Die modale Melancholie
Vor 50 Jahren nahm Miles Davis das einflussreichste Jazz-Album aller Zeiten auf: "Kind Of Blue".
Kaum ein Jazz-Fan, der seine zehn Lieblingsplatten nennen soll, wird diese eine auslassen. Fast jeder Promi, der gefragt wird, ob er auch Jazz möge, antwortet reflexartig: „Kind Of Blue“. Wer nur ein einziges Jazzalbum besitzt, besitzt dieses. Es ist die Referenzplatte des modernen Jazz – und sie hat auch den Sound der Popmusik nachhaltig geprägt. Der Jazz-Musiker und Pop-Produzent Quincy Jones sagte einmal: „Ich höre ‚Kind Of Blue‘ jeden Tag – das ist mein täglicher Orangensaft.“
Was ist so einmalig an diesem Album? Es heißt, mit dieser Platte habe der modale Jazz begonnen. Modaler Jazz – das bedeutet: Die Musiker improvisieren nicht mehr über Begleitakkorde, die nach einem bestimmten Schema wechseln, sondern sie spielen längere Zeit in einer gleich bleibenden Tonskala – eine Praxis, die übrigens in vielen Musikkulturen Asiens und Afrikas seit Jahrtausenden üblich ist. Mit dem modalen Spiel emanzipierte sich der Jazz von den Vorgaben der Songstruktur – und machte einen wichtigen Schritt in Richtung einer globalen Musikkultur. Miles Davis behauptete, eine Aufführung des „Bailet Africaine“ aus Guinea habe ihn auf die modale Spielweise gebracht: Jedenfalls war ich völlig weg, als ich das .Ballet Africaine‘ sah. Ich wollte es nicht kopieren, aber es lieferte mir ein Konzept.“ Der südafrikanische Trompeter Hugh Masekela meint gar, aus „Kind Of Blue“ „starke kongolesische Anklänge“ heraushören zu können.
Den modalen Jazz erfunden hat die Platte dennoch nicht. Schon ein Jahr vorher hatte Miles Davis mit dem Stück „Miles(tones)“ das modale Konzept erprobt. Und noch einmal fünf Jahre vorher war ein in Musikerkreisen viel beachtetes Theoriewerk des Jazz-Komponisten George Russell erschienen, das sich mit der bestklingenden Umsetzung von Tonskalen beschäftigt: „Lydian Chromatic Concept Of Tonal Organisation“. Was er von Russell gelernt hatte, fasste Miles Davis – etwas eigenwillig-so zusammen: „George Russell sagte immer, dass in der modalen Musik das C an der Stelle vom F steht.“ Andere Arrangeure arbeiteten ebenfalls schon mit dem modalen Konzept – etwa Gil Evans, der imjahr vor „Kind Of Blue“ für ein Solo von Miles Davis auch „nur eine Skala, keine Akkorde“ als Vorgabe schrieb.
War „Kind Of Blue“ dann wenigstens das Album, das den modalen Jazz erstmals konsequent umsetzte? Man darf es bezweifeln. Das Eröffnungsstück „So What“ benutzt zwar nur zwei Tonskalen, die obendrein nicht harmonisch miteinander verwandt sind, folgt dabei aber ganz der konventionellen 32-taktigen Form, wie sie die Mehrzahl der damaligen Broadway-Songs verwendeten. Die beiden Tracks „Freddie Freeloader“ und „All Blues“ sind zwölftaktiger Blues mit einer deutlich reduzierten Harmonik, die auch aus der Zeit vor Swing und Bebop stammen könnte. An „Blue In Green“ ist ungewöhnlich, dass der Chorus zehn Takte hat und wie in einer unendlichen Schleife immer wieder in sich selbst mündet – ansonsten verwendet das Stück schulmäßige Harmoniwechsel.
Bleibt also nur noch „Flamenco Sketches“, das Stück, das – zumindest von der Idee her – den modalen Jazz tatsächlich am besten verwirklicht. Denn nur hier ist die Absage an ein Akkordschema auch wirklich mit einer Auflösung der Strophenform verbunden.
Stellen wir also noch einmal die Frage: Was ist das Besondere an „Kind Of Blue“? Der Erfolg des Albums verdankt sich offenbar nicht seinen modalen „Pioniertaten“, die so revolutionär nicht sind. Aufschlussreich ist ein Blick auf die Jahre nach „Kind Of Blue“. Miles Davis hat die „modalen“ Stücke „So What“ und „All Blues“ noch jahrelang im Programm seiner Bands gehabt, sie aber nie mehr so langsam gespielt wie auf dem Album, sondern sie vielmehr in Hochgeschwindigkeit hingefetzt. John Coltrane hat das modale Spiel zu ekstatischen 20- oder 30-minütigen Solo-Exkursionen gesteigert, in denen die Noten gleich bündelweise aus dem Saxofon zu hageln schienen. Auf „Kind OfBlue“ jedoch hören wir modalen Jazz noch im Zeitlupentempo: Das Album badet durchgängig in ballad moods. Nicht umsonst schafften es mindestens drei der fünf Stücke auch auf Singles in die Jukebox- als romantische B-Seiten.
Die Musik auf „Kind Of Blue“ besitzt in der Tat etwas Schlafwandlerisches, eine tranceartige Melancholie, ein durchgängiges „Junkie-Tempo“, wie es Quincy Jones einmal formulierte. Diese Verhaltenheit machte die Stücke – allen voran wieder „So What“ und „All Blues“ – nicht nur für jede Amateurband spielbar, sondern verlieh der Platte einen ungewohnt träumerischen Charakter. Die einen sprechen von angenehmer Hintergrundbeschallung, die anderen von der idealen Verführerplatte. Donald Fagen von Steely Dan empfahl sie geradezu als Aphrodisiakum: „eine Art Barry White für die damalige Zeit“. Geben wir es ruhig zu: Der Millionenerfolg von „Kind Of Blue“ verdankt sich keinen revolutionären Neuerungen, sondern einer stimmungsvollen Schlichtheit.
Das Erstaunliche ist nur, dass es Miles Davis gelang, gerade die beiden Heißsporne in der Band -John Coltrane und Cannonball Adderley – zu so viel Zurückhaltung zu bewegen. Miles selbst verriet einen Teil seiner Strategie: „Ich brachte nur einige Skizzen mit ins Studio, denn ich wollte die Spontaneität in der Musik erhalten.“ Mit anderen Worten: Es gelang ihm, durch ungewohnte Vorgaben und sparsame Information, die selbstverständliche Virtuosität seiner Mitmusiker zu erschüttern. Die Solisten konnten nicht auf bekannte Akkordfolgen vertrauen, sondern sahen sich mit zunächst fremd wirkenden Kirchentonarten konfrontiert.
„Bei der modalen Form musst du melodische Fantasie beweisen“, sagte Miles einmal. Das modale Konzept prägte „Kind Of Blue“ zwar, aber vor allem in der Funktion als Routine-Bremse. Man hört es förmlich, wie die Musiker tastend und vorsichtig unbekanntes Terrain betreten und von ihren Gewohnheiten Abschied nehmen. Es gab im Studio viele Patzer, viele neue Anfänge, denn Miles ließ ihnen keine Chance, sich in der Musik daheim zu fühlen. Die Taktart von „All Blues“ änderte er erst in letzter Minute von 4/4 zu 6/8. In „Blue In Green“, das in „normalen“ Akkordsymbolen notiert war, ließ er Cannonball, den Meister der Akkord-Modulation, gar nicht erst mitspielen.
Das Ergebnis: Sieben der besten, stilistisch originellsten Jazz-Musiker von 1959 stolperten hinaus auf die Oberfläche eines unerforschten Planeten – und schufen dabei einen ganz neuen Tonfall. George Russell nannte Miles‘ Solo in „So What“ eine der schönsten Improvisationen aller Zeiten. Doch diese Augenblicke fundamentaler, melancholischer Spontaneität – keiner von ihnen konnte sie wiederholen. Gerade das Vorläufige. Tastende, das einer improvisierten „japanischen Tuschezeichnung“ ähnelt, wie Bill Evans schrieb, macht die Besonderheit von „Kind Of Blue“ aus. Ein Glücksfall, geboren aus Miles Davis‘ Intuition. Er selbst war sein strengster Kritiker: „Mir ist da nicht das gelungen, was ich eigentlich wollte. Ich möchte nicht, dass man mich dieses Albums wegen mag.“ Ein Meisterwerk aus Versehen?
Auch wenn die beteiligten Musiker bald getrennte Wege gingen und wieder wesentlich heftigere Töne hervorbrachten, ging die besondere Melancholie von „Kind Of Blue“ nie verloren. Dafür sorgten schon all jene, die von diesem Album im Innersten berührt wurden und von der „Melancholie des Modalen“ nicht genug bekommen konnten. Vor allem „So What“ und „All Blues“ wurden Teil des Standard-Repertoires im Jazz, wurden aber auch von Fusion-, Soul-, Rock-, Blues- und Latin-Bands gecovert. Saxofonquartette spielten diese Stücke ebenso wie Brass Bands, und Sänger betexteten sie und machten sie zu eigenständigen Vokalnummern. Zahllose Jazz-Musiker begannen, in der tranceartigen „Kind Of Blue“-Stimmung zu schreiben.
Die atmosphärische Vibration von „Kind Of Blue“ liegt seit 50 Jahren eigentlich ununterbrochen in der Luft. Donald Fagen hörte den Einfluss des Albums in der Filmmusik der frühen Sechziger, Ben Sidran im TripHop und hypnotischen Drum&Bass der Neunziger. Der Saxofonist Pee Wee Ellis machte aus „So What“ den James-Brown-Hit „Cold Sweat“, Gitarrist Duane Allman begann unter dem Einfluss von „Kind OfBlue“. über stehende Akkorde zu improvisieren. Und Pink Floyds verstorbener Keyboarder Rick Wright wies darauf hin, dass die Akkordstruktur ihres Songs „Breathe“ direkt von „Kind Of Blue“ beeinflusst sei. „Nenn mir irgendwelche Musik, in der du nicht Anklänge daran findest“, sagte Herbie Hancock. „Ich höre es überall.“