Die Melancholie nach der Revolte
Der Film macht keine Umstände, sondern springt einfach mitten hinein: Eine Schulklasse, 16-, 17-Jährige, Philosophie-Unterricht ,und während ein Schüler ein "A" in den Tisch ritzt und einen Kreis darum, zitiert der Lehrer Blaise Pascal, das Leben sei zerbrechlich und doch das einzige, was wir haben, jenseits des Himmels. Und dieses Himmelreich bleibe denen verschlossen, die nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaubten. Anarchismus und Pascal, das ist schon eine gute Kombination für den Anfang.
Dann Schnitt. Eine Demonstration. „Wir überwachen die Polizei“, glauben die Schüler, brüllen „CRS – SS“, und die Compagnies Républicaines de Sécurité nehmen diese Rufe als Aufforderung und prügeln auf die Schüler ein. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen und will es kaum glauben, doch alles hier ist belegt. Man muss eben, um einen Aufstand zu verstehen, auch verstehen, gegen wen er gerichtet ist.
Dieser Aufstand, das ist der revolutionäre Mai 1968, in dem die europäische Studentenrevolte in Frankreich auch die Fabriken erreichte und auf bürgerliche Kreise überschwappte: Die Arbeiter gingen angeführt von der kommunistischen Gewerkschaft CGT auf die Straße, Charles de Gaulle wurde aus dem Élysée-Palast vertrieben, und für einen Augenblick stand alles auf der Kippe, schien alles möglich.
William Klein, heute vor allem als Fotograf berühmt, hat diesen Moment zu einer unvergesslichen vierstündigen Dokumentation verarbeitet: „Grands Soirs et Petits Matins“. Danach verpufften die Hoffnungen auf eine so rasche wie grundsätzliche Veränderung der Gesellschaft schnell. Die Utopien und das Unbehagen in der westlichen Kultur aber blieben, und von dieser Generation, die knapp zu spät kam für die Revolte, erzählt Olivier Assayas in „Après Mai“, der in Deutschland den Titel „Die wilde Zeit“ erhalten hat.
Wir sprachen kurz nach der Premiere des Films im spanischen San Sebastián. Draußen gingen die Leute auf die Straße, um gegen die Sparpolitik der Regierung zu protestieren, gegen Entlassungen und wachsende Arbeitslosigkeit, vor allem aber gegen fehlende Perspektiven.
„Die Ereignisse hier erinnern mich sehr an meine Jugend“, sagte Assayas. „Die Alten hatten damals abgewirtschaftet. Es gärte, vor allem unter den Jungen, zugleich war da viel Chaos und Widersprüchlichkeit. Man glaubte wirklich, dass die Revolution unmittelbar bevorstünde, dass alles möglich sei. Es gibt keinen Film, der diese Stimmung besser einfängt als der Dokumentarfilm von William Klein. Das ist faszinierend und macht einem doch auch Angst. Denn da ist viel Gewalt in der Luft.“ In Paris hätten die Autos gebrannt, und wenn man gerade am falschen Ort war, hätte passieren können, dass man zusammengeschlagen wurde, so Assayas. „Das ist, glaube ich, das, was heute am schwersten vorstellbar ist: diese Gewalt. Und sie machte einen auch skeptisch. Es war jedem klar: Alles ist möglich, aber das ist auch gefährlich.““Grands Soirs et Petits Matins“ sei in seiner Mischung aus Hoffnung und Bedrohung, aus Begeisterung, Aufbruch und Enttäuschung die Geschichte seiner eigenen Jugend und damit einer ganzen Generation.
Assayas weist auf die Herkunft seiner Mutter hin. Die ist Ungarin und emigrierte erst nach dem gescheiterten Ungarn-Aufstand nach Paris. „Insofern hatte ich auch die Erfahrung des Scheiterns in mir drin. Und die Skepsis gegenüber den kommunistischen Hoffnungen. Vielleicht ist dies ein kleiner Unterschied zu manchen meiner Altersgenossen.“
„Die wilde Zeit“ setzt 1971 ein und porträtiert eine Gruppe junger Schüler aus gutem Haus. Sie wollen für die Weltrevolution kämpfen, ihre Freiheit in jeder Hinsicht auskosten, und sie wollen Künstler werden. Im Zentrum steht Gilles, eine Art Alter Ego des 1958 geborenen Regisseurs. Gilles‘ Vater ist wie der von Assayas Drehbuchautor, und auch Gilles geht am Ende zum Film. Davor wird er (und wir mit ihm) Augenzeuge der vielen Facetten der Bewegung, die auf den überschäumenden Pariser Mai folgten. Das Politische differenzierte sich aus, individualisierte sich, und in der bis heute beliebten Formel von der Politisierung des Privaten steckt die Privatisierung des Politischen: durch „Bewußtseinserweiterung“ auf Drogentrips und Indienreisen, durch sexuelle Revolution und Feminismus, durch Musik und Kino als Medien der erwarteten Befreiung. „Für mich war die Musik dieser Jahre eigentlich wichtiger als das Kino“, so Assayas. „Das Kino war mit meinem Vater und seinem Beruf verbunden; Musik aber war wirklich etwas völlig Neues.“
Gilles hört Booker T. & the M.G.’s, Captain Beefheart und Tangerine Dream, er begegnet Frauen mit braunen, etwas zu langen, etwas zu vollen Haaren und großen Rehaugen – ein Schönheitsideal der Epoche. Gilles liest Simon Leys‘ „Maos neue Kleider“, eine enttäuschte Abrechnung mit der chinesischen Kulturrevolution -was eine schöne Lüge ist, denn erst 1980 wurde dieses Buch bekannt, oder auch eine fragwürdige politische Anbiederung beim heutigen Publikum.
„Eine Revolution ist keine Dinnerparty“, sagte Mao, und Assayas zeigt, dass der Große Vorsitzende hier zumindest recht hat. Der untergründige rote Faden ist die Gewalt, die vielleicht mit schuld ist am Scheitern größerer Träume. Er zeigt, wie ein Graffiti in eine Gewaltspirale mündet: Molotowcocktails werden geworfen, Sicherheitsleute prügeln mit Eisenstangen, am Ende liegt ein Mensch im Koma.
Auch in diesem schleichenden Übergang von legitimem Widerstand zu illegitimem Terror erinnert der Film an Assayas‘ letzte Zeitreise in seine eigene Vergangenheit der 60er-und 70er-Jahre: das Terrordrama „Carlos“. Der Film schlägt sich nicht überdeutlich auf irgendeine Seite, nimmt keine Schuldzuweisungen vor. Es ist auch eher Ansichtssache der Figuren, was man eigentlich ganz genau für eine Revolution hält -und ob man etwas von ihr hält natürlich auch. Eine der Differenzen, die hier eher verhandelt wird, ist die zwischen Subjektivität und Individualität. Diese Jugendlichen, dargestellt von einem ganzen Dutzend bezaubernder unbekannter Jungschauspieler, sind subjektiv, aber nie individualistisch. Das heißt: Sie kapseln sich nicht ab von der Gesellschaft, sondern finden in sich das Allgemeine.
Manchmal wirkt das wie ein Film von Philippe Garrel, demjenigen unter den französischen Regisseuren, denen man die Liebe zur Jugend und die Post-68er-Melancholie am meisten anmerkt. Assayas erzählt fragmentarisch, reiht Momentaufnahmen aneinander. Erst in der letzten halben Stunde erinnert alles mehr an Truffaut, weil Assayas dann doch die Figuren noch etwas von Plotpoint zu Plotpoint zusammenführt. Grundsätzlich ist seine Auffassung von gutem Kino auch eher musikalisch: „Kino ist für mich kein Mittel der Information, noch nicht mal der Kommunikation, es ist eine Form der Kunst, und seine Wirkung ist daher dialektisch Ich will den Blick des Zuschauers nicht lenken.“ Einmal wird Gilles von einem Genossen klargemacht, dass sein Dasein als Künstler ihn zum Außenseiter stempelt: „Kunst, das ist Einsamkeit. Du bist außerhalb des Kampfes.“
„Après Mai“ ist ein ungemein berührender, packender und zugleich luftig und charmant inszenierter Film, der davon erzählt, wie Idealismus in Melancholie münden kann, wie die Träume der Jugend verblassen. Gilles macht die Erfahrung, allein zu sein, denn am Ende gehen alle ihrer Wege. Diese Kinder von Marx und Coca-Cola glauben nicht an Gott, nicht mal so wie Pascal, aber sie glauben an Bildung, an das Kino und an die Freiheit. In ihrem Pathos des Lesens, des Lernens liegt einer der größten Unterschiede zu heute: Welcher Schüler kauft sich schon am Morgen fünf Zeitungen?
Hier liegt die besondere Stärke und gegenwärtige Bedeutung des Films: Assayas ruft uns eine Epoche ins Gedächtnis, in der die Menschen kein Internet und kein Smartphone hatten, dafür viel Zeit, nicht nur zum Lesen. Man experimentierte mit sich selbst: mit Sex, Drogen, man rauchte; niemand trägt hier Helm, Sicherheitsdenken galt als reaktionär, spießig oder als einfach dumm. Auch die Eltern spielen für diese Jugend einfach keine Rolle. Großartig!
Vielleicht ist ja etwas dran an der Überlegung, dass wir etwas von dieser Generation lernen können. Nicht nur, aber auch, dass Sicherheitsdenken und Dummheit zusammengehören. Denn -siehe Pascal -nichts ist sicher, außer der Tod. Und so erzählt Assayas nicht nur indirekt, was uns heute fehlt, weil wir es vergessen haben, er zeigt uns auch, dass nichts so sein muss, wie es heute ist, dass alles anders sein kann und irgendwann anders sein wird.