Die Onkels vom Mars
Sexy Außerirdische, interstellare Projektionen, Nackte und Ballons: Das große Hippie-a-Go-Go von Wayne Coynes Flaming Lips hat zum Glück auch gute Musik
München, Muffathalle: Hinterher, erste Impressionen: Sina und Sophia, beide blond, sagen übereinstimmend, sie hätten während des Konzerts der Flaming Lips an Körperstellen geschwitzt, von denen sie gar nicht gewusst hätten, dass man dort schwitzen kann. Und keiner habe versucht, sie auf eine Backstage-Party zu zerren. Zwei der zehn hübschen Publikums-Mädchen, die im Foyer von Assistenten der Band überzeugt wurden, in Go-Go-Außerirdischen-Kostümen auf der linken Bühnenseite zu tanzen- rechts die Weihnachtsmänner, auch mit tragbaren Scheinwerfern und der kleinen Pflicht, selbst dann für die Lips zu springen, wenn die Leute unten im Saal ruhen können.
Die Weihnachtsmänner sollen das Christentum symbolisieren, hat Sänger Wayne Coyne in der Mitte des Konzerts gesagt, die Aliens die Scientology, und die Opposition der zwei Parteien auf der Bühne sei – ein Moment politischer Unkorrektheit – ein Zeichen für den gleichberechtigten Streit der Weltanschauungen. Die meisten der gut 600 Zuschauer kennen die Flaming Lips aus Oklahoma wohl so gut, dass sie transzendente Show-Elemente dieser Art erwartet haben und sich nicht extra wundern.
Überraschend ist höchstens, wie wenig Geheimnis hier um die Zauberei gemacht wird: Kurz vor Beginn erklärt Coyne noch einem Arte-Kamerateam, für wie klein er den Einfluss von Drogen auf die Popmusik hält, setzt sich dann zu den anderen in den sonnigen Biergarten. Den letzten Soundcheck, vor längst gefülltem Haus, machen die Musiker selbst und verraten damit alle Verkleidungen, absichtlich. Dass alle Roadies Superhelden-Kostüme mit Schaumstoffmuskeln tragen, hätte sonst keiner gesehen. Am Ende ist es die alte Magie des Schultheaters: Die Flaming Lips gehen nach dem Check von der Bühne, es wird dunkel, und als sie mehr oder weniger sofort zum donnernden, mit Star-Wars-artigen Schrifttafeln kommentierten Intro zurückkommen, verwandeln sie sich schlagartig und rätselhaft in Wizards der Liebe, Supermänner des Glücks, Boten aus den Wolken. „Race For The Prize“ kommt mit sprudelnden Synthesizer-Walfontänen und dem Beat eines Zuckerwatte-Prügels, Konfetti und große Ballons regnen in die Halle, ein interstellarer Film flackert hoch. Das ist offiziell der beste Konzertbeginn aller Zeiten, ein paar der Bälle tanzen fast bis zum Schluss.
Und was Wayne Coyne da losgetreten hat, absolut mutwillig, wie könnte er das selbst wieder stoppen? Und wieso sollte er das wollen? Es geht in direkter Linie bis zu den Teletubbies, die bei „A Spoonful Weighs A Ton“ von der Leinwand winke-winken, hinüber aus dem Garten der Kindheit, in dem die Sonne wie ein Baby lacht. Die Musik ist natürlich großartig, doch ohne den Pan Tau im weißen Anzug wäre das nichts – Coyne bedankt sich tausendfach, erzählt von zwei Paaren, die sich in Köln live auf der Bühne die Ehe versprochen haben, und sieht hier im ungezwungenen Deutschland offenbar die Chance für den ganz großen Moment, als in der ersten Reihe der Muffathalle tatsächlich ein Mädchen und ein Junge alle Kleider von sich werfen. Bloß hinaufkommen wollen sie nicht.
Doch dann entscheidet der allerletzte Moment darüber, ob man dieses Konzert für Kitsch, verblümtes Hippie-Theater oder eine große, befreiende, orgasmatische Katharsis hält. Da kommt die Band noch einmal zur Zugabe – und spielt „War Pigs“ von Black Sabbath, eiskalt mit Großaufnahmen blutender Zivilisten und Granatenfeuer. Die Vertreibung aus dem Paradies, vom lieben Märchenonkel initiiert, der die Wahrheit doch nicht für sich behalten will. Draußen im Biergarten ist das Licht schon ausgegangen.
Im Übrigen werden während des Konzerts im hinteren Teil der Halle fünf Kinder geboren, und ein anwesender Richter begnadigt vor lauter Rührung spontan 15 total ungefährliche Strafgefangene. Nur für die Statistik.