Die Heimkehr in die Stadt der Idole
Ein Dutzend Cops hat vor dem unscheinbaren Gebäude mit der Hausnummer 2120 in der South Michigan Avenue Posten bezogen. Der lange, schmale Bau beherbergte einst ein Studio, wo Musikgeschichte gemacht wurde wie in keinem anderen. Von hier aus ging der Blues in die Welt, hier wurde schwarze Popmusik destilliert. Der Name „Chess“ prangt noch immer an der Wand, doch steht der Trakt leer. Besucher werden durch kahle Räume geschleust, treppauf, treppab, an den Wänden die Fotos der Künstler, die hier gearbeitet haben, eine Ahnengalerie des Rhythm äC Blues: Muddy Waters und Howlin‘ Wolf und Chuck Berryjohn Lee Hooker, Bo Diddley, Willie Dixon, Ettajames, Buddy Guy, Aretha Franklin.
Und inmitten der Konterfeis schwarzer R & B-Veteranen das Gruppenbild von fünf blassen Gestalten aus einem fernen Königreich, in engen Hosen und spitzen Schuhen. Es braucht nicht allzuviel Phantasie, um sich vorzustellen, wie stränge und exotisch die langhaarigen Lümmel gewirkt haben müssen, damals 1964, als sie Wallfahrern gleich in der Southside von Chicago vorstellig wurden, ,just to pay our respect“, wie Charlie Watts später erklärt. „No Chess Records, no Rolling Stones“, formuliert Keith Richards knapp eine Binsenwahrheit „Wir hatten uns ursprünglich an Micks Plattensammlung entlanggehangelt und abgearbeitet. Mick hatte die schärfsten Scheiben, und die Hälfte davon war auf Chess.“
Also standen sie eines Tages „mit Herzklopfen“ (Keef) vorm Eingang des Studios und fragten schüchtern, ob denn Muddy Waters im Haus sei. Das war er tatsächlich. Die Stones trafen ihn auf einer Leiter stehend an, im Overall die Studiowände streichend, happy, überhaupt etwas zu tun zu haben, das ein paar Dollar abwarf. „Es war ein Schock. Wir konnten es einfach nicht fassen. Da war unser Idol, der Mann, von dem wir alles gelernt hatten, was wir konnten, und er mußte seinen Lebensunterhalt mit dem Pinsel verdienen“, erinnert sich Mick Jagger sogar nach all den Jahren noch mit spürbarem Befremden. Der Rest ist ein Gemeinplatz. Die Stones nahmen in den Chess Studios auf, brachten John Lee Hooker und Howlin‘ Wolf ins Fernsehen, profitierten immens von den Erfahrungen der Altvorderen, zahlten ihre Schuld aber mit Zins und Zinseszins zurück. Muddy Waters drückte es so aus: „Mick Jagger nahm meine Musik und schenkte mir meinen Namen.“
Willie Dixons Erben haben den heruntergekommenen Komplex gekauft und eine Stiftung ins Leben gerufen, die an dieser Stelle unter dem Namen „Willie Dixon’s Blues Heaven“ Talente fördern und Rechtsberatung leisten soll. Später, wenn genug Geld beisammen ist, soll dann das Chess-Studio wieder in Betrieb genommen werden. Die Stones haben finanzielle Hilfe zugesagt, suchen diesmal den Ort ihrer Lehrjahre aber nicht auf, jene Adresse, die sie mit ihrem gleichnamigen Instrumental seinerzeit „unsterblich“ gemacht haben, wie es in der Broschüre der Foundation heißt. Die Cops, die Fans und die Fotografen warten vergeblich.
Anderswo wird mächtig auf den Putz gehauen. Die größte lokale TV-Station gibt im Stundenrhythmus rund um die Uhr den aktuellen Aufenthaltsort der Band durch. „Stones Watch“ heißt der Quatsch, der sich in bloßen Vermutungen erschöpft und nur noch unterboten wird von einer „Stones Control“ genannten Aktion des Konkurrenzsenders, der allen Ernstes zwei Tage lang einen Helikopter über der Stadt kreisen läßt und Fahrradkuriere aussendet auf der Suche nach „da Stones“, wie Jagger in Anspielung auf den hier herrschenden Dialekt abends sein Publikum begrüßt: „Hello, Chicago. You’ve got da Bulls, da Bears, and now, da Stones.“
Die Bühne ist wie aus einem B-Movie, in Gold und Silber. Ironie statt Gigantomanie. Eine Mischung aus Funktionalität, Hammer-Horror und babylonischem Spektakel. Der riesige, ovale Video-Screen, ein Muster an Auflösung, glitzert und gleißt wie ein Spiegel und verstärkt den Kostümfilm-Effekt.
Die 110 000 Tickets zu den beiden Auftakt-Shows der Stones-Tour waren im Nu vergriffen, die Schwarzhändler bieten ihre letzten Kontingente vor dem Stadion erst ab 200 Dollar pro Karte an, und die Medien diskutieren zum tausendstenmal „dieses unglaubliche Phänomen“, wie der CNN-Moderator die drawingpower der Stones nennt. Er hat Michael Cohl an der Strippe, den Promoter, der unlängst mächtig ins Schwitzen gekommen war beim gescheiterten Versuch, dieselben Stadien für U2 vollzukriegen. Woran das denn liegen könne, begehrt der TV-Mann zu erfahren, ob es dafür eine Erklärung gebe. Cohl räuspert sich, nickt. Ja, sagt er, das sei ganz einfach: „Die Rolling Stones sind nicht U2, sie… äh™ sind die Stones.“
Verwirrtes Schweigen. Wird wohl sosein.
So rollen sie also wieder, drei Jahre nur nach der letzten Rekordtour, unverwüstlich, unverdrossen. „Satisfaction“ wird gleich als Opener abgefeiert, die Gitarren noch grummelnd und ohne Klang. So richtig heiß wird es erst mit „19th Nervous Breakdown“, Mick’n’Keef am Bühnenrand, sich vokalistisch fetzend: „Nothin‘ I do don’t seem to work/ It only seems to make matters worse.“ Die doppelte Negation als Ausdruck von Emphase, post-Blues und pre-Psychedelia.
Auf dem Screen taucht eine Web-Site auf, Internet-Nutzer Jagger beeilt sich zu erklären, während Watts und Richards vielsagende Blicke wechseln: In jeder Stadt können die Fans, so Jagger agitiert, an einer Abstimmung via Computer teilnehmen und so jeweils einen Titel aus dem gesamten Stones-Repertoire auswählen, den die Band dann live spielen werde. Das Spielchen bleibt im Stadion ohne Resonanz. Der Anteil an worldwide wankers hält sich offenbar in engen Grenzen. Stones-Fans surfen nicht Auf „Under My Thumb“ fällt die Wahl schließlich, und bei der zweiten Show auf „She’s A Rainbow“, was Keef zunächst ungläubig staunen läßt, dann aber zu schönen Slide-Parts animiert.
Sein obligater Solo-Spot dauert zehn Minuten (von insgesamt 175) und präsentiert mit „Wanna Hold You“ und „All About bu“ eine ungewöhnliche Auswahl, da ,ßridges Tb Babylon“ drei Keef-Tracks enthält.
Aus „Bridges“ sind überhaupt erst zwei Songs im Programm, die Single „Anybody Seen My Baby?“ und der cmwd-pteaser „Out Of Control“. „WH add more as we go along“, verspricht Mick. „Sister Morphine“ folgt, Woodys Pedal Steel ein heulendes Fanal, dann „Tumbling Dice“ lasziv und launisch wie eh und je. Dann begeben sich die vier Stones nebst Bassist Darryl Jones und Pianist Chuck Leavell auf einem schmalen Steg geradewegs durch die Massen zu einer kleinen Plattform in der Stadionmitte. Keefs schneidendes Riff zu „Little Queenie“ eröffnet den „Club-Gig“, höllisch präzise und herrlich primitiv, dann „Let It Bleed“, „The Last Time“, alles ohne Bläser oder Backing-Sänger. Fürwahr fulminant.
Die Herrschaften von Willie Dixons Blues-Foundation stehen längst auf den Stühlen ihrer Ehrenplätze. „Shake that thing!“, ruft eine ältere schwarze Lady Mick zu, als er an der Rampe an ihr vorübertanzt. Jagger grinst. Das läßt er sich nicht zweimal sagen. Und dann schüttelt er es, das Ding.