Die grüne Revolution
Grüne Energiewende, grüne Wahlsiege: Deutschland, einig Ökoland. Was ist da bloß los? Das kann uns nur Schriftsteller Joachim Lottmann mit einer literarischen Reise durch die Republik beantworten.
Zum ersten Mal sehe ich sie selbst, die Wutbürger aus dem Fernsehen, und es sind viele, und sie sind überall, vor allem hier im Innern des berühmten halb zerstörten Stuttgarter Bahnhofs, dessen Reste sie grimmig und mit erhobenen Nordic-Walking-Stöcken verteidigen. Diese alten, stolzen, rechthaberischen und eben ungeheuer wütenden Menschen, die den aufrechten Gang üben nach dem zweiten Schlaganfall, sind nun die Sieger der Geschichte. Ihre Revolution hat das alte Regime hinweggefegt. Die CDU regierte das Land 58 Jahre lang. Der alte Herrscher, ein dicker Mann namens Mappus, ist wie vom Erdboden verschluckt, wie Ben Ali in Tunesien oder Mubarak in Ägypten.
So wie hier ist die Stimmung überall in Deutschland. Doch bleiben wir noch kurz im ‚Stuttgart 21′-Bahnhof, dem Tahrir-Platz der grünen Revolution. Majestätisch langsam schieben sich die glänzenden, rotlackierten Loks der Deutschen Bundesbahn heran bis zu den Endpuffern. Was für ein Gefühl des Reisens, des Ankommens! Kein husch, husch! Kein abgefuckter, hingerotzter Durchgangsbahnhof à la erweiterte U-Bahn-Röhre. Eine extrem hohe Decke wölbt sich darüber, höher und sakraler als jedes normale Kirchenschiff. Ein Heiligtum sollte geschleift werden! Ein Wahrzeichen der Stadt. Eine Erinnerung an die 30er-Jahre, als die Wutbürger noch jung waren und sich auf andere Weise abreagieren konnten.
Jetzt stehen sie da, bohren ihre unvermeidlichen Nordic-Walking-Lanzen in den Schutt, den Mappus‘ Leute zurückgelassen haben, und sagen Sätze wie: „Wir haben so viel bewegt, in allen Ländern, für die Sache. Das Ausland schaut auf uns. Jeder da draußen weiß jetzt: des darf net sein, was die hier versucht ham. Man muss gut zu der Welt sein!“
Es gibt auch eine junge Wutbürgerin, das ist die Abo-Verkäuferin der „Süddeutschen Zeitung“, eine minderjährige Türkin. Sie freut sich genauso über den Sieg der Grünen: „Isch hab misch so gefreut, isch musste weinen.“ Als sie meinen „Mappschiedsparty“-Button sieht, den mir gerade Elfie von der Mahnwache für einige Spenden-Euro an den selbst gehäkelten Ökopulli geheftet hat, schenkt sie mir ein SZ-Probe-Abo.
Dieser Sieg war erst vor wenigen Wochen, und praktisch schon jetzt ist die fundamentale Energiewende Gesetz geworden. So schnell hat nie zuvor eine siegreiche Bewegung Nägel mit Köpfen gemacht, hat alle gesellschaftlichen Kräfte auf ihre Seite gebracht. Rote, Schwarze, Gelbe, Dunkelrote: alle sind jetzt Teil der grünen Bewegung.
„Das Ausland“, von dem eben die Rede war, findet diese Bewegung aber gar nicht so toll, sondern hochgradig grotesk. Schon wieder ein deutscher Sonderweg, ohne Frage. Stuttgart als Stadt der Bewegung flößt nicht nur den männlichen Spitzenleuten der CDU, die in Scharen aus der Politik ins Private fliehen (von Beust, Koch, Merz, Müller) Angst ein. Sie ahnen wohl, was noch alles auf sie und uns zukommt. Der Aufstand der Heimat.
„Überall erkennen die Menschen, dass wir Grünen die wahre Partei der Heimat sind“, frohlockt Bürgermeister Thomas Müller, der die CSU verlassen hat und zu den Grünen übergelaufen ist. Ihm folgt das Gros der politisch Interessierten des Ortes, der Bayerisch Eisenstein heißt. Die größere Nachbarstadt Zwiesel fällt bald als nächster Dominostein. Der aussichtsreichste Kandidat für die dortige Bürgermeisterwahl erscheint an diesem Tag überraschend bei der Neugründung eines grünen Ortsverbandes. Gebückt, die glühenden Kohleaugen starr geradeaus gerichtet, sitzt er in der aufgeheizten, schwülwarmen Öko-Holzhütte, in dem die Neugründung stattfindet. Es ist die Stunde des Verrats für ihn. Aber bald werden die meisten seiner CSU-Spezies folgen, hofft er im Stillen. In ganz Bayern laufen sie ja jetzt in Scharen zu den Grünen über, jedenfalls auf dem Land.
Wer seinen Boden liebt, sein Vieh, sein treues Weib, sein eigen Fleisch und Blut, der schließt sich der neuen Bewegung an. Einer tut es besonders rasant, im fabrikneuen Achtzylinder Super SUV, dem größten Riesenjeep, den BMW je baute. Mit 233 PS rast Bürgermeister Müller durchs Unterholz, als wäre es Sebastian Vettels Lieblingsrennstrecke. Dazu gehört verdammt viel Fahrkunst, denn 98 Prozent des Bayerischen Waldes sind reiner Baumbestand.
Der Mann ist aber alles andere als doppelmoralisch. Sein PS-Monster gilt vom Verbrauch her als besonders vorbildlich. Und Müller braucht so ein Auto: Er ist in 26 Vereinen Mitglied und fast 24 Stunden am Tag für die Menschen im Einsatz. Er muss wohl, wie Gandhi, ohne Schlaf auskommen. Er ist diese Sorte Mensch, die immer liebt und immer helfen will. Alle mögen ihn, und wenn ER bei den Grünen ist, braucht die Gemeinde keinen Pfarrer mehr. Müller gründet fast täglich neue Öko-Einrichtungen. Natürlich ist sogar der Friedhof nun von ganz anderer Art. Er heißt „Trauerwald“ und kommt ohne Grabsteine aus. Die Toten werden zwischen den Wurzeln der Tannen vergraben und werden bald eins mit diesen. Sie gehen zurück in die Natur. Die katholische Kirche ist verzweifelt. Immer weniger wollen ihre Verstorbenen im „richtigen“ christlichen Friedhof bestatten, neben dem schönen Kirchlein, dessen feine Glocke noch immer ruhig und traurig die volle Stunde schlägt. Wer weiß, was man aus diesem Gebäude bald machen wird. Ein Informationszentrum für Kompost-Wärme-Bio-Recycling? Mindestens.
Grünen-Müller darf auch standesamtlich trauen. Mehrmals die Woche verheiratet er ganz offiziell und behördlich anerkannt Öko-Paare vor der höchsten und ältesten Tanne Europas. Sie liegt in seinem Wahlkreis und ist 600 Jahre alt. Dann steht das naturbelassene Mädel im Jute-Umhang neben ihrem Liebsten und haucht: „Ja, ich will!“ Der löst seinen Pferdeschwanz, schüttelt das volle Haupthaar und küsst der Braut ins erhitzte, hochrote Gesicht; es ist unerträglich heiß und stickig in einem 24.300 Hektar großen Gebiet, das nur aus dahinmodernden, ächzenden Bäumen besteht.
Beim neuen grünen Ortsverband geht es gleich munter zur Sache, wie damals in den 70er Jahren. Wer macht den Schriftführer, Beisitzer, Vorsitzenden, den Delegierten, die Vorstandsschaft, das einfache Parteimitglied … überhaupt dieses Wort: Parteimitglied. Wie lange hat man es nicht mehr gehört? Oder Info-Tisch. Flyer. Flugblatt. Info-Mappe. Geschäftsordnungsantrag. Doppelspitze. Ortsversammlung als Vorbereitung für die Kreisversammlung als Vorbereitung für das Bürgerbegehren. Wer macht die Liste, wer macht … und so weiter. Die totale Begeisterung. Alle wollen organisatorisch was machen. Es geht looooos …
Nach der erfolgten Gründung reden dann alle mit glänzenden Augen über die eigene Wassermühle, die sie sich wünschen, das Windrad, den selbst betriebenen Kühlschrank, dessen Abwärme wiederum in irgendetwas anderes umgewandelt werden soll … ich kann kaum folgen, so heiß geht es her. Und immer geht es um Müll, Energie, und wieder um Müll und Energie. Undenkbar, dass auch nur ein einziges politisches Thema interessieren könnte. Freiheit? Menschenrechte? Unterdrückung? Emanzipation? Bewusstsein? Die Zerstörung aller Werte durch den Kapitalismus? Häh?? Was?! Die Müll-Fanatiker würden einen anschauen, als käme man vom Mond. Für sie ist das Leben nichts als ein einziger Komposthaufen, und das ist gut so, würden sie stolz hinzufügen. Für den Bürgermeister gilt das nicht. Er hat wirklich gute Ideen, dazu später.
Während meiner ganzen Reise durch Öko-Deutschland bekam ich es regelmäßig mit zwei Missverständnissen zu tun. Das eine war der Satz: „Du schreibst für die Rolling Stones? Find‘ ich gut, die höre ich auch immer.“ Das andere war der Vorwurf, ein Egoist zu sein. Weil ich nämlich zugab, die in 20.000 Jahren sich auflösenden Brennstäbe unwichtig zu finden. Dann kam sofort der Vorwurf – und er wurde mit der denkbar größten Verachtung hervorgestoßen – ich interessierte mich einzig für mein Leben und nicht für die Menschen, die in 20.000 Jahren lebten oder in 300.000 (die Berechnungen schwankten). Nun ist es klar, dass jemand, der heute über die Probleme der Menschen in tausend Generationen nachdenkt und über sie entscheiden will, in die Psychiatrie gehört. Mich erinnert dieser Wirklichkeitsverlust an die Runenforscher, die allen Ernstes Theorien über die „Lichtmenschen“ vor Zehntausenden von Jahren verfassten, wundervolle Arier, denen wir Germanen nacheifern sollten. Tatsächlich geht die Menschheit aber schon in der nächsten Generation unter, wenn statt 6 Milliarden Menschen 13 Milliarden herumlaufen. Oder diesen Herbst, wenn Griechenland pleitegeht, was laut Experten folgenreicher sein soll als die Lehman-Pleite.
Also – man hat es bei der grünen Bewegung mit gefährlichen Idioten zu tun, die die realen Gefahren vernebeln. Das sind klassische Eskapisten. Die könnten auch alle LSD nehmen oder eine Wiedertäufer-Sekte bilden. Aber okay, sie sind da, sehen wir sie uns an.
Um gleich den zuverlässigsten Test zu machen: welche Musik hören diese Leute? Boris Palmer, seit 2007 Oberbürgermeister von Tübingen, ein Thirtysomething mit Fünf-Tage-Bart und DDR-Rundschnittfrisur, hört gern Dire Straits, Police, Sting, BAP, Foreigner, Shakira und Anastacia. Mit Betonung auf Dire Straits. Das ist die Band, deretwegen ich als junger Mann einst aus der „Spex“-Redaktion geflogen bin. Es kam nämlich das Gerücht auf, meine damalige Freundin und spätere Frau Caroline Nathusius höre privat diese Gruppe. Natürlich dementierte ich heftig. Aber die „Spex“-Oberen waren keine Dummen. Sie schickten einen getarnten Emissär zu ihr, der einen günstigen Moment abpasste und die Plattensammlung durchsah.
Man war damals, in den 80ern, sehr streng, wie sich die Leser der ersten Stunde erinnern werden. Wer Dire Straits hörte, war auch sonst ein Depp. Das trifft auf Boris Palmer aber auf keinen Fall zu. Die Schlichtungsrunden um Stuttgart 21 hat er wie kein Zweiter dominiert. Wenn er sprach, wurde binnen acht Minuten alles klar. Sobald der Nächste sprach, wurde es wieder uferlos und dunkel. Dann ging es wieder um Gleisbettreserve, Tangentenverkrümmung, Minutenfahrgastvolumen und Umstiegstransparenz. Also um Eisenbahnchinesisch statt um das gigantische Immobilienprojekt, das in Wahrheit dahintersteckte. Boris Palmer wurde damals mein Held. Nun sitze ich mit ihm im IC-Zug von München nach Stuttgart, Erste Klasse, eigenes Abteil, samtrote Sessel wie im Herrenclub, schwere Vorhänge. Eben die gute alte Erste-Klasse-Qualität der Vor-Wende-Zeit. Ein Schaffner klopft schüchtern an die Kabinentür, tritt ein, lupft die Mütze, fragt, ob er uns einen Kaffee bringen dürfe. Palmer ignoriert ihn, schwärmt von der schönen Frontfrau von Juli, seiner Lieblingsband. Gelesen hat er wenig, eigentlich nur Perry Rhodan – alle 875 Folgen – und später „Der Schwarm“ von Frank Schätzing. Da hat es dann gezündet im Kopf. So wurde er selbst Perry Rhodan, im wirklichen Leben.
Er gilt als sogenannter Öko-Schwabe. Das sind Menschen, die das schwäbisch-spießige Häuslebaue mit ökologischen Elementen verbinden. Also a grüns Häusle baue, ansonsten aber spießig bleiben. Sein Vater war bereits Politiker, und er selbst hat auch nichts gegen Unternehmer. Das sind anständige Leute für ihn. Mittelständler. Bürger mit ethischen Standards. Der Reizgas-Wasserwerfer-Einsatz gegen Kinder hat dann auch den ganzen Mittelstand zu den Grünen getrieben. Palmer glaubt nicht an die große Korruption (wie das sonst Grüne gern tun). Ein Prozent maximal, alles andere läuft korrekt ab. Die Entscheidungen laufen entlang anderen Kriterien: die Rechten glauben an die normative Kraft des Faktischen – hat man erst mal eine Einkaufs-Mall, ein Großprojekt, irgendwas monströses Neues hingestellt, mögen es die Bürger auch. Weil es eben neu ist. Weil man die nichtrealisierte Alternative nicht sehen kann.
Ehrlich gesagt: Genau so ist es. Selbst die kritischen Berliner haben sich an den eiskalten, inhumanen, neuen Hauptbahnhof gewöhnt, dessen einzige Idee ist, alles unfertig aussehen zu lassen, postmodern eben. Wüssten sie, wie schön ein Bahnhof aus Stein und Naturstoffen aussehen kann, der mehr ist als ein einziges Stahlgerippe, würden sie dasselbe mitsamt den Millionen offenliegenden Nieten in die Luft sprengen.
Insider in der Partei handeln Palmer als den Kanzler in sechs Jahren. Schon jetzt hätten die Grünen bei einer Wahl die Mehrheit mit der SPD als Juniorpartner. In zwei Jahren dürfte die Frage aktuell sein: Wer macht’s? Dann ist Palmer noch zu jung. Claudia Roth ist unzumutbar, vor allem nach der Merkel-Ära. Renate Künast wirkt nur noch wie ein zerzaustes altes Spielzeug aus Kindertagen. Trittin kann aus gesundheitlichen Gründen eigentlich nicht, tritt aber trotzdem an, übergibt dann beim nächsten Mal an Palmer. Er ist der strategische Kopf, der Realist, der grüne Obama. Natürlich sagt das keiner, aber es ist allen klar.
Aber wollen wir wirklich einen Kanzler, der daheim im Öko-Häusle bei Dire Straits Luftgitarre spielt? Der unter den Aktenbergen beim G20-Gipfel ein zerfleddertes Perry-Rhodan-Heftchen liegen hat? Vorige Woche brachte er ein Positionspapier in Umlauf, in dem er schreibt, die grüne Forderung nach dem uneingeschränkten Adoptionsrecht für homosexuelle Paare sei derzeit kein gutes Thema. Die Grünen waren derart vor den Kopf geschlagen, dass ihnen die Worte fehlten. Ein Schwulenfeind in ihren Reihen? Einer, der Transsexuelle, politische Pädophile und fundamentalistische Gender-Aktivisten diskriminiert? Der soll Kanzler werden?!
Ja, hoffentlich. Aber es gibt auch andere Top-Leute, etwa Siegfried Benker, Vorsitzender der grünen Fraktion im Münchener Stadtrat. In seinem Amtszimmer hängt ein Schild mit dem furchtbaren Satz, der schon oft zu einer falschen Erziehung und somit zu Rabaukenkindern geführt hat:
„Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt. DIE GRÜNEN.“
Schon seit 21 Jahren regieren die Grünen zusammen mit der SPD die bayerische Hauptstadt, aber solch einen Zulauf wie jetzt gab es noch nie. 50 Prozent mehr Mitglieder seit Fukushima! Der Mann kann es noch gar nicht fassen, denkt an all die Demütigungen, denen er und die Grünen jahrzehntelang ausgesetzt gewesen waren:
„Wenn ich sehe, wie engagiert die jungen Leute sind, die jetzt zu uns kommen, die Neumitglieder, wie sie bis 23 Uhr, 24 Uhr bleiben und weiterdiskutieren wollen, bin ich einfach überwältigt!“
Die grüne Revolution sieht er ganz offen als deutschen Sonderweg. Dass kein anderes Land der Welt so etwas erlebt, liegt an der Nazi-Vergangenheit: „Wer gegen AKW war, bekämpfte den Staat. Die Staatsfeindlichkeit rührte noch von der früheren Nazi-Durchdringung des Staates her. Anders gesagt: Als Strauß starb, war auch Wackersdorf tot.“
In Berlin macht sich einer auf den Weg nach oben, dessen Vater die Grünen einst gründete: Rudi „Marek“ Dutschke. Er betont das Wort Marek, um nicht gänzlich mit seinem Vater verwechselt zu werden, dem er buchstäblich zum Verwechseln ähnlich sieht. Marek Dutschke also ist eine feste Größe bei den „Jungen Grünen“, der Jugendorganisation, und besitzt bereits einen eigenen Wahlkreis in Berlin. Zusammen mit seiner Mutter Gretchen sucht er den mitmenschlichen Kontakt zu seinen Wählern. Da er vom Vater auch noch das Charisma in erstaunlicher Weise geerbt hat, wird auch Marek ein Kabinettsposten zugetraut – eines Tages. Zurzeit läuft er durch Berlin wie einst Rudi kurz vor der Erstürmung des Springer-Hochhauses: voll Euphorie und Tatendrang. Kann aber auch daran liegen, dass er gerade Vater geworden ist. Rudi Dutschke III soll einmal im grünen Paradies leben, im Garten Eden namens Deutschland!
Es gibt auch Millionärs-Grüne, und die zelebrieren ihren seltsamen Lebensstil vor allem in Schwabing. Ökoladen reiht sich an Ökoladen, unterbrochen nur von neuen Ökocafés, die im Wochentakt eröffnet werden. Die Sachen sind so teuer, dass der Gewinn für jeden garantiert bleibt. Sogar Nichtvegetarier können sich an „Schweinsbraten vom Bio-Schwein mit Dampfbiersoße vom Ökohof Mostbertl“ erfreuen. Doch die meisten stürzen sich ins vegetarische oder vegane Business.
Zu Hause leben die 70er wieder auf, etwa bei Familie Schliemann. In die kleinen Zimmer fällt weiches, durch indische, transparente Vorhänge gedämpftes, wohltuendes Licht. In jedem Raum ist mindestens eine Wand eine reine Bücherwand, allerdings nicht ordentlich gefüllt und alphabetisiert, sondern mit Millionen Gegenständen angereichert, Schminksachen, Ordnern, alten Puppen, Abschleppseil, Nähzeug, Faschingsmasken, halb aufgefutterte veganen Pralinen, aber eben auch Büchern: „Die Kunst, gelassen zu bleiben“, Carlos Castanedas „Die Kunst des Träumens“, Jacob Needlemans „Vom Sinn des Kosmos“, Greil Marcus‘ „Like A Rolling Stone“, das unsägliche Fritz-Riemann-Buch „Grundformen der Angst“, Rainer Langhans‘ „Die Mitte der Dunkelheit“, „Das Erwachen der Kundalini“ … Ich schlage das Langhans- Buch auf und lese das vorangestellte Motto: „Mitten in der Dunkelheit bin ich, in der Mitten Dunkelheit nimm mich.“
Ich stelle es ehrfurchtsvoll zurück. Die ganze Familie ist naturkostfanatisch, seit drei Generationen. Tatjana erzählt über ihre Großmutter, die immer im Reformhaus einkaufte: „Dort gab es aber nur so ganz wenige, komische Produkte, wie Leinsamen oder Vitam-R“, lacht sie. Sie jobbt selbst in einem Öko-Bäcker am Josephsplatz. Beim Wort „Atom“ wird ihr Gesicht dunkel vor Wut: „Atom ist schlecht! Willst du mal sehen, welche Strahlung wir hier haben?“
Sie holt einen Mini-Geigerzähler hervor und drückt auf zwei Knöpfe. Die Zahl 0,87 erscheint. „Ganz schön heftig!“, sage ich. „Das ist noch gar nichts. Was meinst, wie das Teil erst spinnt, wenn Isar I in die Luft fliegt!“ „Kannst du laut sagen, Tatjana.“ Oder auch nicht. Das AKW vor den Toren Münchens ist gerade stillgelegt worden. Unumkehrbar, wie die Kanzlerin sagt. Aber ich will dem Kind nicht widersprechen. Das ist nämlich nie gesund, bei Revolutionen.
Joachim Lottmann, 54, ist Schriftsteller und Autor. Im Herbst erscheint sein neuer Roman „Unter Ärzten“ (Kiepenheuer & Witsch). Er pendelt zwischen Wien und Berlin. Bekannt wurde er mit Büchern wie „Mai, Juni, Juli“ und „Die Jugend von heute“.