Die Mauer der Angst stürzt ein

Die Meldung von der Selbstverbrennung des Tunesiers Mohamed Bouazizi am 4. Januar 2011 rüttelte die schlafenden Seelen von Millionen Menschen in den arabisch geprägten Ländern wach, die sich mit dem Leben unter einer Diktatur abgefunden hatten. Kaum hatten die Demonstrationen die Hauptstadt Tunis erreicht, waren auch meine Freunde in Syrien in den sozialen Netzwerken im Internet sichtbarer und aktiver geworden. Ein verheißungsvolles Gefühl kitzelte die Fantasie einer jungen Generation, die ihre Tage immer mit dem Betrachten der allgegenwärtigen Porträts des Präsidenten und dem Skandieren der Parteiparolen beginnen musste.

Der erste Marsch der Ägypter zum Tahrirplatz in Kairo – vor ziemlich genau einem Jahr – bedeutete, dass die tunesische Revolution kein unwiederholbares Ereignis war. Zum ersten Mal verkörperte der Begriff „Tahrir“, zu deutsch „Befreiung“, nicht die Vertreibung einer Fremdmacht, sondern den Rückgewinn des eigenen Landes, zurück von einheimischen Diktaturen.

Als Nächstes erhoben die Libyer sich gegen den „großen Bruder und Führer“ Gaddafi. Als der seine Kriegsmaschinerie gegen die eigene Bevölkerung einsetzte, erschien an einem Abend eine Handvoll junger Leute mit angezündeten Kerzen vor der libyschen Botschaft in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Ein Student brach das Schweigen und ließ einen Satz ertönen, der später zu einer der wichtigsten Parolen des syrischen Widerstands wurde: „Wer sein eigenes Volk tötet, ist ein Verräter!“ Ein nervöser Polizeioffizier erwiderte: „Ihr Hunde, tut nicht so, als ob ihr gegen Gaddafi demonstrieren wollt! Ihr wollt nur dieses Land kaputt machen.“

Es seien mehr als 60.000 Saboteure, die das Land destabilisieren wollten, daher müsse man hart gegen sie vorgehen, sollte der syrische Präsident Baschar Al-Assad in seiner Rede nach dem Aufbruch der Proteste verkünden. Der Facebook-Austausch mit meinen Freunden und Bekannten in Syrien nahm Anfang März 2011 zu. Es ging um die Festlegung des Tages, an dem die Proteste beginnen sollten. Am 14. März erfuhr ich von einem Freund, dass man sich für den folgenden Tag entschieden hatte. Ein paar Dutzend Frauen und Männer demonstrierten dann tatsächlich auf dem Al-Hamidiyah-Markt und verursachten mit ihrer vielsagenden Parole „Ab heute gibt es keine Angst mehr“ den ersten Riss in der Mauer der Angst, die das Regime seit 1963 in den Köpfen und Seelen der Menschen errichtet hatte.

Ich wurde von da an wie viele andere Exilsyrer unverhofft zum Internetaktivisten für die Revolution. Ich erfuhr Termin und Ort der schon für den nächsten Tag geplanten zweiten Kundgebung und teilte das meinem in Damaskus lebenden Onkel mit, damit er mehr Menschen mobilisieren konnte. Als ich ihn am nächsten Tag anrief, um Informationen über den Verlauf der Kundgebung zu bekommen, ging er nicht an sein Handy. Kurze Zeit später war es abgeschaltet. Mein Verdacht bestätigte sich: Er war auf der Kundgebung festgenommen worden. Später erfuhr ich, dass er „eine Portion Folter mehr“ bekam, weil man eine ausländische Telefonnummer auf dem Display festgestellt hatte – meine.

Die Proteste weiteten sich auf große Teile des Landes aus, und die Strategie des Regimes, mit unbeschreiblicher Brutalität gegen die Zivilbevölkerung vorzugehen und so die Mauer der Angst wiederherzustellen, scheiterte kläglich. Stattdessen rufen die arabischen Syrer bei den Protesten „Azadî“ (auf Kurdisch: „Freiheit“): Syrien spricht endlich die Sprachen seiner Bürger und nicht die Sprache seines Peinigers.

In den folgenden Monaten wurde ich über Skype Zeuge davon, wie sich junge Menschen von ihren Angehörigen verabschiedeten, bevor sie auf die Demos gingen. Viele von ihnen wurden festgenommen, mehr als 6000 Menschen bezahlten ihren Einsatz für ein Leben in Würde und Freiheit mit dem eigenen Leben. Als Tunesien und Ägypten die ersten freien Wahlen erlebten, wurden die Syrer noch sicherer, dass auch sie es schaffen können. Mein Onkel wurde nach seiner Freilassung erneut gesucht, hielt sich mehrere Monate versteckt und flüchtete dann in die Türkei.

Auch wenn die Diktatur noch nicht endgültig besiegt ist, haben die Syrer trotzdem schon den Grundstein für ihre Zukunft gelegt, denn sie haben den Weg zueinander und in die aktive Politik gefunden. Die Demonstrationen gehen weiter. Die Mauer der Angst baut sich weiter ab.

Ferhad Ahma, 37, ist Grünen-Politiker in Berlin. Im Dezember 2011 wurde er dort in seiner Wohnung zusammengeschlagen. Es gibt Hinweise darauf, dass der syrische Geheimdienst mit dem Überfall zu tun hat.

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