Die kleinen Prinzen
Die neuen deutschen Musikidole Tim Bendzko, Philipp Poisel und Tiemo Hauer sind jung, männlich, hübsch. Und oft ganz schön gefühlsduselig. Woher kommt ihr unglaublicher Erfolg?
Er war zehn Jahre alt, als er sich zum ersten und letzten Mal vom Scheinwerferlicht blenden ließ. Im November 1995, als Michael Jackson bei „Wetten, dass …?“ auftrat und der kleine Tim Bendzko ihn in Berlin-Köpenick im Fernsehen sah. Jackson liebte er sowieso, und dann brachte der auch noch den „Earth Song“, das Lied über die gequälte Erde, die stärkste denkbare Klimax: Michael Jackson schwebte auf der Hebebühne, ließ sich Nebel zwischen die Beine blasen, zerriss sein weißes Unterhemd in zwei Hälften. Unfassbar geil!
Tim musste das nachmachen. Die CD lief im Kinderzimmer, er zerriss das Hemd, wieder und wieder. Er hatte im Schrank extra einen Stapel weißer T-Shirts gesammelt, die er mit der Schere oben einschnitt. Als sie aufgebraucht waren, war er alt genug. Für die wahre Musik.
Und heute, mit 26 und mit blonder Krause, ist Tim Bendzko selbst der überraschende Popstar. Hat einen exzellenten Lauf und konnte mit „Nur noch kurz die Welt retten“ den deutschen Hit des Jahres 2011 landen: seinen ganz eigenen „Earth Song“, über den Möchtegern-Superhelden, der noch „148 Mails checken“ muss und keine Zeit für seine Freundin hat. Bendzko hat das Xavier-Naidoo-Beben in der Stimme, das in Deutschland immer Soul und Verbindlichkeit bedeutet, trotzdem (oder deshalb) ist ihm der Ohrwurm für die launische junge Kundschaft geglückt: „Nur noch kurz die Welt retten“ wurde über 300.000-mal gekauft, irgendwann standen sein Album und die zwei Singles alle gleichzeitig in den Top Ten, im September gewann Bendzko – mit dem linguistisch interessanten Titel „Wenn Worte meine Sprache wären“ – Stefan Raabs Bundesvision Song Contest. Zehn Minuten nach Ende der Show hatte er 5.000 neue Facebook-Fans.
Aber das reicht noch nicht für alle. Philipp Poisel, ein 28-jähriger, zerbrechlicher Schwabe mit Gitarre, verkaufte 2011 seine 26-Städte-Tour aus, 50.000 Karten. Poisels Platten „Wo fängt dein Himmel an?“ und „Bis nach Toulouse“, „Losgelassen“ von Tiemo Hauer, dem blonden Traumtypen am Klavier, „Boxer“ von Johannes Oerding, Bosse oder Andreas Bourani hören nicht nur heimlich die dicken, traurigen Mädchen und Mütter – diese Musik ist zu einer sehr öffentlichen, radiofrischen Angelegenheit geworden, Chanson-Folk, verkörpert von jungen, lockigen Songwritern, die Soap-Darsteller sein könnten und oft mit diesem seltsamen Ernsthaftigkeits-Akzent singen, der klingt, als wären sie Ausländer mit guten Deutschkenntnissen.
Natürlich sind auch Frauen dabei, Alin Coen oder Naima Husseini, aber nach der seltsamen deutschen Welle mit Sängerinnen-Bands à la Wir sind Helden ist es die größere Überraschung, dass da plötzlich so viele junge Männer sind, die sich alle ähnlich sehen und mit Anfang, Mitte 20 Zeilen singen wie „Hab mich noch nie so frei gefühlt, um so bedingungslos zu lieben/ Wir sind zusammen weggefahr’n/ Und ich bin trotzdem hier geblieben.“ Hunderttausende lieben das. Wer eigentlich?
Berlin-Mitte, Kulturkaufhaus Dussmann, der größte Musik- und Buchladen der Stadt. Um 20 Uhr soll im Veranstaltungsraum das Konzert von Tim Bendzko beginnen, schon um 19 Uhr geht die Schlange durchs ganze Erdgeschoss bis auf die Straße. Ältere Männer, Quengelkinder, Jungs mit Rucksäcken, Pärchen, Gruppen von Kapuzenpulli- und Anorakmädchen, die TUC-Kräcker essen. Keiner von ihnen wird mehr reinkommen, der Saal ist voll.
Stichproben ergeben: Die meisten kennen Bendzko aus dem Radio oder aus der YouTube-Empfehlungsleiste, viele haben sich die CD trotzdem nur gebrannt, halten Lady Gaga für zu aufdringlich, Britney Spears für Teenie-Müll, sogar die Teenies selbst. Das Übliche. Viele hören auch Poisel, Bosse und Clueso, alle finden vor allem die Texte gut. „Wenn Tim Bendzko über Gefühle singt, spricht er sie nie direkt aus, sondern mehr so …“ sagt eine hübsche 15-Jährige im hellen Trenchcoat, „… so lyrisch durchfächert!“, ergänzt die Freundin. „Die Songs haben sicher auch eine tiefere Botschaft“, meint ein 18-jähriger Junge im Britpop-Look, „wenn man nur mal länger drüber nachdenken würde.“ Ist Bendzko der neue Dylan? „Kann man noch nicht sagen.“
Der Künstler selbst lädt dann an einem Sonntagmorgen zum Gespräch, in einem Café in Friedrichshain. Trinkt eine laktosefreie Latte, wirkt ansonsten erstaunlich streetwise und lebenstüchtig, ein Berliner-Schnauze-Typ. Später hat er noch ein Telefoninterview beim Radio, das so klingen soll, als sitze er im fahrenden Auto, dafür muss er im neuen Wagen (Dauerleihgabe von Audi) zumindest den Motor laufen lassen. Vor der Karriere hat Bendzko länger als reisender Autoversteigerer gearbeitet, davor wollte er Fußballer werden, ging aufs Sportgymnasium. Bis er merkte, dass er zu sensibel dafür war: „Weil ich zu viel darüber nachgedacht habe, was ich alles falsch machen könnte, wurde ich immer schlechter.“ Er macht keinen Hehl daraus, dass er sich nie sonderlich für Musik interessiert hat, bevor er selber welche machte. Dafür ist er ein Profi für Gefühle.
„Nur noch kurz die Welt retten“ dürfe man auf keinen Fall zu ernst nehmen, sagt Bendzko. „Das ist eindeutig ironisch! Das handelt davon, wie man sich immer ganz wichtige Sachen vornimmt und dann in Wirklichkeit totalen Schwachsinn macht.“ Aber glauben einige Sänger nicht wirklich daran, Welt retten zu können? „Ich bin das komplette Gegenteil. Wenn ich etwas an Musikern überhaupt nicht leiden kann, dann das: wenn sie bei fachfremden Sachen so tun, als wären sie Experten. Wenn sich Madonna hinstellt und so tut, als könne sie uns die Welt erklären. Wen interessiert’s? Die ist Sängerin!“ Vorwürfe, die Songs seien zu seicht, hört er ab und zu. „Das ist mir egal. Dann lass es meinetwegen Schlager sein! Es gibt ja auch guten Schlager, und das ist in Deutschland eine Marktlücke.“
Die Episode mit Michael Jackson erzählt Bendzko nur am Rande, aber vielleicht ist sie ja der generationstechnische Schlüsselfall. Als „Billie Jean“-Hottie und „Thriller“-Zombie haben die heute Mitte-20-Jährigen Jackson nie erlebt, nur als kruden Planet-Erde-Mystiker. Wie sieht die Welt aus, wenn man im Post-Millennium-Ennui aufgewachsen ist, mit Xavier Nai-doo und Charlotte Roche als Respektspersonen, „Neon“ als Schullektüre und Matthias Schweighöfer als James Dean? Klar haben alle gelernt, möglichst viel mitzunehmen, kurz runterzuladen, dann wieder zu löschen. Um eine echte Identifikationsfigur abzugeben, muss man heute aber kein bissiger Leitwolf oder Außerirdischer mehr sein. Auch wenn sich viele Jungs wohl lieber von Bushido und Sido, Verzeihung: in den Arsch ficken lassen würden, als sich von Philipp Poisel erklären zu lassen, dass man ein Mädchen gerade wegen seiner Fehler lieben kann.
Was der Erfolg der Boys uns über unsere Zeit sagt, weiß auf jeden Fall Thomas M. Stein, der ehemalige BMG-Chef und „DSDS“-Juror. „Es gibt einen wichtigen Grund, den man nicht unterschätzen sollte“, sagt Stein, der übrigens aus einem tatsächlich fahrenden Auto zu telefonieren scheint. „Die Leute wollen den Text verstehen! Wir tun immer so, als ob alle Anglizismen der Welt jedem geläufig wären.“ Junge Sänger wie Bendzko hätten außerdem den Vorteil, dass sie wie kohärente Charaktere erscheinen. „Ich vermute mal stark, dass vieles von dem, was sie machen, aus Eigeninitiative kommt. Die Gefahr wie bei Casting-Show-Gewinnern, die sich dann plötzlich selbst verwirklichen wollen, gibt es da nicht.“ Ist das der moderne deutsche Schlager? „Nein“, sagt Stein. „,Kurz die Welt retten‘ geht doch wesentlich tiefer als, Ein Bett im Kornfeld‘, oder?“
Hamburg-Altona, Stage Club. Auf dem Klo hängen Ankündigungsplakate der Ex-Casting-Sieger Alexan-der Klaws und Daniel Schuhmacher, die auf dem Weg in die Vergessenheit noch mal in der 600-Leute-Halle vorbeischauen. Beim Star des Abends, Tiemo Hauer, 21, aus Stuttgart, ist es andersrum: Als er im Mai 2011 hier spielte, war es halbvoll. Heute, ein halbes Jahr später, ist der Club ausverkauft. Von Bendzko-Dimensionen ist Hauer noch entfernt, sein Album hat die 10.000er-Auflage noch nicht erreicht, aber so sehen wohl diese gesund wachsenden Karrieren aus, von denen alle immer reden. Einen Vertrag bei der großen Universal Music lösten er und sein Manager nach vier Monaten wieder, als die Firma ihn zu peinlichen Sendungen wie „Tabaluga TV“ und der ZDF-„Herbstshow“ schickte. „Ich würde mich auch nie bei einer Casting-Show bewerben“, sagt der Künstler bei der Backstage-Zigarette, mit Sigur-Rós-T-Shirt und Soulmütze. „Da geht es um die Person und um sonst nichts. Das fand ich schon immer doof.“
Den ersten Auftritt mit eigenen Songs am Klavier hatte Hauer mit 18 bei einem Schulfest, jemand hatte ihn überredet. „Schon bei dem Konzert gab es Leute, die vorher nie mit mir geredet hatten und plötzlich mit Tränen in den Augen vor mir standen und sagten, wie geil sie das fanden. Um nichts anderes geht es bei Musik. Dass man dabei etwas fühlen kann.“
Eigentlich wollte Hauer Polizist werden, wie sein Vater. Als Schüler schauspielerte er, trommelte in einer Punkband. Und dann wird es gruselig. Mit sechs oder sieben, sagt er, habe er Michael Jackson im Fernsehen gesehen. „Earth Song“, zerrissenes Hemd, dann nachgespielt, mit eingeschnittenen Shirts. Bendzko und er kennen sich nicht, aber sie haben dieselbe Geschichte. Der Moment, als dem sogenannten King of Pop emotional die Lichter durch-brannten, ist das kollektiv Unterbewusste dieser jungen Songwriter.
Kürzlich hat Clueso, gewissermaßen Ahnvater der Boys, ein Duett mit Udo Lindenberg gesungen. „Cello“, das Generationentreffen, bei dem man auch deutlich hört, wie wenig die zwei am Ende zusammenpassen. Die Coolness Lindenbergs, dieses lurchhafte Beharren darauf, dass Worte nun mal seine Sprache sind, klipp und klärchen – nichts könnte den lockigen Sängern fremder sein. „Ich geh nur schlafen, um von dir zu träumen, ich geh nur aus, um dich nicht zu versäumen“, singen die vielen Mädchen später bei Tiemo Hauers Auftritt mit, unternehmungslustig laut, filmen dabei konzentriert mit den Handys, die Luft schwingt heftig. Hauer erzählt, wie in München ein Besucher während des Konzerts seiner Freundin einen Heiratsantrag machte, dann kommt „Ehrlich glücklich“, der Song über das herrliche Gefühl, sich von allem Karrieredruck und allen übertriebenen Ambitionen frei zu machen und ganz, nun ja: ehrlich zu sein.
Eine vor restlosem Glück leuch-tende 20-Jährige im roten Mantel sagt hinterher, sie habe erst durch Tiemo Hauer gelernt, dass man sich nicht mit den Mitmenschen messen müsse, dass auch Erfolglosigkeit okay sei. „Es ist doch so“, fasst sie zusammen: „Da baut man sich eine Scheinwelt auf, sagt: Alles ist super. Und dann verlässt einen der Freund. Und dann sitzt man zu Hause und hört Tiemo Hauer.“
Tatsächlich die Welt zu verändern – das wäre ja auch noch nie so verflixt schwierig gewesen wie heute. Vielleicht werden die jungen Helden, die Matthias Schweighöfers des deutschen Pop, deshalb so dringend gebraucht. Damit wir uns nicht zu viele Sorgen um unseren Ehrgeiz machen. Und diese Sehnsucht spüren. Wonach auch immer.