Die gruselige Unterschicht
Als im August 2002 der VW-Manager Peter Hartz sein umstrittenes Reformkonzept für den Arbeitsmarkt vorlegte, begann auch die Karriere des Berliner Rappers Sido. Dessen „Arschficksong“ entwickelte sich zum Smash-Hit der Schulhöfe, weil er die Dinge offen, derbe und nicht ganz unlustig beim Namen nannte: „Den Leuten fällt es auf, wir reden ständig über Scheiße, egal ob flüssig, feste, braune oder weiße.“ Die von zuviel und dem falschen Medienkonsum geschädigten Kinder der neuen Unterschicht hatten angefangen, sich ihre eigenen Reime zu machen. Und das Label Aggro Berlin bot ihnen dafür ein willkommenes Forum. Als Wirtschaftsminister Wolfgang Clement dann im August 2004 die Presse über die anstehende Hartz-I V-Reform informierte, befand sich Sidos Debütalbum „Maske“ längst auf Platz 3 der deutschen Album-Charts.
Seitdem lesen, sehen oder hören wir fast täglich Neues über die Dummheiten, Peinlichkeiten und Frechheiten, die sich die sogenannte Unterschicht erlaubt. Ihre Ernährungsgewohnheiten (Fastfood), Einkommensverhältnisse (Hartz-IV, Mindestlohn) und Freizeitvergnügungen (TV-Glotzen und Kindermachen) stehen unter strenger Beobachtung – uns allen zur ständigen Ermahnung. Der Kapitalismus scheitert scheinbar an seinem eigenen Anspruch, gebiert Passivität und vereinzelte Glückssüchtige statt Teilnahme und wirklich freie Menschen. Frei wählen kann nur, wer im Sinne des Systems die richtige Wahl trifft, behauptet der Philosoph Slavoj Zizek in seinem soeben erschienen Buch „Auf verlorenem Posten“. Der Graben zwischen Bio-Metzger und Aldi-Kühltheke wird also immer breiter.
Ist es da ein Wunder, dass ein Bundesbank-Vorstand schon als „mutig“ gilt, weil er Stammtisch-Parolen krachend auf den Punkt bringt? „Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert,“ tönte Thilo Sarrazin in seinem Interview mit „Lettre International“. Wie mutig von dem Mann! Hat er keine Angst, dass die sicher zahlreich vorhandenen und vermutlich gewaltbereiten Brüder und Neffen der „Kopftuchmädchen“ mal „auf ein Wort“ bei ihm vorbeischauen? Die „FAZ“, begeistert von soviel Zivilcourage, springt dem notorischen Pöbler tollkühn zur Seite: „In Wahrheit werden die Zonen des Unsagbaren immer weiter ausgedehnt, wird die Redefreiheit von der Redeform abhängig gemacht, die Meinungsfreiheit konfektioniert.“ Toll, wie beliebt das Vokabular der stets betroffenen 68er inzwischen auch unter Kronberger Eigenheimbesitzern ist. Trotzdem: Von der Couch bei Anne Will bis zu den Leserbriefseiten der „FAZ“ stehen eher zuviel Foren für „mutige“ Honoratioren zur Verfügung. Migranten, Hartz-IV-Empfänger und andere von prekären Lebensverhältnissen Betroffene spuken bloß als Gespenster durch die Medien und sorgen für den wohligen Grusel der Besserverdienenden. Ein Dialog findet nicht statt.
Dieser Mangel an Realität erklärt zum Teil auch den Erfolg von Sido, dessen neues Album „Aggro Berlin“ vor kurzem erschienen ist. Der 29-jährige ehemalige Underdog ist inzwischen hoch beliebt als der nette Rapper von nebenan, ein geläuterter Kleinkrimineller mit Herz und Schnauze, der seine Mama lieb hat und der letztes Jahr sogar in die Jury von „Popstars“ durfte. Dass man ihm im April den Führerschein wegnahm, passt zum Image des ewigen Problemkinds. Was Sido so liebenswert macht, sind sein Witz und seine freundliche Authentizität Er besitzt nicht den aggressiven Aufstiegswillen des Kleinbürgers Bushido. Sido ist eher eine Figur wie aus einer Coming-of-Age-Geschichte Hollywoods: einer, der Scheiße baut, dafür bezahlen muss und trotzdem wieder Scheiße baut. Die lächerliche Maske der frühen Tage hat er längst abgelegt, zugunsten schicker Brille und cooler Frisur. Fast ein bisschen schade.
Doch die Repräsentation der „neuen Unterschicht“ haben ohnehin längst andere übernommen. Und wir reden nicht von Bushido und dem alten Wer-wird-Millionär-Traum, der dem HipHop eingeschrieben ist. Bereits vor zwei Jahren sorgten die Berliner Rapper von Deine Ltan mit ihrem Video „Fickt die Cops“ für helle Aufregung auf YouTube: brennende Barrikaden, verprügelte Polizisten, erschreckender Hass.
Es stimmt nicht, dass die Unterschicht nur RTL 2 guckt, dabei Hamburger futtert und ab und zu den Bälgern eins überzieht. Einige haben längst angefangen, auch mal einen PKW abzufackeln. Noch ist es in der Regel meist der Lada des Nachbarn. Doch was, wenn sich die Depravierten aus ihren Ghettos wagen?
„Fördern und Fordern“ klingt da so überholt wie „Freiheit statt Sozialismus“. Wir müssen zuhören und reden. Mit der Unterschicht. Und nicht nur zum Spaß.