Die Party vor der Pleite
Der Booker-Prize-Gewinner DBC Pierre inszeniert in seinem neuen Roman „Das Buch Gabriel“ die letzten Tage des Kapitalismus als spätrömische Dekadenz im Berliner Untergrund.
Peter Finlay alias DBC – Dirty But Clean – Pierre sieht müde aus, als er durch die Cocktailbar des Berliner Hotels schlurft. Er trägt ein braunes Sakko und ein verwaschenes T-Shirt mit der Aufschrift „Rehab Is For Quitters“. Die Augenringe hängen auf Kinnhöhe und werden nur von einem schelmischen Grinsen gehalten. Es ist jene Müdigkeit, die sich ins Gesicht zeichnet, wenn man sich durch das Berliner Nachtleben gefeiert hat – durch den exklusiveren Teil, bei dem man sich im Grill Royal am teuren Wodka besäuft, wunderhübsche Edelgewerbliche aufliest, um am Ende von Koks und Suff befeuert auf dem Gelände der Topographie des Terrors nach einer intimen Privatorgie zu kollabieren. In seinem gerade auf Deutsch erschienenen Roman „Das Buch Gabriel“ (Eichborn, 19,95 Euro), der zu einem großen Teil in Berlin spielt und in einer furiosen Orgie in den Bunkern des Flughafens Tempelhof endet, gibt es genau diese Szene. Und, so versichert Pierre grinsend, diese und andere seien tatsächlich so passiert: „Dieser Abend, und überhaupt die Tatsache, dass Berlin eine solch zentrale Rolle spielt, war ein Unfall. Ein wunderschöner allerdings. Ich hatte mit dem Buch bereits angefangen und hatte gar nicht vor, den Helden Gabriel Brockwell bis nach Berlin zu führen. Aber dann begann ich plötzlich, diese Stadt für mich zu entdecken. Ich lernte die richtigen Leute kennen, Ossis und Wessis, aus der Oberschicht ebenso wie aus der Unterwelt. Das in der Topographie des Terrors ist tatsächlich so passiert. 2008, als es noch leichter war, über den Zaun zu springen.“ Ob das alles so stimmt?
Das bleibt die ewige Frage: Es ist schwierig, im Falle des Peter Finlay zu entscheiden, wo die Realität aufhört und die Fiktion anfängt. Zu geschichtenreich scheint sein Lebenslauf, als dass er exakt so passiert sein könnte. In Australien geboren, in England aufgewachsen, im Alter von sieben Jahren mit seinem Vater – einem Wissenschaftler – nach Mexiko-Stadt gegangen, wo er in „wirklich exzentrischer Nachbarschaft“ im Distrikt Jardines del Pedregal aufwuchs. „Die Nachbarn auf der einen Seite hielten bengalische Tiger im Garten, und ihre Tochter hat allein zur Hochzeit 13 Autos geschenkt bekommen. Es war ein Ort, an dem man alles und jeden kaufen konnte und an dem die Realität ein sehr dehnbares Konzept war.“
Nach dem Tod des Vaters – Peter war 19 – blieb er in der Villa und befeierte sie angeblich mehrere Jahre mit Freunden und Nutznießern. Die verzerrte Wahrnehmung, vor allem in Bezug auf finanzielle Realitäten, äußerte sich in waghalsigen Investitionen und einem kostspieligen Drogenkonsum. Die Konsequenz: Schulden, Zusammenbruch, Entzug, Freelance Jobs in Design und Werbung, schließlich langjährige Arbeitslosigkeit und am Ende – eine Schriftstellerkarriere. Auch sein Debütroman „Jesus von Texas“ (im Original „Vernon God Little“), für den er 2003 den Man Booker Prize gewann, war also einer dieser Unfälle, von denen er spricht: „Ich war arbeitslos, hatte zu viel Zeit und hab mir einfach meinen Frust runtergeschrieben. Das war natürlich noch keine Geschichte, eher so ein ‚fuck this, fuck that, fuck my mother‘. Aber dann hatte ich eben diese 300 Seiten und fand’s auch zu schade, sie wegzuschmeißen. Also habe ich mir von Freunden einen Laptop geliehen und so lange dran gefeilt, bis es tatsächlich ein Roman war.“ Mit dem Buch, das ähnlich wie „Das Buch Gabriel“ eine überdrehte Coming-of-Age-Story erzählt und diese mit bissiger Gesellschaftskritik verbindet, wurde er augenblicklich zum Star. Dass ihn auf diese Weise auch seine Schuldner wiederfanden und ihr Geld einforderten, machte ihn eher noch bekannter.
„Ich beschwere mich nicht darüber, dass einige Fakten meiner Geschichte frisiert oder ausgeschlachtet werden. Manchmal spiele ich auch damit und gebe nur vage Angaben, damit die Journalisten auch mal ihre Fantasie spielen lassen dürfen.“
Auch in Bezug auf „Das Buch Gabriel“ geht das Sagenspinnen bereits wieder los: Der Buchcharakter Thomas, ein versnobbter aber liebenswerter Lebemann, der Gabriel ins wilde Berlin zieht, sei in der Realität Jan Josef Liefers. Die Tatsache, dass beide gemeinsam auf Lesetour waren, befeuerte diese Vermutung. Bestätigen wollte Pierre sie nicht. Aber in sein Grinsen kann man Bestätigung und Verneinung zugleich hineinlesen.
Es geht aber um mehr als nur um puren Hedonismus, erklärt Pierre: „Wir haben alle großen Ideen unserer Gesellschaft – Monarchie, Kommunismus, Demokratie – ausgelaugt. Im Moment befinden wir uns in den hoffentlich letzten Lebenszügen des Kapitalismus. Und es gibt noch keine Idee für die Organisation der Menschheit, die diese ablösen könnte. Also haben wir diesen Limbus, den auch mein Romancharakter symbolisiert. Gabriel sagt: ‚Meine Situation hat keinen Namen. Zum einen, weil ich beschlossen habe, mich umzubringen. Und dann, weil ich mir sage, es muss ja nicht sofort sein.‘ Tja, und bis dahin möchte er die Party seines Lebens feiern.“
„Das Buch Gabriel“ wäre kein echter DBC Pierre, wenn diese Party nicht die größte aller Zeiten wäre, geschult an den Bacchanalien der alten Römer und den Orgien de Sades. Aber es ist nicht die Party des Gabriel Brockwell. Er muss am Ende einsehen, dass er nur Laufbursche für eine obskure Gourmetkochvereinigung ist, die für die Finanzkräftigsten der Welt Feste ausrichtet. Serviert werden natürlich ausschließlich vom Aussterben bedrohten Tierarten. Die Rezepte, die das Abschlusskapitel gliedern, sind übrigens wieder einer dieser Schnittpunkte zur Realität: „Ein Freund von mir, der als junger Koch Smuts im Buch eine entscheidende Rolle spielt, hat die Rezepte so ausgearbeitet, das man sie nachkochen könnte. Sofern man die Zutaten bekommt.“ Das ist immer das Problem an den Partys in DBC Pierres Geschichten – all die irren Ingredienzien bekommt man im wahren Leben niemals zusammen.