Die Katastrophe bei der Loveparade: Ein Tunnel ohne Ende
Am 24. Juli 2010 starben in Duisburg 21 Menschen, 500 wurden verletzt. Sie wollten bei der Loveparade feiern. Ein Jahr später sind die Schrecken noch längst nicht ausgestanden. André Boße über die privaten und politischen Nachwirkungen der Katastrophe.
„Als Oberbürgermeister dieser Stadt trage ich moralische Verantwortung für dieses Ereignis“, so Adolf Sauerland (CDU) am Montag (11. Juli 2011) in einer Ratssitzung. „Es ist mir ein persönliches Bedürfnis, mich an dieser Stelle bei allen Hinterbliebenen und Geschädigten zu entschuldigen.“ Der Zwischenbericht der Ermittlungen wegen der Katastrophe bei der Loveparade ist kurz vorher freigegeben worden. Laut diesem Bericht hätte die Techno-Party gar nicht genehmigt werden dürfen, sie sei rechtswidrig gewesen. Lesen Sie hier die Reportage aus unserem aktuellen Heft von André Boße.
Der Schmerz ist noch da, aber er lähmt nicht mehr. Sabine Siebenlist spricht über ihre Tochter Fenja, und ihre Stimme klingt fest und bestimmt. Sie muss auch nicht mehr nach Worten ringen, und manchmal strahlen sogar ihre Augen, so schön ist manche Erinnerung.
Vier Tage vor Fenjas Tod hatte sie ihre 23 Jahre alte Tochter zum letzten Mal gesehen. „Sie hatte eine neu zusammengestellte CD dabei“, sagt Sabine Siebenlist. „16 Lieder fürs Cruisen im Auto bei offenem Fenster.“ Songs von The National und Jan Delay, Marvin Gaye und Solomon Burke. „Ich fand die CD genial und wollte sie unbedingt auch haben“, erinnert sie sich bei einem Treffen in einem Gelsenkirchener Café. „Als wir uns damals verabschiedeten, stieg ich in meinen Wagen, legte sie ein, drehte voll auf und öffnete das Fenster. An einer Ampel stand Fenja mit ihrem Auto hinter mir, hörte ihre CD aus meinem Wagen und sang laut mit.“ Näher können sich Mutter und Tochter kaum sein. Danach trennten sich ihre Wege. Und zwar für immer: Vier Tage später war Fenja Siebenlist eines der 21 Todesopfer der Loveparade in Duisburg.
Die Katastrophe, die vor einem Jahr auf dem Gelände des alten Güterbahnhofs in Duisburg geschah, beschäftigt noch immer Juristen und Journalisten, Bürger der Stadt und Beobachter. Bis heute fällt es schwer zu verstehen, wie es zu der fatalen Kette von falschen Entscheidungen und Handlungen kommen konnte. Es ist und bleibt unwirklich: Dieser völlig unpassende Ort. Das groteske Sicherheitskonzept. Die Zahlen über Besucher, die nie stimmten und auch gar nicht stimmen sollten. Und noch immer ist nicht beantwortet: Wer trägt die Schuld? Der „Spiegel“ widmete dieser Frage eine Titelgeschichte, die 20 Namen nannte, die in irgendeiner Form schwerwiegende Fehler gemacht haben: Polizisten und Politiker, Beamte und Berater. Die Schuldfrage, so viel steht fest, lässt sich nur durch ein Puzzlespiel lösen. Doch bei diesem macht Sabine Siebenlist längst nicht mehr mit. „Für mich hat die Frage der Schuld schnell an Bedeutung verloren.“ Die Suche nach der Antwort verschwendet einfach zu viel von der Energie, die eine Mutter benötigt, wenn das eigene Kind bei einer Massenpanik erstickt.
Es galt zum Beispiel, die Beerdigung zu organisieren. „Vier Wochen vor Fenjas Tod starb ihre Oma“, sagt Sabine. Zum ersten Mal dachte die lebenslustige Studentin über den Tod nach und erzählte ihren Eltern, wie sie sich ihre Beerdigung vorstellen würde: Keiner kommt in Schwarz! Statt trockenem Butterkuchen Currywurst und Bier! Und als Musik keine Trauermärsche, sondern „Hey du“ von den Beatsteaks, „Walking In My Shoes“ von Depeche Mode und Grönemeyers „Mensch“. Sabine Siebenlist hatte milde gelächelt, als Fenja von diesen Dingen sprach, denn welche Mutter macht sich schon ernsthaft Gedanken über die Beerdigung ihrer 23 Jahre alten Tochter? Vier Wochen später stand sie dann zusammen mit der Familie und Freunden tatsächlich vor der Aufgabe, eine Beerdigung zu planen, wie Fenja sie sich gewünscht hätte. „Es war unwirklich“, sagt Friedrich Siebenlist, der Vater, der bei dem Treffen dabei ist. Jeder Gedanke zurück an diesen Tag raubt die Luft, doch am Ende bleibt ein Lächeln: „Es war, soweit dies möglich ist, ein schöner Abschied.“
Wenn Sabine und Friedrich von ihrer Tochter erzählen, ergibt sich schnell ein konkretes Bild dieser jungen Frau: Sie war jemand, die jeden Raum, den sie betrat, sofort mit ihrer Energie einnahm. War sie nachdenklich, sprach sie darüber. Wollte sie gut drauf sein, zog sie andere mit. Fenja feierte gern, wobei sie für eine gute Party unbedingt gute Musik brauchte. „Sie ging auf die Loveparade, weil sie einige der DJs hören wollte“, erklärt ihr Vater. Fenja wollte sich nicht wegknallen. Sie wollte nicht neben sich stehen, sondern mit Freunden zusammen sein. „So war das, wie ich heute weiß, bei allen, die dort zu Tode gekommen sind“, sagt Sabine. Sie hat über ein Angehörigen-Netzwerk Kontakt zu den anderen Eltern und erfahren, dass alle 21 ähnlich tickten: bodenständige, gebildete junge Menschen, die keines der Loveparade-Klischees erfüllten. Von denen hörte man dann sehr schnell, beim Bäcker, beim Plausch mit dem Nachbarn und sogar in einigen Medienberichten: Massenpanik bei der Loveparade? War doch abzusehen, da ist doch keiner bei Sinnen! Die Väter und Mütter, die gerade ihre Kinder verloren hatten, waren zwar wie gelähmt. Aber diesen Schlag in die Magengrube spürten sie doch.
Und es war nicht der letzte. Sabine Siebenlist möchte sich nicht beklagen. Schon gar nicht, was die politische Seite betrifft – sie unterbricht sich sofort, wenn ihr die Leute in den Sinn kommen, die die Idee zu dieser Veranstaltung an diesem Ort hatten. Kaum ein Wort über Adolf Sauerland, den Oberbürgermeister von Duisburg, der an seinem Stuhl klebt, keines über Rainer Schaller, den Veranstalter. Die Anfrage der Talkshowredaktion von Markus Lanz, sich mit beiden an einen Tisch zu setzen, hat sie sofort abgelehnt: „Was soll ich denen sagen, was sollen die mir sagen?“ Doch eine Sache liegt ihr auf der Seele, weil sie wie so vieles im Zusammenhang mit dieser Katastrophe bis heute unverständlich ist: „Man hat uns allein gelassen. Der Einschnitt in unser Leben war gewaltig. Wir waren blockiert. Wir hätten Informationen benötigt. Oder Hilfe bei Behördendingen.“
Bei der Loveparade starben auch junge Menschen aus anderen Ländern, aus Italien und Spanien, China und Australien. Über das Netzwerk der Angehörigen hat Sabine Siebenlist erfahren, dass die Eltern dort noch stärker litten: „Den Müttern und Vätern dort sind ohne weitere Informationen die Körper ihrer toten Kinder zugeführt worden.“
Vielen Eltern blieb nichts anderes übrig, als sich nach der Gewissheit, dass ihre Kinder tot sind, selbstständig im Internet auf Spurensuche zu begeben. Auch Sabine hat recherchiert, hat sich durch Clips auf YouTube geklickt, in der Hoffnung, noch einmal ihre Tochter zu sehen. Sie fand einen Film, der zeigte, wie Fenja ohnmächtig und wahrscheinlich schon tot aus der Masse gezogen wird. Ihre Mutterseele fand ein bisschen Frieden: „Ich wusste, dass sie nicht lange leiden musste. Und das war beruhigend.“
Ganz anders erlebte die Cousine eines anderen Opfers, ebenfalls eines Mädchens Anfang 20, die bewegten Bilder. „Es war schrecklich, die kurzen Fernsehausschnitte ungewollt gezeigt zu bekommen“, schreibt die junge Frau, die nicht namentlich genannt werden will. „Ich habe nicht verstanden, warum die Medien diese Bilder immer wieder zeigten – wie die Menschen verknotet vor dieser Treppe standen und um sich geschlagen haben, um für ihr Überleben zu kämpfen. Diese Bilder haben mich verrückt gemacht. Und sie machen es immer noch, weil ich immer wieder in der Masse meine Cousine suche.“ Für diese Angehörige heilt die Zeit nicht alle Wunden. Ein Jahr nach der Katastrophe, spürt sie, dass sich vieles angestaut hat, was nun endlich raus muss.
Fragt man Julius Reiter, was er vom Umgang der Verantwortlichen mit den Betroffenen hält, spricht der Rechtsanwalt von der Kanzlei Baum, Reiter & Collegen von einer „Katastrophe nach der Katastrophe“. Die Düsseldorfer Sozietät um den ehemaligen FDP-Innenminister Gerhart Baum vertritt mehr als 70 der insgesamt rund 500 Menschen, die in der Massenpanik am Fuße der Treppe schwer verletzt und traumatisiert worden sind. „Fest steht, dass es keine Alleinursache und somit auch keinen Alleinverursacher der Ereignisse gibt“, schätzt er die Schuld- und Haftungsfrage juristisch ein.
Bis zu einem Urteil werden möglicherweise noch Jahre vergehen – doch die Betroffenen, die Julius Reiter vertritt, haben schon jetzt keine Geduld mehr. „Viele sind bereits in psychiatrischer Betreuung, und noch mehr werden einen Psychologen aufsuchen müssen. Es stellt sich dann die Frage, wer die Kosten trägt.“ Immerhin: AXA, Versicherer des Loveparade-Veranstalters Lopavent, und die Stadt Duisburg haben Ende Mai in Aussicht gestellt, dass mit dem Schadenersatz für die Betroffenen nun begonnen werden soll; der Versicherungskonzern hat dafür zehn Millionen Euro zurückgestellt. „Wir werden diese Ankündigung an den Taten messen“, sagt Reiter – spart aber nicht mit Kritik: Die Vereinbarung sei getroffen worden, ohne dass die Opfer und ihre Vertreter einbezogen wurden. Ein Fehler und ein fatales Signal: „Wir wollen wissen, was in dieser Vereinbarung steht. Zur Katastrophe kam es, weil nicht offen über Mängel im Sicherheitskonzept der Loveparade gesprochen wurde. Und nun verhandeln Veranstalter und Stadt wieder hinter verschlossenen Türen.“
„Typisch“, sagt Janine Marsollek und schüttelt ihre dunkelblau gefärbten Haare. „Aber wenn sie jetzt kommen würden, um sich zu entschuldigen, wäre es ohnehin zu spät.“ Die Duisburgerin war 30 Jahre alt, als sie am Tag der Loveparade den ersten Schritt zurück in ein halbwegs normales Leben machen wollte. Drei Jahre zuvor war ihr Mann gestorben. Herzinfarkt nach einer verschleppten Grippe, völlig ohne Vorwarnung. Janine Marsollek war da gerade schwanger. Sie verlor den Boden unter ihren Füßen und das zweite Kind. Sie lebte mit ihrem ersten Sohn Kane von ihrer Witwen- und seiner Hinterbliebenenrente und litt an Depressionen.
Manchmal habe nicht viel gefehlt, um mit dem Leben abzuschließen, gesteht sie. Doch sie fasste wieder Fuß. Ihr Sohn gab ihr Kraft, dazu Freunde und die Musik. „Kein Techno“, sagt sie, die Piercings an Mund, Nase und Zunge legen eine falsche Spur. „Ich bin Rock’n’Rollerin. Stehe auf Heavy Metal, Sachen wie die Chili Peppers oder dunkles Zeug aus der Gothic-Szene.“ Dennoch ging sie am 24. Juli 2010 zur Loveparade. „Es sollte die erste Party nach dem Tod meines Mannes sein.“
Janine Marsolleks Weg endete an der Treppe auf der dramatisch überfüllten Rampe, die viele Menschen als einzigen Ausweg sahen. Sie war Teil der Massenpanik, sah Teenager um ihr Leben kämpfen, roch den Kot und den Urin der völlig entkräfteten Leute und lag irgendwann unter einer Menschenmenge begraben. Keine Luft mehr. Panik, Todesangst, Resignation. „Keiner, der das nicht selber erlebt hat, wird annähernd beurteilen können, wie sich das anfühlt“, sagt sie. Schließlich trug sie jemand aus der Masse, sie selbst hätte sich schon längst nicht mehr retten können. Die Diagnose: Rippenbrüche, eine Verletzung am Schienbein, ein zertrümmertes Knie – und ein Trauma.
Die junge Frau aus dem Ruhrpott wusste selbst vorher nicht, was es konkret bedeutet, an einem Trauma zu leiden. Jetzt weiß sie es: „Busse, Supermärkte, Wartezimmer – wo es eng ist, kann ich nicht mehr sein. Ich bekomme Panik, ringe nach Luft, fange an zu heulen.“ Dann hebt sie den Kopf und schaut dem Gegenüber in die Augen: „Doch es wird besser, ich komme aus dem Loch raus.“ Größere Probleme bereitet das Knie: Ihr Sohn Kane ist jetzt fünf. Er tobt gern auf Spielplätzen herum, seine Mutter ist eine 31 Jahre alte Frührentnerin und muss passen: „Die Muskulatur ist weg. Ich müsste sie durch hartes Training wieder aufbauen.“
Ärzte rieten ihr, regelmäßig ins Fitnessstudio zu gehen. Ein Anruf bei der Krankenkasse führte zu einem bizarren Dialog: „Wir können die Kosten für ein Fitnessstudio leider nicht übernehmen“, sagte dort eine Angestellte. „Aber die 40 Euro im Monat dafür habe ich nicht“, entgegnete Janine Marsollek, die sich als Loveparade-Opfer zu erkennen gab. „Es gibt doch diese McFit-Kette, da ist es günstiger“, riet die Frau der Krankenkasse.
Doch Aufgeben zählt nicht. Das ist sie ihrem Sohn schuldig und auch anderen Betroffenen, die noch nicht so weit sind, dass sie sich selber aus dem Loch kämpfen könnten. Für diese arbeitet sie im Vorstand des Vereins Massenpanik Selbsthilfe, den der Duisburger Jürgen Hagemann im Herbst 2010 gegründet hat. Hagemann ist Vater eines 16 Jahre alten Mädchens, das bei der Loveparade schwer verletzt wurde. Mit dem Verein kämpft er auch für eine Erinnerungskultur, die den Opfern gerecht wird. Die Stadt Duisburg hatte das Gelände des alten Güterbahnhofs schon im August 2010 an einen Investor verkauft; jetzt hat sie den Bebauungsplan so geändert, dass dort, wo 21 junge Menschen starben und mehr als 500 schwer verletzt wurden, der Parkplatz eines Möbelhauses entstehen soll. Der Verein kämpft nun dafür, dass Rampe und Treppe als Ort des Gedenkens und des Mahnens erhalten bleiben.
Ansonsten – da sind sich alle Betroffenen einig – muss sich in Duisburg und Deutschland einiges ändern. Im Gelsenkirchener Café wünscht sich Friedrich Siebenlist, dass „egal, wie groß eine Veranstaltung werden soll, jeder, der daran mitarbeitet, zu jeder Zeit an das Wohl jedes einzelnen Menschen denkt“. Und in ihrer kleinen Wohnung im Duisburger Stadtteil Friemersheim wünscht sich Janine Marsollek, dass sie es schafft, schon sehr bald wieder einen Abend mit lauter Musik und ihren Freunden verbringen zu können. Irgendwann muss ja auch mal die Glückssträhne beginnen.