Die Heimat vorm Tresen
Der Hamburger Autor Frank Schulz hat Anfang der Neunziger in seinem Debütroman aus urbanen Mythen, Provinzpossen und Tresenpalaver einen furiosen Heimatlosigkeitsschwank gebraut: "Kolks blonde Bräute"
Es war an einem Montag im heißen Spätsommer 2003, als die Synchronsprecherin Marion von Stengel im Hamburger „Boogie Park Studio“ um zehn Uhr morgens ihren ersten von zwei Orgasmen hinlegte. ,Ja, aw (gesprochen wie in „George Bernard Shaw“), Aw. Aww, Aaaaaw, AWW, GUUUD, JAAA, JAJAJA.“ Die anwesenden Herren mittleren Alters starrten beschämt auf ihre Sandalen. Die Ohren gerötet. „Ich da also rein“, erzählt der Hamburger Schriftsteller Frank Schulz, „Harry (Rowohlt) und sie saßen nebeneinander da (lacht). Und ich sach: Frau von Stengel, wir sind hier alle völlich fertich und haben schon den Schweiß aufer Stirn. Aber es tut mir Leid, sie müssen das noch mal bringen – und zwar mit diesem Text da.“
Der Text, von dem hier die Rede ist, steht auf Seite 186 von „Kolks blonde Bräute“ (Gerd Haffmanns bei Zweitausendeins, 2004), dem ersten Teil von Schulz‘ „Hagener Trilogie“ und lautet „FICK SIE FICK SIE FICK SIE, AU, JAAAA.“ Soviel Zeit muss sein. Denn diese Zeile, die Frau von Stengel in ihrer ersten atem(be-)raubenden Darbietung bei den Aufnahmen der Hörbuchfassung des Schulz-Klassikers vergaß, ist in der Tat von hoher Bedeutung für diesen von Sabrina-Salerno-Videoclips, Alkohol und Tresenpalaver angefeuerten Quickie zwischen dem Postboten Alfred Kolk und der Empfängerin eines Einschreibens. „Ich hab mal bei der Post gejobbt“, erklärt Frank Schulz diese Urszene, um die sich sein 1991 bei Haffmans erstmals erschienener Debütroman rankt, „viele meiner Freunde arbeiten da immer noch. Und da ging halt diese Legende rum, die tauchte immer wieder auf wie ein urbaner Mythos: Du bringst irgendwo einen Brief hin, und dann steht da eine mit wenig an und (pfeift einladend) winkt dich rein.“
Diese Postlerlegende sollte anfangs im Mittelpunkt einer 100-seitigen, im Hamburger Kneipenmilieu spielenden „Säufernovelle“ stehen, so Schulz. Das seltsame unerhörte Ereignis von Alfred Kolks erotischer Begegnung, geschildert von einem Ich-Erzähler aus einer Rahmenhandlung heraus – das war sein Plan. Aber so wie ein Betrunkener in seinen Aus-und Abschweifungen vom Höcksken aufs Stöcksken kommt, kam auch Frank Schulz nicht direkt auf den Punkt. Beziehungsweise – er kam auf einen ganz anderen Punkt. Denn als seine Charaktere langsam Identität annahmen, stellte sich die so einfach gedachte Konstruktion als weitaus komplexer heraus. „Wenn Kolk soff, fühlte er sich zuhaus… Seine Heimat war das Bier“ heißt es an einer Stelle. Und da geht’s schon los. Denn erstens gibt es noch andere Aggregatszustände als das hier beschriebene Im-Rausch-beisich-Sein. Und zweitens stimmt das gar nicht. Denn Alfred Kolks Heimat heißt Beeckdörp, ein kleines Kaff im Niedersächsischen, das Schulz seinem eigenen Heimatdorf Hagen bei Stade nachempfunden hat. Und egal ob mit leichtem, mittelschwerem oder schwerem „Lollimann“, nachfolgendem Kater oder nach Einbruch der Nüchternheit: Schulz‘ Charaktere spüren immer den Ruf der Provinz, zitieren Popsongs aus ihrer Jugend und sehnen vom „faszinierenden Moloch“ Hamburg zurück ins Kaff. Wie schon der in „Kolks blonde Bräute“ zu später Stunde lautmalerisch-lallend mit der Weisheit „Ein Tach iß fiernzwanzich Schdundn lang aba faschiedn breid“ r& zitierte „Käßdna der Gehngwahd“ Bernhard Lassahn dichtete: „Von der Zerrissenheit des modernen Menschen/ kann, ich ein Lied singen./ Zweistimmig.“ Auch Schulz, der gegen Ende seiner Teenagerjahre aus Hagen nach Hamburg zog, spürte diese Spannung. Er habe seine eigene Identität zwischen Dorf und Stadt, plebejischem und intellektuellem Milieu selbst jahrelang als diffus empfunden, sagt er. „Da kann es schon gut sein, das$ sich dieses Thema mit Ende 20, als ici£ mit dem ,Kolk‘ begann, immer weiter in den Vordergrund drängte, so dass es eben zum heimlichen Hauptthema der gesamten Trilogie wurde. Denn dass es noch so viel Stoff gäbe, dass ich das gleich als Trilogie ankündigen kann, war mir bei dar Arbeit am ersten Roman irgendwann klar. Das war so ’ne Mischung aus Größenwahn und Offenbarungseid. Ich dachte, bevor mir irgendein Kritiker vorwirft, dass ich sowieso immer nur dasselbe schreibe, kann ich es ja auch gleich als Trilogie andienen. War mir dann plötzlich klar, was das eigentliche Thema ist, um das es geht: das Dorf.“
Und so wurde aus „Kolks blonde Bräute“ – wie es im Untertitel heißt – „Eine Art Heimatroman“. Beeckdörp ist die ganze Zeit präsent. In den Gesten und Sprüchen, den Erinnerungen und Ritualen der Trinkergemeinschaft um Alfred Kolk, zu der auch der Ich-Erzähler Bodo „Mufti“ Morten gehört, der sich schon hierund erst recht in den nachfolgenden Romanen „Morbus Fonticuli“ und „Das Ouzo Orakel“ zur eigentlichen Hauptfigur der „Hagener Trilogie“ entwickelt.
Schon in seiner Jugend sei er „dem schwülen Charme von Mundart und Soziolekt“ verfallen, schrieb Schulz in einem Begleittext zu einer CD mit Darbietungen des „komischen Vortragskünstlers“ (Eckhard Henscheid) Heino Jaeger. „Zu jener Zeit waren wir Pubertätskombattanten mitunter scharf darauf, uns vom Volksmund unseres Heimatdorfes quasi einen blasen zu lassen“, heißt es dort weiter. Mit einem alten Freund habe er versucht, die Dorforiginale nachzuäffen, erklärt Schulz, „und zwar mit einer Begeisterung, die auch sowas wie Liebe und nicht zur Ablehnung enthielt. So haben wir Jaeger später, als wir seine akustische Kleinodien kennenlernten, als unseren Meister entdeckt.“
Das lustvoll bis zum Nachklang in phonetischer Exaktheit wiedergegebene Fuselgefasel in „Kolks blonde Bräute“, dem mancher Kritiker eine Nähe zu Arno Schmidt nachsagte, steht damit also vor allem in der Tradition des Sprach- und Idiolektkünstlers Jaeger. Die siebenstündige Hörbuchadaption von „Kolks blonde Bräute“, bei der neben Schulz, Harry Rowohlt und Marion von Stengel auch die Satirikerin Fanny Müller und Verleger Gerd Haffmans helfen, die Figuren im wahrsten Sinne des Wortes zum Leben zu erwecken, ist somit eine besonders gelungene Ehrerbietung an den Meister.
Die Sprache hat bei Schulz eigentlich eine ähnliche Funktion wie das Bier: Sie ist ein Medium, in dem und durch das sich Identität konstituiert. „Im ,Kolk‘-Nachfolger,Morbus Fonticuli‘ habe ich dann offensiv mit dem Identitätsthema.
Jochen Schimmang“ schrieb. „Ich habe da zum Beispiel Sachen von Oliver Sacks gelesen, der diese Problematik unter neurologischen Gesichtspunkten betrachtet. Dagab es etwa ein Fallbeispiel von einem Typen, der buchstäblich wie’n Irrer erzählen muss, um sein Ich zusammenzuhalten. Damit er nicht komplett wahnsinnig wird und sich nicht völlig zerfasert. Das fand ich dermaßen interessant, aber auch gleichseitig eben erschreckend. Sobald du aufhörst zu erzählen, läufst du Gefahr, deine Identität zu verlieren. Du brauchst das Erzählen als M ittel, um deine Person, dein Ich zusammenzuhalten.“
In allen drei Teilen der „Hagener Trilogie“ berichtet Frank Schulz vom Scheitern solcher narrativer Identitäten. In „Kolks blonde Bräute“ halten sich Protagonist und Erzähler jahrzehntelang an der Postlerlegende als identitätsstiftendem Mythos fest, bevor schließlich nach einer durchzechten Nacht in Beeckdörp alles zusammenbricht, in „Morbus Fonticuli“ wird Bodo Morten über dem Versuch, die Spaltung zwischen dionysischem Hinterland und apollinischem Hamburg ohne Identitätsbruch auszuhalten, wahnsinnig, und in „Das Ouzo Orakel“ erweist sich die sehnsuchtsvoll verklärte Heimat schließlich als Schimäre.
Auch den „eingefleischten Provinzler“ Schulz hat die Heimat nie losgelassen. Am 28. Juni wird Schulz anlässlich des 875jährigen Ortsjubiläums, bei dem sein Vater im Festausschuss sitzt, sogar erstmals in seinem Heimatkaff aus seinem Werk lesen. Im Saal der Dorfkneipe, die in seiner Romantrilogie als „Gaststätte Heitmann“ ein wichtiger Erinnerungsort ist. „Ich fürchte, da werde ich das schlimmste Lampenfieber haben, das ich jemals hatte. Ich weiß noch nicht, welche Passagen ich da lese. Sollen ja schon auf dem Dorf spielen, aber andererseits muss ich auch zusehen, dass ich die Stellen auswähle, die den höchsten Grad an Fiktionalität aufweisen. Das fehlt mir noch, dass da irgendwelche Verwandten von den porträtierten Personen da sitzen und sagen: So ist das aber nicht gewesen.“
Schulz schließt nicht aus, ähnlich wie sein literarisches Alter Ego Bodo Morten eines Tages an seinen Ursprung zurückzukehren. „Diese Vision hat nur einen handfesten Grund. Nämlich, dass ich eines Tages das Haus meiner Eltern erben werde. Aber da meine Eltern nur unwesentlich älter sind als ich, werden da noch gut 20 Jahre ins Land gehen. Und dann bin ich selber steinalt. Das taugt als Rückkehrvision emotionaler Art im Grunde gar nicht mehr. Da gibt’s noch eine Leerstelle, von der ich selbst noch gar nicht weiß, wie sie zu füllen ist.“ Mit neuen Romanen vielleicht?
Die Zukunft, grübelt ein von oben bis unten betrunkener Bodo Morten an einer Stelle, sei ja nichts anderes als „die Hoffnung nach andauernd guter Gegenwart“. Da würden die sehnsuchtsvollen, zärtlichen, Herz und Schenkel (durchs ständige reflexhafte Draufschlagen bei gelungenen Pointen) wärmenden Bücher von Frank Schulz sicher helfen.