Auf der Autobahn im Bezirk Potsdam sei aus einem der Busse eine glimmende Zigarettenkippe geworfen worden. Daraufhin wurde der Busfahrer „in Anbetracht der gegenwärtig erhöhten Waldbrandgefahr durch die DVP (Deutsche Volkspolizei) mit 200 DM abgestraft“. „Die Abfertigung und Kontrolle an den Grenzübergangsstellen erfolgte zügig und reibungslos.“ Autogramme indes hätten die Musiker keine gegeben.
Dieser Stasi-Bericht ging ob der außergewöhnlichen Brisanz auch an den Stellvertreter des Stasi-Ministers Erich Mielke, Generalmajor Gerhard Neiber sowie an den Stasi-Generalmajor Werner Irmler, wie aus den Stasi-Unterlagen hervorgeht. Offensichtlich sind die Stones von den DDR-Sicherheitsbehörden also lückenlos auf ihrer 120-minütigen, nächtlichen Transitfahrt durch die DDR observiert worden. Man stelle sich nur mal vor: Die Stones hätten auf einem DDR-Autobahnparkplatz in der besagten Nacht ein kleines Spontan-Konzert gegeben, mit ihren Songs „Street Fighting Man“ oder „Sympathy For The Devil“. Letzterer stand übrigens bis zum Mauerfall 1989 auf dem Index der DDR-Kulturbehörden, wie der Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk herausfand. Die Stasi-Schlapphüte sowie die Volkspolizisten wären vermutlich wegen solcher Provokationen des „Klassenfeindes“ wutentbrannt im Dreieck gesprungen. Wahre Stones-Fans aus der DDR so wie Helmut W. hingegen, hätten sich wohl im siebten Himmel gewähnt.
Der Potsdamer Bürgerrechtler Manfred Kruczek kann sich noch gut an die einstige RIAS-Musiksendung „Treffpunkt“ während seiner Schulzeit Ende der 60er-Jahre erinnern. „Die Sendung war ein Muss für die meisten aus meiner Klasse. Mir ist noch der Absender ,Hundekuchen-Alfred‘ in bester Erinnerung, weil seine Grüße an die Szene in der DDR fast jeden Samstag über den Äther gingen. Da fühlten wir uns alle über die sogenannte dekadente Musik wie in einer großen Familie Gleichgesinnter verbunden. Der Song ,Sympathy For The Devil‘ wurde uns damals im Musikunterricht an der Helmholtzschule in Potsdam auf einer 45-minütigen Tonbandaufnahme mit Propagandatexten gegen die Westmusik, als besonders abschreckendes Beispiel vorgespielt.“ Gebracht habe „dieser pädagogische Bevormundungsversuch allerdings nichts“, sagt Kruczek mit einem Schmunzeln heute.
Bleibt noch zu erwähnen: 1982 erschien tatsächlich die erste und einzige Schallplatte der Rolling Stones in der DDR, als Best-of-Mix beim staatlichen Label „AMIGA“.
Stones spielen erstmalig in der Noch-DDR
Am 13. und 14. August 1990, also gut neun Monate nach dem Mauerfall, spielten die Stones dann erstmalig in der Noch-DDR in Ostberlin auf dem Gelände der Radrennbahn Weißensee und sorgten für viele glückselige Momente bei den vielen Fans aus dem Osten. Mehrmals kamen sie in den Folgejahren zu weiteren Konzerten nach Berlin zurück. 2014, wo sie in der Waldbühne spielten und auch 2018, wo sie im Olympiastadion auftraten, logierten die Stones im in den 1990er Jahren wieder aufgebauten Hotel „Adlon“, welches direkt am Brandenburger Tor liegt. Gitarrist Keith Richards und Schlagzeuger Charlie Watts genossen 2014 zur Freude mehrerer Fotografen von ihren Hotelsuiten den einzigartigen Blick auf den Pariser Platz mit dem Wahrzeichen, dem Brandenburger Tor. Und Mick Jagger zeigte sich zusammen mit Ronnie Wood in der Freiluft-Cafeteria vor dem Hotel. Was längst zum Alltag in Berlin geworden ist, war bis zum Mauerfall noch völlig unmöglich: Da war das Brandenburger Tor weiträumig abgesperrt und von Soldaten der DDR-Grenztruppen mit Maschinenpistolen sowie Offizieren streng bewacht.