Die originellste Nebenwirkung der Beatles: Klaus Beyer wird 70
Marc Ottiker über den berühmten Fan, den seine Faszination für die Lieder Band aus Liverpool zu einem Künstler werden ließ, der uns alle berührt.
Es ist ein herbstlicher Montag im West-Berlin des Jahres 1969. Lord Knud moderiert im RIAS die Sendung „Schlager der Woche“, und in Kreuzberg, direkt beim Kottbusser Tor, sitzt ein 17-jähriger Teenager vor dem großen Möbel-Radio in der Wohnung, in der er mit seiner Schwester aufgewachsen ist. Er ist seit seiner Kindheit begeistert von Popmusik jeglicher Coleur. Im Wohnzimmer dieser Zweizimmer-Wohnung geht dem Hören von Lord Knuds noch in deutsch- und englischsprachige Nummern aufgeteilter Hitparade, ein mehr oder weniger heftiges Ringen mit dem gänzlich uninteressierten Vater voraus, während der Mutter schon seit längerem auffällt, dass das Kind unentwegt aufgeschnappte Melodien nachsingt. An jenem Montag präsentiert Lord Knud zum ersten Mal überhaupt zwei Titel eines Acts in seiner Sendung. „Here Comes the Sun“ und „Oh! Darling.“. Die Beatles haben gerade „Abbey Road“ veröffentlicht, und der junge Klaus Beyer ist elektrisiert. Natürlich kennt er die Beatles bereits. Dass Lord Knud nun aber gleich zwei Songs von ihnen spielt, bevor er sich mit dem berühmten „Oki Doki“ verabschiedet, beeindruckt ihn doch sehr. Als Klaus ein paar Tage später „I Want You (She’s So Heavy)“ hört, ist für ihn klar: Er ist jetzt Beatles-Fan. Und das erfordert aus seiner Sicht in erster Linie, diese Songs aufzuschreiben, um sie dann auch singen zu können. Dafür muss das Album bei Radio Bernd, dem Elektronik- und Plattenladen an der Adalbertstraße, erstanden werden. Danach gilt es, die Songs sorgsam mit Bleistift auf Papier zu transkribieren. Klaus Beyer besitzt die Erstausgabe von „Abbey Road“ heute noch und diese Aufzeichnungen dürfen wohl als Keimzelle eines der außergewöhnlichsten Kunstprojekte überhaupt gelten; die Klaus-Beyer-One-Man-Factory ist geboren.
Klaus Beyer erblickt 1952 in West-Berlin das Licht der Welt, seine Schwester Monika sieben Jahre später. Die Eltern gehören zu dem nun auch im Westen gedeihenden Proletariat. Man arbeitet in einer der Fabriken am Rand der Stadt, belegt zu viert oder mehr Wohnungen mit zwei oder höchstens drei Zimmern, bewegt sich im grauen Einerlei der Frontstadt, zehrt dann lange vom Besuch eines US-Präsidenten, der sogar auf Deutsch beteuert, einer von ihnen zu sein, und ist in erster Linie damit beschäftigt, einen bescheidenen Lebensunterhalt aufrecht zu erhalten. Dieser Generation steckt der Krieg, dessen Narben in Berlin allgegenwärtig sind, noch tief in den Knochen. Es sind ihre Kinder, die mit dem Rock’n’Roll im Rücken gegen die bleierne Bodenhaftung der Nachkriegszeit aufbegehren. Die Farbtupfer der aus den Radiogeräten perlenden Popsongs, werden von ihnen begierig aufgesaugt wie die frische Tinte vom Fließblatt.
Klaus Beyer belässt es nicht bei den Notaten. Nachdem seine Mutter sich wundert, warum er nur noch Englisch singt, beschließt er, die Songs nach Feierabend – er ist gelernter Kerzenwachszieher – ins Deutsche zu übersetzen. Um seinen deutschen Gesang mit Musik untermalen zu können, entwickelt er, lange bevor man hierzulande das Wort „Karaoke“ zum ersten Mal hörte, mit Hilfe eines handelsüblichen Tonbandgerätes eine ureigene Cut-Off-Technik. Taktweise nimmt er die Instrumentalpassagen der ausgewählten Stücke hintereinander auf und benutzt den so entstandenen Soundteppich als Playback Grundlage für seinen Gesang. Das alles geschieht in stundenlanger Kleinarbeit, wird präzise, Takt für Takt umgesetzt. Seine Mutter und Schwester sind sein einziges Publikum. Nachdem er 1978 zwei Häuser von der elterlichen Wohnung entfernt eine eigene kleine Wohnung bezieht und er von seinem Vater eine Super-8-Kamera geschenkt bekommt, beginnt er, kleine, selbst gezeichnete Trickfilme zu produzieren, die er mit eigener Musik unterlegt. Auch malt, zeichnet und übersetzt er sich selbst immer wieder in das Beatles-Universum hinein, komponiert und produziert aber auch eigene Stücke und Geschichten.
Als Klaus Beyer die ersten vier Clips auf Geheiß der Mutter seiner Nachbarin Gabi Poschmann präsentiert, ermutigt sie ihn, seine Filme öffentlich zu zeigen. Wenig später präsentierte er sie erstmals im „Frontkino“ an der Waldemarstraße der (noch sehr kleinen) Öffentlichkeit. Das führt im Mai 1985 dann auch zu seinem ersten öffentlichen Live-Auftritt im „Trash“, dem Punk-Rock-Schuppen im Alten Kaufhaus am Oranienplatz. Bei „Die Sonne kommt“ wird er von einem zuverlässig zugedröhnt-ignoranten Publikum ausgebuht, was Gabi Poschmann zu dem Satz veranlasst: „Wenn ihr so weiter macht, kommt für euch keine Sonne!“ Danach ist Ruhe und der Grundstein der beachtlichen Bühnenkarriere von Klaus Beyer gelegt.
Für Klaus Beyer ist es offenbar selbstverständlich, dass sich seine Verehrung der Beatles in eigener künstlerischer Tätigkeit äußert, die ihn dann wiederum zu eigenen Werken inspiriert. Er ist nicht nur ein konsumierender Fan, sondern findet in der Auseinandersetzung mit der Verehrung zu einem eigenen künstlerischen Ausdruck. Diese Art der Aneignung ist tatsächlich tief bewegend. Die Präzision dieser Arbeiten – bei gleichzeitiger poetischer Unmittelbarkeit einer kindlich anmutenden Fantasie – eröffnet einen tiefen, direkten Einblick in das Herz des Künstlers. Mehr kann man von Kunst eigentlich nicht erwarten. Der Begriff „liebevoll“ in der Ausführung gerade des filmischen Schaffens, scheint da eher zu kurz gegriffen. Hier geht es, angesichts der zur Verfügung stehenden Mittel um geradezu übermenschliches Abstraktionsvermögen. Wenn etwa auf Papier ausgeschnittene und kolorierte Figuren in so vielen Variationen angeschnitten werden, dass sie sich, gefilmt im Stop & Motion Verfahren, dann fließend um die eigene Achse drehen, ist das in seiner Virtuosität genauso überraschend und lustig wie die Kreationen von „Wallace and Gromit“-Erfinder Nick Parks. Nur dass Klaus Beyer das alles auf dem Fußboden seines regelmässig dafür leer geräumten Wohnzimmers in einer kleinen Wohnung in Kreuzberg macht und dafür stundenlang zeichnet, malt, schneidet und singt, ohne sich darum zu kümmern, ob seine Filme und seine Musik je von jemand anderem als seiner Mutter und seiner Schwester gesehen oder gehört werden. Er muss das einfach machen. Er muss sich ausdrücken. Er wird über das Fan-Sein zum Künstler. Gibt es ein reinere und aufrichtigere Motivation?
In all den Jahren arbeitet Klaus Beyer immer weiter in der Wachswarenfabrik, wird jedoch von einem neuen Geschäftsführer genötigt, drei Jahre im Ostfriesischen Aurich zu arbeiten, wo sich die Fabrik niedergelassen hat. Als dem Chef zu Ohren kommt, dass Beyers Mutter sich über ihn in einem Film beschwert, wird er Mitte der 90er-Jahre gefeuert. Tatsächlich hat Klaus Beyer mittlerweile einen beachtlichen Bekanntheitsgrad erreicht. Der besagte Film heißt „Das andere Universum des Klaus Beyer“, stammt von Georg Maas und Frank Behnke und wurde 1994 im Fernsehen ausgestrahlt.
Es ist dieser Frank Behnke, der seit einigen Jahren das Management von Klaus übernommen hat, die zahlreichen Auftritte von ihm im ganzen Land organisiert und den stetig wachsenden Fanclub betreut. Klaus Beyer ist in der in den 90er-Jahren prosperierenden LoFi-Szene eine echte, hochgradig authentische Attraktion. Oft in einer „Sgt. Pepper“-Uniform steckend, performt er seine Stücke – nur mit dem Tonbandgerät an seiner Seite – in so ziemlich allen angesagten Clubs und Locations im deutschen Sprachraum. Von Leuten wie Françoise Cactus oder Christoph Schlingensief wird er verehrt und promotet.
Schlingensief baut Klaus Beyer dann auch in sein Panoptikum ein und macht ihn regelmässig zum Protagonisten seiner Inszenierungen und Filmen. Höhepunkt dieser Phase ist sicher der legendäre Abend in der Berliner Volksbühne, wo Klaus Beyer im Juni 1999 als Supporting Act von Jad Fair und Daniel Johnston ein umjubeltes Konzert gibt. Im Jahr zuvor lief seine Eigenkomposition „Die Glatze“ mit dem dazu gedrehten Video auf MTV. Ergreifend schließlich Klaus Beyers Auftritt 2008 in Schlingensiefs „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, einer Art Oratorium, in dem Schlingensief seine Krebserkrankung verarbeitet und Klaus Beyer über seinen jüngst erlittenen Schlaganfall und die Folgen Auskunft gibt.
Aus heutiger, von moralischer Normiert- und Borniertheit eingeengter und von digitalem Getöse sekundierter Sicht, wirken diese performativen Experimente in ihrer Epik und Aufwändigkeit wie aus einer untergegangen Epoche, in der eine große Freiheit, ein Überwinden von Grenzen, eine neue Einordnung von Wertigkeiten möglich waren. Die Karten wurden ganz analog neu gemischt und jedes daraus resultierende Spiel war überraschend und verblüffend. Klaus Beyer reiste mit der Schlingensief-Truppe um die Welt. Gefeierte Gastspiele in Brasilien, Namibia, Frankreich, Österreich oder Island. Ein ganz schön großer Radius für jemanden, der eigentlich nie vor hatte, Kreuzberg zu verlassen.
Am 8. Juli feiert Klaus Beyer nun seinen 70. Geburtstag. Zu seinen Ehren wird es am 13. Juli im Berliner Festsaal Kreuzberg, der wohl einzigen angemessenen Location für diesen Anlass, ein Konzert mit ihm, Anton & Gina d’Orio, Doc Schoko, Frieder Butzmann, dem Original Kreuzberger Nasenflöten Orchester u.v.a. geben. Auch ich darf zwei Songs beisteuern. Jörg Buttgereit moderiert.
Wir feiern damit Klaus Beyers Gesamtkunstwerk, mit dem eine Menschlichkeit ans Licht tritt, die wiederum ganz aus sich selbst heraus, vollkommen autonom und originär Schönheit, Fantasie, Verspieltheit feiert. Beyers Zugriff auf seine künstlerischen Möglichkeiten ist so unverstellt und unmittelbar wie dieses ganz große Gefühl, das womöglich wirklich die Welt anschiebt und alle Kräfte im Universum zusammenhält: die Liebe selbst.
Man kann über die Beatles unendlich viel sagen und ihnen sowieso über alle Maßen dankbar sein; aber eine ihrer schönsten Nebenwirkungen ist, einen Künstler wie Klaus Beyer hervorgebracht zu haben.