die hoffnungsträger 2002 – Bloß nicht zuviel erwarten: Nach dem großartigen Musikjahr 2001 gibt es immerhin zwei neue Alben von Tom Waits, nur eines der Pet Shop Boys – und ein 40-jähriges Jubiläum
Auf dem Klo einer Gaststätte traf ich neulich nachts den Sänger einer bekannten deutschen Rockgruppe. Ich wollte unverbindlich sein und fragte nur, ob er auch in der kommenden Woche zu einem Konzert gehen würde, das die Menschen meiner Stadt seit Wochen gierig erwarteten. Da brach es aus ihm heraus, ein Monolog voll tief empfundenem Ekel, der offenbar lange darauf gewartet hatte, gehalten zu werden: Nein, die Band kenne er gar nicht, die interessiere ihn auch nicht. Überhaupt, Musik, das sei vorbei für ihn. Er werde in Zukunft nur noch Ausstellungen besuchen.
Zuerst hielt ich das für betrunkenes Gerede, wurde aber misstrauisch, als ich ähnliche Bekenntnisse immer wieder hörte. Ein Freund, der früher in langen Telefongesprächen die B-Seiten von Belle And Sebastian mit mir diskutiert und die besten Heinz-Rudolf-Kunze-Songs über den Hörer vorgespielt hatte, empfahl mir ein neues Rezept für den richtigen Konsum: eine Viertelplatte am Tag hören. Auf eine Viertelplatte kann man auch verzichten. Die Zukunft der Musik im Jahr 2002 wäre demnach: gar keine Musik mehr.
Manche Leute leiten diese Einstellung aus einem Lied ab, das im Jahr 2001 auf einer Schallplatte des Sängers Peter Licht erschienen ist: „“Meide die Popkultur, dann geht’s dir besser/ Die Popkultur, die Popkultur ist nicht gut für uns.“ Gerne würde ich die Herrschaften, wie der Geist in Dickens‘ Weihnachtsgeschichte, unerkannt an die Orte führen, wo die vermaledeite Popkultur abwesend ist und immer abwesend war. Zu den soziokulturellen Feten, in die sie keinen Fuß setzen würden. Zu den Treffen der Interessengruppen, von denen die Bedenkenträger sich eigentlich nur dadurch unterscheiden, dass sie sich die Popkultur bereitwillig angeeignet haben. Gegen Atomkraft sind sie ja auch, aber nur in guten Schuhen.
Ein sehr respektabler, eher Roots-orientierter Musik-Fan hat mir neulich gesagt, das Problem mit der Zukunft liege darin, dass fast nur noch die Alten richtige Leidenschaft hätten. Die nachwachsenden Musiker würden halt ein wenig rumprobieren und die Sache fallen lassen, wenn ihnen der Spaß ausgehe. Dabei gibt es gar nicht so viele Möglichkeiten: Wer sich zum Neuen zwingt, „“verrenkt“ sich. Wer „“sich treu bleibt“, von dem hat man das „“alles schon mal besser gehört“. Die einzigen, die sowas am Ende goutieren können, sind die Fans, und solche Fan-Platten wird es massig geben im Jahr 2002:
Tom Waits (der im April gleich zwei neue Alben bringt), Alanis Morissette, Blur, Bon Jovi. die Chemical Brothers. Sicher auch mehrfach: Will man darum beneiden muss, dass sie nach zweieinhalb wunderlichen Alben (noch eine Möglichkeit: „“Innovation“ oder „“Kunstkacke“) jetzt erst mal Ruhe haben. Nach Diktat verreist. Man sieht sich in der Galerie.
Dafür kommen britische Bands wie VEGA 4, deren Debüt-Album schon im Februar erscheinen wird. Große Gitarren, laute Songs, Emphase. Und damit ungefähr auf dem Kurs, den auch Oasis eingeschlagen haben: zurück zur Einfachheit, zu den Anfängen, zum Song an sich. Mancher wird sagen, dass die Gallaghers ja auch keine Wahl mehr haben. Aber dass es diese Band überhaupt noch gibt, ist schon genug Sensation für das nächste Frühjahr, wenn das neue Oasis-Album veröffentlicht wird.
Laut und böse sind die Songs, die aus den USA zu uns herüberdröhnen. Der BLACK REBEL MOTORCYCLE CLUB ist cool wie Marion Brando und gefährlic wie Lee Marvin. Wer nicht rechtzeitig bremst, brettert über die Klippe. Rock’n’Roll noir – halluzinativ, fiebrig, bedrängend. Darauf geben wir jetzt schon mal Brief und Siegel. Andere Bands wie VEX RED und CRACKOUT werden in England bereits hoch gehandelt – aber was wird dort nicht hoch gehandelt, seit ANDREW W.K. (immerhin ein Amerikaner) zum nächsten Hoffnungsträger gekürt wurde?
Dass es auch im Jahr 2002 Platten von Fury In The Slaughterhouse, von Guildo Hörn und anderen Erscheinungen geben wird, berührt die Popkultur gar nicht. Muckertum, Festival-Irrsinn und Zeltmusik gehören zur heimischen Folklore. Immerhin ist auch ein neues Album der Pet Shop Boys angekündigt. Obwohl die beiden Titanen mit „“Nightlife“ und der anschließenden sterilen Maschinen-Show fast am Ende iher Kunst schienen, darf man wieder auf schönste Sophistication hoffen.
Der Traditionalist freut sich auf zwei Ereignisse: Die Rolling Stones feiern 40jähriges Bestehen. Und Neil Young veröffentlicht seine Archiv-Retrospektive.
Ersteres aber bestimmt.