Die Gurken der Geborgenheit
März 2005 Als arbeitsloser TV-Tresenphilosoph Dittsche erklärt Olli Dittrich immer noch die Unwucht der Welt. Eine Begegnung mit dem Schöpfer vom Kauz im Bademantel und ein Gespräch über Improvisation, Authentizität und Identitäten.
Es war kalt in Deutschland, in Hamburg besonders – und erst recht auf St. Pauli. Die Depressionen der Nacht zum Montag versuchte die Große Freiheit mit buntem Neon zu zerstreuen. Ich zurrte den Schal fester, als ich in eine zugigere Gasse abbog. Nach ein paar Metern erhellten vier Spots am Erdgeschosssims den Schriftzug „Steppenwolf“. Nach drei krummen Steinstufen schlug mit der Tür hinter mir die cold and lonely night zu.
Einen veritablen Schuppen wie diesen dürfte es von Zeitgeists wegen gar nicht mehr geben. Ein vierschrötiger, doch sanftmütiger Thekenboss, ein Dutzend prima Kerls, zwei schöne Frauen; Astra aus Flaschen; Binnenbewölkung aus Tabakqualm, träger als der Trockeneisnebel in jenem Rockvideo, das auf dem Monitor lief; Backstein-Tapeten, an denen Konzertplakate mit Metal-Motiven vergilbten; in einer der Nischen kesselte lautlos ein echtes schwarzes Motorrad. Im Sattel ein (hoffentlich falsches) weißes Skelett, auf dem Tank das Motto „Live to ride – ride to live“. In gewissen Kreisen genießt dieser 18 Jahre alte Club bis heute legendären Ruf. An jenem Sonntagabend jedoch war keiner wegen der guten alten Mucke hier.
Das wurde klar, als es auf 22:30 Uhr zuging und einige über T-Shirt und Jeans einen Bademantel zogen. Man schaltete von Video auf WDR-Fernsehen um. Das Gästegewimmel zog sich publikumsförmig vor dem Bildschirm zusammen und sah einem eigenartigen Mann zu, wie er ein Imbisslokal betrat. Er trug eine Plastiktüte sowie über roter Hose, weißen Socken und Sandalen – ja nun, einen Bademantel. Die nächste halbe Stunde im Steppenwolf fühlte sich an, als knisterte in einem Winkel ein Kaminfeuer. Wärmeströme flossen, Wellen des Behagens, Vergnügens und einer beinahe spirituellen Form von Solidarität, kurzum: Es wurde muckelig.
Hier ist Dittsche wirklich Kult.
Schon im „Dummdeutsch“-Wörterbuch von 1985 notierte Eckhard Henscheid völlig zu Recht: „Jeder Dreck ist heute gleich, Kultbuch‘ oder, Kultfilm‘.“ Im Hinblick auf obiges Erlebnis aber muss man die ausgelutschte Metapher wohl wieder brockhausbuchstäblich aufgreifen: „In geordneten Formen (Riten), an bestimmten (heiligen) Orten, zu bestimmten (heiligen) Zeiten durchgeführte gemeinschaftliche Verehrung des als heilig Angesehenen durch die Kultgemeinschaft.“
Seit dem 20. Februar 2005 feiert die Kultgemeinschaft Dittsche wieder. Es läuft die dritte Staffel, wie seit Beginn der zweiten live, ein paar Kilometer nördlich von St. Pauli in Hoheluft-West, dem Puffer zwischen Eimsbüttel und Eppendorf. Wie jeden Sonntag blockieren dann Ü-Wagen und Pkw des Teams für ein paar Stunden rare Parkplätze. Ich gönne sie ihnen, obwohl die mir in 20 Jahren Suche geplatzten Kragen aneinandergenäht den Eppendorfer Weg rauf und runter reichen würden. Früher hieß die Location noch Hähnchen- und Haxengrill, seit vergangenem Sommer Eppendorfer Grill-Station. Wenn ich aus der Tür des Hauses trete, in dem ich wohne, schlage ich einmal lang hin, wie der Hamburger sagt, und bin drin.
Eines Tages entdeckte ich meinen Stammimbiss auf dem TV-Bildschirm.
Es war ebenfalls ein Sonntagabend, im Jahr 2000. Die Sendung (im ZDF) hieß „Olli, Tiere, Sensationen“ („OTS“). Olli Dittrich schätzte ich seit „RTL Samstagnacht“ Mitte der 90er-Jahre – vor allem, wenn er Loddel Mike Hansen verkörperte – und war gespannt auf sein erstes Soloformat. Hommage an Loriots bahnbrechende „Cartoon“-Reihe, bot OTS brillante Promi-Travestien, Reportageparodien und Kabinettstückchen in Form skurriler, saukomischer Improvisationen, zu meinem Entzücken auch mit meinem Lieblingsluden.
Vernarrt aber war ich in eine neue Figur: den Mann mit dem Bademantel. Der „vereinsamte Visionär, der fabulierend am Tresen steht“ („Die Zeit“), hatte sein TV-Debüt bei „OTS“, in jeder Folge eine kurze schwarz-weiße Episode. Stegreifschauspiel wie das habe ich so grandios selten gesehen. Was mich faszinierte, war die intensive Authentizität, die „angewandte Phänomenologie“ („Die Zeit“). In Hamburg begegnet man Typen wie Dittsche oft: Randfiguren der Gesellschaft, die einem Nerven, Zwerchfell und Herz aufreißen. Meist sind sie auf den ersten Blick als solche erkennbar – an irgendeinem Merkmal, auch wenn es nicht immer so auffällig ist wie ein Bademantel.
Apropos: Erscheint Udo Jürgens in einem Bademantel auf der Bühne, kündigt der mit einem Hauch Frivolität den Feierabend an. Treten in 50er-Jahre-Filmen Frauen mit Bademantel auf, vertont unweigerlich ein Altsaxofon das imaginäre Mannsdelir. Nebst Zigarre und Goldkette tragen Filmgangsterbosse Bademantel, um ihre Immunität gerade durch dieses Gegenteil von Panzerung zu betonen. Taucht aber ein Dittsche im Bademantel auf – was will der damit sagen? Bar jeden Glamours, jeder Erotik oder Macht, bleibt bloß Sonderbarkeit. Und dafür hat Olli Dittrich ein Gespür: „Unten in der Tegetthoffstraße war der Eiswagen vorgefahren, und der Kunde vor mir trug über seinen Klamotten ’nen Bademantel und bestellte, Wanille und Straziella‘. Das war 1979.“ Dieser Urbademantel, Jahre später wurde er zum Ornat eines Herrschers über die Diskussionshoheit in einem Imbiss.
In den „OTS“-Prequels wirkte Dittsche, im Gegensatz zur Elektrizität seiner aktuellen Inkarnation, noch wie sediert. Die Körpersprache einsilbig, deu-tet er mit der Buddel auf die Vitrine und leiert: „Sa‘ ma, und jetz‘ des Weiße in diesen Salat (sprich: Selort), nä; is das Faabe oder is das Mehch? Dö?“
Ingo: „Der Katoffelsalat hier?“
Dittsche: „Nee, das daneben.“
Ingo: „Milchreis. Das‘ Milchreis. (Kurze Pause) Das‘ kein Salat. (Erneute Pause, dann, da immer noch keine Reaktion, mütterlich singend) Milchreis!“
Dittsche (erstaunt): „Neb’m Katoffelselort?!“
Ingo: „Wieso denn nich‘?“
Dittsche (einer logistischen Unwucht auf der Spur): „Das‘ ja ech‘ … (unterbricht sich) Un‘ was, wenn du das ma‘ vawechsels‘, denn? Dö …?“
Ingo (nachsichtig): „Das verwechsel ich nich‘.“
Dittsche (halbwegs zum Stammgast namens Schildkröte): „Kumma, das is‘ … Er hat Mechreis direk‘ nehm den Katoffelselort, und das issas gleiche in Weiß! Auch in Weiß, is das.“
Ingo (Kaugummi kauend, nickend): „Ja, ja …“
Dittsche: „Und wenn er das, äh …“
Ingo (mit mildem Spott): „Das‘ genau das gleiche in Weiß, ja, ja …“
Dittsche: „Jor, aber kann doch ma‘ sein, dass äh, dass du das ma‘ vawechsels‘, wenn hier, äh, jetz‘ ma‘ eina kommt, und er sacht, er möchte Mehchreis, un‘ du gibs‘ ihm aba Katoffelselort …“
Ingo (seinem Gegner Kaugummi kauend ins Auge blickend): „Kann sein, meins‘ du.“
Dittsche (dem Blick standhaltend): „Jor. Mir würde das aba passier’n, wenn ich nich‘ genau hinkuck‘.“
Ingo (Häme unterdrückend): „Ja*** … Weiß‘ du, deswegen steh‘ ich (Pause, um die bescheidenerweise zurückhaltend angelegte Betonung auf „ich“ durch eine Dramatik der Stille auszugleichen, sodann mit dem gekrümmten Zeigefinger auf seine Seite des Tresens deutend) auch hier. Und nich‘ du.“
Dittsche (sprachlos, ja betrübt) – Abblende eines der wenigen Beispiele, in denen das letzte Wort nicht Dittsche hat.
Auch wenn in diesem Fall eine hübsche, gerade in ihrer Unscheinbarkeit anrührende Pointe glückt – was die Improvisationen im Kern ausmacht, entsprießt nie konventioneller Komödiendramaturgie, ja, es geht „um die Vermeidung von klassischen Kalauern und Pointen“ (Dittrich in der „Zeit“). Man könnte allenfalls von Situationskomik sprechen (wäre sie nicht allzu stark mit „Sitcom“ assoziiert), von einer Komik, wie sie zudem am üppigsten im Milieu blüht. Doch die Rekonstruktion davon, wie ein Drehbuch für obige Szene hätte aussehen können, offenbart vor allem, weshalb es keines gibt: In „Das wirkliche wahre Leben“ spielt die entscheidende Rolle die Sprache; lebendige, mundartlich eingefärbte, gesprochene Sprechsprache.
Vielleicht haben andere keinerlei ähnliche Reminiszenzen, aber meine Kumpels und ich waren in unseren späten Pubertätsjahren scharf drauf, uns vom Volksmund unseres Heimatdorfs einen blasen zu lassen. Wir entwickelten eine Libido des Gelabers und Gelalls, ein Sensorium für den schwülen Charme von Dia- und Soziolekt. Mehr noch: Wir versuchten, den Zungenschlag des versoffenen Bauernknechts, des zerstreuten Schankwirts, des saujovialen Schützenvereinsvorsitzenden nachzuäffen.
In seinem Bestseller „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ berichtet Neuropsychologe Oliver Sacks von einer Frau, die er in den Straßen New Yorks sah. Offenbar habe sie unter einer bösartigen Form des Touretteschen Syndroms gelitten, die zu einer bizarren Art von „Psychos“ führen könne, verbunden mit einer „zwanghaften Nachahmung anderer Personen“. Sie imitierte an die 50, 60 Passanten. „Innerhalb einer Sekunde, einer Zehntelsekunde, hatte sie ihre hervorstechendsten Charakterzüge erfasst und brachte diese zum Ausdruck.“ Ein „Wirbelsturm der Identitäten“.
Als ich das las, fiel mir Heino Jaeger wieder ein: Er machte den Unterschied zwischen Nachäffen und Nachahmen. Der geniale Gesellschaftskabarettist besaß das absolute Gehör für gesprochene Sprache und die kongeniale Fähigkeit zum Zungenreden. Gespenstisch die naturalistische Genauigkeit, mit der jede Note der Intonation sitzt, das winzigste umgangssprachliche Detail, die unscheinbarste Stimmnuance, die unaussprechlichen Sprechelemente wie Nervositätsaspiration, Stutzpausen, Verlegenheitsfüllsel. Eigentlich bildender Künstler, erlebte Jaeger Anfang der 70er-Jahre mit seinen Hörszenen, in denen er zig verschiedene Stimmen zum Klingen bringt, eine kurze Blütezeit. Sie reichte, um nahezu jeden zu beeinflussen, der im komischen Fach etwas auf sich hält. So auch Olli Dittrich (der Dittsche zuweilen in typischem Jaeger-Stil schwafeln lässt: „Der Weißrusse, das ist ja auch ein sehr karger Mann“). Dittrich spricht von „Seelenverwandtschaft, zumindest was den Berührungspunkt angeht, wie eine Art Medium zu wirken, Dinge auf ihre ungefilterte Weise wahrzunehmen und wiederzugeben“. Es sei „schon immer“ so gewesen, „dass sich Stimmungen und menschliches Verhalten in intensiver Weise auf mich abbilden“, und bei der Reproduktion „gehe ich in einer Figur völlig auf und gebe der ’ne Wildcard, alles zu tun, was ich mich nicht traue oder was nicht zu meinem Persönlichkeitsbild gehört, aber nichtsdestotrotz beschäftigt. Indem ich mir bestimmte Figuren zu eigen mache, lebe ich vielleicht meine Angst vor ihnen aus“. Identifikation mit dem Aggressor? Oder eher so, wie sich Indianer mit den Skalps ihrer Feinde schmückten? Wie auch immer, der Grad der Einfühlung ist so hoch, „dass mir keinerlei Inkompatibilitäten unterlaufen, wenn ich eine Figur mit bestimmter Biografie, Intelligenz, Bildung, mit einem bestimmten Umfeld aufleben lasse“.
Mir fallen wenige Zeitgenossen ein, die über jene Jaeger’sche Kraft der mimetischen Identifikation auch nur annähernd derart frappierend zu verfügen vermögen wie Dittrich. Wie schrieb die „FAZ“ so treffend? Seine Figuren „ergreifen Besitz von ihm“. Sie hat etwas Unheimliches, diese Kraft, etwas Pathologisches, etwas vom „Wirbelsturm der Identitäten“, und neben Gerhard Polt und Anke Engelke war es vor allem Dittrich, den ich schon immer mal fragen wollte, ob er dadurch je Probleme mit der eigenen Identität bekam. „Nein.“ Schalter umlegen, fertig? „Komplett, ja.“
Wir sitzen am Fenstertisch eines Lokals unweit der Eppendorfer Grill-Station. Es ist ein und dasselbe Gesicht, aber ich erkenne Dittsche in Dittrich nicht wieder. Professionell konzentriert erzählt er von sich selbst wie von einer dritten Person. Seiner Prominenz allzeit bewusst, freut er sich, als ihn ein Pärchen identifiziert „Ist das nicht herrlich, wenn einem wildfremde Leute zuwinken?“ Andererseits räumt er ein, als Popsänger „scheiße“ gewesen zu sein. Er empfindet unangemessenes Fremdlob als peinlich, doch falsche Bescheidenheit kennt er offenbar auch nicht, wenn er „absolute Kompetenz“ in punkto Komposition für sich in Anspruch nimmt. Er ficht den Narzissmus des Künstlers mit offenem Visier aus. Mit so einem ist ganz gut Kirschen essen.
Ich erzähle ihm von der Sacks’schen Tourettelerin. Der Vergleich sei ihm zu gewagt. „Ich weiß, wie die Leute sind. Es hört sich einfach an, aber so einfach ist das nicht: Es geht darum, zu verstehen.“
Wahrnehmung ist das eine (was allerdings viele Künstler beherrschen, sonst wären sie keine geworden), doch die Meisterschaft in der Wiedergabe etwas anderes. „Stimmt. Das ist sicherlich Veranlagung. Meine Mutter hat mir Geschichten erzählt, dass ich schon als Kind mit hängender Kinnlade Leute beobachtete, einen Museumswärter oder so. Heinrich Lübkes Sauerländer Deutsch hab‘ ich imitiert; am Strand machte ich auf einer gedachten Eisbahn Eiskunstläufer nach …“
Insofern erstaunlich, dass du zuerst eine musikalische Karriere angestrebt hast, oder? Du warst immerhin Mitte dreißig, als du deine schauspielerische Begabung beruflich zu nutzen begannst. Eine lange Zeit, die sie brachlag.
„Ja, wenn du das jetzt so sagst – sonderbar. Hab‘ ich noch gar nicht drüber nachgedacht.“
Denn nachdem der erste Berufswunsch – Profifußballer (Idol: Uwe Seeler) – wegen Knieproblemen gestrichen wurde, war der nächste Musiker. Mit 17 spielte Oliver Dittrich, Jahrgang 1956, gebürtig in Offenbach, aufgewachsen in Hamburg, Waschbrett und Schlagzeug in der eigenen Skiffle-Band. Die berühmte „Hamburger Szene“ mit Lindenberg, Lonzo, Otto, Gottfried Böttger schrammelte auf Hochtouren. Olli mischte mit, und die Liebe zur Musik begann auch dann nicht zu rosten, als er nach der Schule an der Hamburgischen Staatsoper die Theatermalerei erlernte, und ebensowenig während seiner sieben Jahre bei der Deutschen Grammophon GmbH. Ob als Interpret, Komponist, Texter oder Produzent (etwa für James Last und die Prinzen): „Musik war mein Leben.“ Trotz jahrelanger Tingelei (Gitarre, Klavier, Gesang; rund 1500 Gigs zu Lande und zu Wasser) fürs Existenzminimum (150, 200 Mark pro Auftritt) rostet die Passion bis heute nicht.
Eine bittere Enttäuschung bereitete sie ihm dennoch (auch wenn das Schicksal mit dem enormen Erfolg von „Die Doofen“ später einen gewissen Ausgleich schaffen sollte). „Bis 1989 hatte ich nur für ein Ziel geackert: Popstar zu werden. In fünf Jahren hab‘ ich an die 200 Songs geschrieben.“ Farbe? „Melodischer Pop, orientiert an Beatles, Elton John. Das war mein Leben, und das war mein Ziel, und das brach dann plötzlich zusammen: Februar 89 kam die Platte raus, und acht Wochen später war Schluss. Totaler Flop. Sehr ambitioniertes Album, die Songs waren super, auch die Produktion war super, nur der Sänger war halt scheiße.“ Der hieß Olli Dittrich, die Band Tim (auf der Bühne mit Ingo an der Gitarre), das Album „Modern Guy“.
Der Hieb saß. Aber er weckte letztlich Dittsche aus dem Dornröschenschlaf.
Vom Komponieren vorerst „abgefrustet“, nutzt Dittrich das kleine Vierspurstudio, jahrelang sein Arbeitsplatz, nun nämlich für Hörspiele. Einfach so, aus heiterem Himmel? „Ja, quasi aus beschäftigungstherapeutischen Gründen: Was machst du denn heute mal? Das machst du heute mal.“ Er spielt die Stückchen auf seinen Anrufbeantworter. „Wechselndes Programm. Das ging dann undercover rum, nach dem Motto:, Ruf da mal an, da sind immer witzige Sachen drauf.‘ Eines Abends kam ich nach Hause, und da hatte ich 15 Reaktionen:, Super, mach doch mal was Neues!‘ Hab ich dann gemacht.“
Und zwar zunehmend ausgefeilt. Mit Hilfe einer seiner beiden Brüder, der in Berlin Regie und Dramaturgie studiert, visualisiert er die Hörstücke. „,Olli Bond‘. Titelmelodie dreistimmig eingesungen, dann kommt so ’ne Stimme und sagt:, Mein Name ist Bond, Olli Bond, mit der Lizenz zum Tröten.‘ Und dann wurde die Melodie mit so ’ner Kindertröte weitergespielt.“ Sieben, acht Filmchen werden gedreht, „damals bei mir in der Wohnung, mit zwei VHS-Rekordern, einem als Mastermaschine, einem als Zuspielmaschine, mit der man nachträglich vertonen konnte. Modenschau mit Karl Magerfeld, Kampfhund Galactica, Ali Bengali, weltbekannter Joghurtlehrer …“
Und alles ohne Auftrag? Alles nur aus Spaß? „Ja, klar. Ich mach‘ bis heute alles nur aus Spaß.“
Eines Tages allerdings, als genug Material beisammen ist, verschickt er 30 Masterkopien „ungefragt“ an alle möglichen Leute: Holm Dressler, damals Gottschalk-Produzent, Hape Kerkeling, Biolek. Eine davon gerät in die Hände Wigald Bonings, der für Thomas Hermanns auftritt. Hermanns sucht laufend Talente für seinen „Quatsch Comedy Club“ (der seine Anfänge ja auf Hamburger Bühnen genommen hat). Und dort, 1992, gibt Olli Dittrich sein Debüt als Komödiant. Und zwar mit dem Prototyp von Dittsche! Zitat Hermanns: „Das Publikum hat auf dem Boden gelegen vor Lachen.“
Es folgt ein Casting bei „RTL Samstagnacht“. Der Rest, wie man so sagt, ist Fernsehgeschichte.
Derzeit macht Olli Dittrich nichts anderes als Dittsche (und gelegentlich den Ratefuchs bei „Genial daneben“). Zwei Jahre lang ist er damit hausieren gegangen, bis der WDR Ja sagte zum „unterhaltsamen Wochenrückblick“. Im vergangenen Spätsommer wurde er mit dem Deutschen Fernsehpreis gekürt. Hochverdient. Mit Dittsche schliff Dittrich ein Juwel. Stimmig jede Facette des Werks. Schau’n wir doch noch mal ausführlicher rein …
Über die Imbissfassade geblendet, erscheint der Titel der Sendung, „Das wirklich wahre Leben“. Aus dem Off, im blechernen Sound eines Kofferradios, sagt jemand niederschmetterndes Wetter vorher, und gleich darauf erklingt das Original eines schönen alten Songs: „Stand by your man/ give him two arms to cling to/ and something warm to come to/ when the nights are cold and lonely.“ Währenddessen werden, in Standbildern, die Rollen vorgestellt: ein Mann wie ein Streifenhörnchen („Dittsche, 42 Jahre alt, arbeitslos“), ein Mann mit Vokuhila-Frisur und Dreitagebart („Ingo, 39 Jahre alt, Imbisswirt“) und ein Mann mit einem Kopf wie aus einer Kattoffel geschnitzt („Schildkröte, 51 Jahre alt, steht im Baumarkt an der Säge“). Das gleiche noch mal umgekehrt mit den Namen der Akteure: Mr. Piggi, Jon Flemming Olsen und Olli Dittrich. Schließlich schmettert Tammy Wynette ihre Kadenz, und nunmehr ist Ingo zu sehen, wie er über den gläsernen Tresen schielt und in gewappneter Erwartungshaltung murmelt: „Ah, Chefvisite.“ Das Türglöckchen bimmelt, und Auftritt jener „Chef“, fast berstend vor gebremster Energie. Nicht lange, und er wird sie wieder stellen, seine hanebüchenen Diagnosen unserer kranken Welt. Zunächst allerdings wünscht Dittsche „Mahlzeit“, begrüßt en passant Schildkröte, der mit dem Rücken zum Geschehen am Bistrotisch hockt, schweigt, raucht und Bier trinkt; reicht Ingo eine Plastiktüte mit Leergut und zugleich, ungeduldig, die Rechte zur Begrüßung; retour gibt’s frisches Bier zum Mitnehmen. Eine Buddel aber wird sofort geköpft. Dittsche nimmt einen Zug, stöhnt und seufzt: „Das pääärlt ja heude wieda, dö!“ Und während er die Flasche schwenkt wie der Schamane seinen Fetisch, kommt Dittsche allmählich zur Sache.
Sache ist, was in der vorausgegangenen Woche der Fall war (vorsortiert von den Autoren Dietmar Burdinski, Albrecht Koch und Marcus Weimer). In dem einen Jahr brutto, das er bisher auf Sendung war, hat Dittsche alles durchgehechelt, worauf er sich einen seiner irrwitzigen Reime machen konnte – von Champions League bis Bachelor, von Cyberspace bis Formel 1. Mal in der Haltung des überlegenen Denkers, mal greinend ob des Gegenwinds der Ignoranz verteidigt Dittsche seine Tresenthesen, Jan Ullrichs Fahrrad sei von Kastanienmotten befallen, Horst Köhler führe den Euro in den USA ein, und Olli Kahn habe Vogelgrippe. Widerpart Ingo, als Vertreter der Vernunft, verfolgt mit verschränkten Armen, Schlafaugen und wehem Lächeln, wie sein Stammkunde sich einmal mal mehr um Wirrkopf und Speckkragen redet. Mitunter wirken die beiden wie die postmoderne Ausgabe des Paars Don Camillo/Peppone, und wiewohl Dittsche mitunter Ingos angeblich kadmiumverseuchten „Rinderpiedel“ oder „braune Morellenstellen“ auf dem Putzlappen beanstandet, hält er ihn doch für integer: „Du bis‘ ja an und für sich ’n Guter! Du bis‘ ’n reiner Guter!“
All sein reines, naturbesoffenes Gequatsche über „Trinkwurst“ und Schumi als „Kaiborch“ (Cyborg); all seine Theorien (Schill der heimliche Sohn von Fidel Castro, gezeugt in der Schweinebucht; Verkauf von Brückentagen nach Holland; Latexfarbe macht Möwen schwul); die Adaptionen des „Bild“-Zeitungsjargons („Torwart-Titan“), vorgetragen mit der täppischen Gestik des Sonderlings, der an den Marionettenfäden eines durchgeknallten Weltgeists zu hängen scheint – all das macht den Reiz der Serie aus, aber beileibe nicht allein. Sicher, Dittsche agiert die Verwirrung des modernen Menschen angesichts Globalisierung, Werteverlusts und Medienherrschaft aus. Doch Dittrichs Proll-Imbiss hat doppelten und dreifachen Boden.
Zum einen sind wir gezwungen, uns statt auf die Darsteller auf die Darstellung zu konzentrieren durch Dittrichs smarte Idee von der automatischen Bildregie. Das Kammerspiel wird von sechs installierten Kameras übertragen, an deren Arrangement das Team lange tüftelte (welche Kamera in welcher Höhe, welcher Zeittakt, welcher Perspektive?), um einen „geschmeidigen Ablauf“ der Einstellungen zu bieten. So sehen wir mitunter Ingo beim Augenverdrehen oder Schildkröte beim Dösen zu, während Dittsche im toten Winkel ramentert – was den Charakter des Grotesken potenziert. Im Mittelpunkt steht stets die Situation, die Aktion nur zufällig.
Zum anderen geht es in der Serie nicht nur um die schrulligen Kabarett-Texte des Hauptdarstellers (wie Dittrich sie als Dittsche-Solos auf der Bühne gebracht hat). Für erzählerische Tiefe sorgen die Feinheiten der Interaktion. Ingo und Schildkröte sind keine Statisten, sondern befördern die künstlerischen Themen des Serienwerks: (Mit-)Menschlichkeit, Heimatlichkeit, Einsamkeit. Ingo weiß wohl, dass Dittsche ein Spinner ist, doch er ahnt auch, warum, und so ist es ein tapferer Akt von Nächstenliebe, wenn er den amüsanten, aber anstrengenden Krawallmacher gewähren lässt. Nervt Dittsche einen der turnusmäßigen Kunden, tanzt Ingo – mit dem Plastikmesser zwischen den Zähnen, aber bereitwillig – auf dem dünnen Seil zwischen Nachsicht und Angst ums Geschäft. Ja, er wirbt gegebenenfalls um Verständnis für den Kauz im Bademantel und weist diesen erst zurecht, wenn der Gast gegangen ist. He stands by his man, when the nights are cold and lonely.
Besonders hinreißend tragikomisch war der Anriss der Sozialthematik in einer Folge, die Schildkröte zu seinem bisher größten Auftritt verhalf. Der, stets gegen Ende von Dittsche zu einem Rollenspiel genötigt, pflegt diesen abzubügeln: „Halt die Klappe, ich hab Feierahmd!“ Der einzige, immer gleiche Satz, den er in 28 Minuten zu sprechen hat. Und während der Abspann läuft, hört man gewöhnlich Ingo Dittsche im Off schelten („Siehste!“), nurmehr gedämpft (respektlos ja sowieso nie), und Dittsche selbst zollt dem Erholungsbedürfnis der arbeitenden Bevölkerung Tribut, indem er ein Deut kleinlauter wird. Zum Schluss der erwähnten Folge aber, das bisher einzige Mal, rastete Stoiker Schildkröte aus und räuberte mit seinem Generalbass was von „Jacke kaputtgemacht“ und „Das bezahls‘ du!“ Dabei hatte Dittsche ihm unter die Arme gegriffen! Zwar vordergründig, um vertrauensbildenden Maßnahmen nachzustellen, die ein Trainer bei Fußballspielern anwendete, indem er einen den anderen auffangen hieß, aber immerhin.
Ein großes gesellschaftliches Thema, gespiegelt in einer einzigen winzigen Szene, ohne Pathos, geschweige denn Sentimentalität – welche deutsche Serienproduktion kriegt das so leicht und dennoch schmerzlich schön hin? (Außer die ebenbürtigen, leider allzu sporadischen „Blind Dates“ mit Engelke.) Und: Dittsches Welt ist konsistent wie eine Saga. Seit der zweiten Staffel fügt er immer häufiger persönliche Vignetten zwischen seine verschwörerischen Trugbilder. Kein Zufall, sondern kalkulierter Kunstgriff: Auf subversive Weise, so Dittrich, soll der Zuschauer Dittsche immer näher kennenlernen. Stück für Stück bekommt er, was ihm gebührt: die Ehre einer Biografie.
Hätte er nicht gar das Zeug zum Kinohelden? Dittrichs: „Absolut! Es gibt sogar schon eine Grundidee, Dittsche aus den vier Wänden des Imbisses in die, wirklich wahre Welt‘ seines persönlichen Alltags zu holen. Aber das wäre wirtschaftlich noch ein zu großes Risiko. Man muss erst mal sehen, ob Dittsche zu einem breitenwirksamen Helden werden kann, für den Leute an der Kinokasse zahlen würden. Kino ist ein ganz anderes Geschäft.“
Dittsche, der heilige Narr; der Schamane der sich schließenden Kreise; der Prophet der „Muckeligkeit“. „Muckelig“ ist nicht von ungefähr einer von Dittsches Lieblingsbegriffen, angewendet etwa auf eine Familie von Waschbären, die sich angeblich unter seiner Badewanne „schön muckelig aufhalten“. Aus dem hamburgischen Idiom geboren, wäre diese Fhantasievokabel noch schwerer übersetzbar als die berühmte deutsche „Gemütlichkeit“, und sie umschreibt mit fast lautmalerischer, sanfter Wucht (ohne die Marschmusik-Pauken der grad mal wieder grassierenden Heimat-Debatten) eine universelle Sehnsucht nach Nestwärme, wie sie oft nur noch in lebendiger, gesprochener Sprache zu finden ist. „Muckelig“ ist ein Schlüsselzitat, aufgegriffen im Tonfall der Uneigentlichkeit, aber alles andere als ironisch.
Dittsche zu Ingo: „Mit dem Selort zusamm‘ wirs‘ du alt. Das is‘ immer neuer Selort, aber du wirs‘ mit deine Selorde alt. Weil du dein‘ Betrieb nämmlich liebs‘. Nä? Ich weiß das, dö. Das gibt dir Geborgenheit, diese Gurken, nä?“
Uns Steppenwölfen gibt Dittsche mehr als Gurken: something warm to come to.
Schriftsteller Frank Schulz debütierte 1991 mit dem Roman „Kolks blonde Bräute“, der mit „Morbus Fonticuli“ und „Das Ouzo-Orakel“ seine Hagener Trilogie bildet. Zuletzt erschien 2010 sein Erzählband „Mehr Liebe“.