Die Karriere kann warten. Michael Hall läßt sein Song-Talent im verborgenen blühen
Austin/Texas, „kleine priviligierte Insel“ der Kultiviertheit im großen Lone Star Stute. Hall hat sie hinter sich gelassen – die Stadt, die ihm in 18 Jahren zur Vertrauten wurde. Seit 1994 residiert er in einem polnisch-puertoricanischen Viertel von Chicago. Kaum angekommen, mußte Hall mitansehen, wie ein 11jähriger ein paar Gleichaltrige niedermähte, bevor er selbst erschossen wurde. „Es war wie in einem Gangsterfilm aus den 30er-Jahren“, erzählt der jungenhafte Songwriter, der Drogen-Kriege nur aus dem Fernsehen kannte.
Seinen Lebensunterhalt bestreitet Hall auch in Chicago mit Computer-Jobs sowie als freier Schreiber. Da darf er dann schon mal mit Rancher Willie Nelson ein langes Gespräch von Koryphäe zu Low-Budget-Musiker fähren, der so nebenbei „5000-Dollar-Platten“ (Hall) macht. Früher mit den Wild Seeds und Setters, heute im Alleingang mit befreundeten Musikern. Kein Gedanke an eine Major-Label-Karriere?
„Manchmal denke ich, ich sollte es versuchen – dann, daß es nur Ärger bringt.“ Dem, was die Amis einen Game Plan nennen, begegnet Hall mit Skepsis. Das sei „wie mit der Liebe: Du findest sie nicht, wenn du sie suchst.“ Und er verweist auf den texanischen Kollegen Jimmie Dale Gilmore, der auch jetzt erst vernünftige Major-Alben machen könne. Außerdem, so Hall lachend, sei es „einfach hart, mit 38 eine ganz neue Karriere zu starten.“ Immerhin: 1991 versuchte er sich zwei Wochen in Nashville, klopfte an Verlagstüren, traf sich zu den berüchtigten Co-Writing-Sessions, erlebte „eine gute Community“. Und entschied dann doch, daß „ich damit unglücklich wäre, weil das Business dort wichtiger ist als die Kreativität“ Offensichtlich aber war die Expedition ins Profitum Auslöser dafür, daß die düstere Introspektion seines Solo-Debuts „Quarter To Three“(90) auf ein gesundes Maß gestutzt wurde. Sein ’94er Album „Adequate Desvre feierte mit poppigem Impetus das Leben „in jedem Augenblick“ und konnte sogar dem Ende mit einem launigen „Hello, Mr. Death“ trotzen. „Day“ wiederum, das jüngste Oeuvre, entfaltet eher einen beklemmenden (Sur)Realismus: die Welt als „großes Huren-Mysterium“ – die USA ein Land, das seine Unschuld so beiläufig verlor wie John Doe aus Wyoming seine Auto-Schlüssel.
Konzentriert und konsequent hat Hall die Reduktion seiner Songsprache noch einmal vorangetrieben. Und damit das radikale Äquivalent zum 38(!)-Minuten-Opus „Frank Slade’s 29th Dream“ kreiert: Diese stream-of-consciousness-Orgie, die den Todestraum eines Veteranen aus dem spanischen Bürgerkrieg imaginiert, war „befreiend“ für einen eher „rationalen“ Songwriter. Ins Messer der Mißverständnisse aber lief Hall mit der heimlichen Slacker-Hymne „Let’s Take Some Drugs And Drive Around“ vom ’92er-Album „Love Is Murder“. Als Parabel über Fluch und Segen individueller Freiheiten ist „Let’s Take Some Drugs“ für Hall durchaus „ein politischer Song“. Er mache sich keine Illusion über eine „immer gewalttätigere“ Zukunft in den USA, will aber weiter an Clinton glauben, denn „alle großen Präsidenten mußten Kompromisse machen“.
Und wie wär’s mit Auswandern? Hall träumt kurz von Irland und einem kleinen Cottage, dann hat ihn die Realität wieder. Vorausgesetzt, er schlägt in Chicago wirklich Wurzeln, wird es vermutlich wieder 18 Jahre bis zum nächsten Umzug dauern.
Dann ist er 56. Und macht vielleicht endlich die Major-Platten, die er längst machen sollte.