Die Geburt des Techno: Juan Atkins über die Anfänge der Dance-Music-Revolution
Der DJ, Produzent und Plattenlabel-Chef über seine Jugend in Detroit, seine Pionierarbeit und die Zukunft des Techno
Als ich einmal in der Wohnung von WestBam am Berliner Alexanderplatz saß, fiel der Name Juan Atkins. „Ohne ihn wären wir wohl alle nichts“, sagte der Berliner DJ. Ich war überrascht zu erfahren, dass sich die beiden nie begegnet waren. Der Zufall wollte es, dass Atkins, den ich in der Vergangenheit schon getroffen hatte, an diesem Abend in der Stadt war. Also luden wir ihn spontan zu uns ein, und 20 Minuten später kam er zum Essen vorbei. WestBam behandelte Atkins wie seinen Großmeister.
Ich hatte Juan Atkins zum ersten Mal vor mehr als zehn Jahren auf einer Party in Berlin getroffen. Der Architekt des Techno entpuppte sich als ein sehr unkomplizierter, warmherziger und lustiger Mensch. Unsere Hintergründe und Karrieren könnten kaum unterschiedlicher sein: Er, der DJ, Sohn eines schwarzen Drogendealers in Detroit. Ich, der Journalist und Medienchef, wurde geboren in einer behüteten deutschen Mittelklassefamilie. Trotz der Unterschiede haben wir beide als Bassgitarristen angefangen, wir haben den gleichen Musikgeschmack und wollten beide als Kinder Popstars werden. Aber nur Atkins hat es geschafft.
Im Laufe der Jahre haben Atkins und ich viele Gespräche über die Ursprünge und die Entwicklung des Techno geführt. Je mehr ich erfuhr, desto mehr wurde mir klar, dass Atkins‘ Rolle zwar einigen Insidern bekannt ist, aber die breite Öffentlichkeit wenig von ihm weiß. Also fragte ich ihn eines Tages, ob wir uns zusammensetzen und über seine Entwicklung als Musiker und seinen Beitrag zu dem sprechen könnten, was ich in Anlehnung an Miles Davis‘ Album „Birth of the Cool“ von 1957 als die „Geburt des Techno“ bezeichne. Atkins willigte ein.
In diesen Tagen ist er so beschäftigt wie eh und je: Er hat seine bahnbrechende Techno-Band Cybotron wiederbelebt (mit dem Segen des Mitbegründers Rik Davis), eine EP („Maintain The Golden Ratio“) veröffentlicht und ein neues Album („12“) auf dem Weg gebracht. Außerdem plant er die Veröffentlichung des neuen Tracks „I.D.L.E.“ unter seinem Pseudonym Model 500 auf Metroplex Records, mit einem DJ Stingray-Remix auf der B-Seite.
An einem sonnigen, aber kalten Januartag fuhr ich in das Viertel Green Acres in Detroit, das erstaunlich langweilig aussieht. Einzelne Stadthäuser auf kleinen Grundstücken. Die meisten stammen aus dem frühen 20. Jahrhundert, rote Backsteinbauten, gemütliche Einfamilienhäuser. Atkins‘ Haus liegt an einer Ecke zu der Straße, in der Aretha Franklin gewohnt hat.
Seine Frau öffnete die Tür mit einem Lächeln: Atkins mache sich gerade fertig, erzählte sie mir; sie hätten gestern eine lange Nach gehabt. Ich fragte, ob ich mir noch etwas die Füße vertreten solle. Ihre Antwort: „Nein, das ist zu gefährlich. Es gibt hier viele Schießereien. Gestern haben sie einen Mann auf der anderen Straßenseite getötet. Kommen Sie rein!“
Ein paar Minuten später tauchte Atkins in grauen Jogginghosen auf und bat mich in sein kleines Büro. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, mit geradem Rücken, wie ein Boss. Hinter ihm hingen gerahmte Notenblätter von „Amazing Grace“. Wir öffneten zwei Flaschen Heineken und begannen unsere Reise durch die Musikgeschichte.
JUAN ATKINS: Also gut, die Presse ist da.
MATHIAS DÖPFNER: Ich würde gerne mit Ihrer ersten Erinnerung an Klang beginnen.
Da kann ich mit der Zeit anfangen, als ich noch im Bauch meiner Mutter war. Meine Mutter erzählte mir, dass ich mich auf eine bestimmte Weise in ihrem Bauch bewegte, wenn sie bestimmte Lieder spielte – und nur, wenn sie diese spielte. Sie hat also gemerkt, dass ich darauf reagiere.
Hat sie Ihnen gesagt, welche Songs?
Sie hörte hauptsächlich Motown. Das war in den Sechzigern, und ich wurde 1962 geboren. Die ersten Songs, an die ich mich erinnern kann, auch nach meiner Geburt, waren hauptsächlich Motown-Sachen. „Cool Jerk“, zum Beispiel. „Cool Jerk„ und Aretha Franklin. „Respect“ und die meisten ihrer frühen Hits. „Light My Fire“ von den Doors, „Jimmy Mack“ von Martha and The Vandellas, „Tears of a Clown“ von Smokey Robinson and The Miracles und „Foxy Lady“ von Jimi Hendrix.
Haben Sie persönliche Erinnerungen an einen Sound oder an Klänge, die Sie als kleines Kind beeindruckt haben?
Ich kann sagen, dass das Einzige, was für mich mit Klang zu tun hatte, immer Musik war.
War es mehr Melodie oder mehr Rhythmus?
Ich stand mehr auf Rhythmus. Meine Mutter erzählte mir, dass ich immer so auf der Couch hin- und hergerutscht bin [Atkins demonstriert die Bewegungen]. Daran kann ich mich sogar selbst erinnern, obwohl ich nicht genau weiß, was mich da in Schwingung versetzt hat. Ich war noch sehr klein – ich konnte damals nicht einmal laufen – aber ich habe mich bewegt.
Wer waren Ihre Eltern?
Nun, meine Mutter war 15 Jahre alt, als sie mich bekam. Mein Vater war 17. Er war eigentlich Friseur, aber er hat auch eine kurze Zeit bei Ford Motor Co. gearbeitet. Doch dann wurde er eingesperrt wegen Totschlags, als ich zwei, vielleicht drei Jahre alt war. Meine Großmutter hat mehr oder weniger die Rolle meiner Mutter übernommen, weil meine Mutter wirklich zu jung war. Ich habe einen Bruder, der zehn Monate jünger ist als ich, also war es eine schwere Last für sie.
„Mein Vater verbüßt im Moment eine lebenslange Haftstrafe“
Hat Ihr Vater das Verbrechen zugegeben?
Lange Rede, kurzer Sinn: Es gab einen Kerl, der meine Mutter mochte, und er hat meinen Vater niedergemacht und auf der Straße über ihn hergezogen. Mein Vater hatte gerade ein nagelneues Auto bekommen. Ich schätze, der andere Typ war ein bisschen eifersüchtig, und sie fuhren die Straße entlang, die die Leute „The Strip“ [Visger Road – Red.] nannten, sie trennt die Bezirke Ecorse und River Rouge im Südwesten von Detroit. Dort gab es ein Barbecue-Restaurant, in dem alle abhingen. Mein Vater fuhr also den Strip entlang, und dieser Typ verfolgte ihn, verspottete ihn, machte Handzeichen und Gesten und beschimpfte ihn und so weiter. Mein Vater hatte irgendwann genug davon. Sein Freund gab ihm eine Pistole und sagte: „Hey, geh und kümmere dich darum.“ Und er ging hin und erledigte ihn am helllichten Tag. Ich glaube, er wurde zu [acht bis 15 Jahren] wegen Totschlags verurteilt.
Ist Ihr Vater noch am Leben?
Ja, er verbüßt im Moment eine lebenslange Haftstrafe. Er hat wieder etwas Schlimmes getan.
Was war es dieses Mal?
Diesmal hat er Lebenslänglich wegen Mordes bekommen. Mein Vater war ein Drogenboss. Er war ein Drogendealer.
Das klingt nach einer komplizierten Kindheit. Gab es auch glückliche Momente?
Ich hatte keine Zweifel an der Liebe, die meine Eltern und Großeltern mir entgegenbrachten.
Das war eine Selbstverständlichkeit, etwas, worauf man sich verlassen konnte?
Ich weiß nicht, was es war. Es war etwas, das ich fühlte, aber ich habe es mir nie bewusst gemacht, und ich habe die Liebe meiner Eltern zu mir nie in Frage gestellt.
Besuchen Sie Ihren Vater von Zeit zu Zeit im Gefängnis?
Ja, das machen wir öfter. Seit ich die Highschool abgeschlossen habe, sitzt er in demselben Gefängnis und verbüßt dort seine Haftstrafe. Ich weiß noch, dass ich neun Jahre alt war, als mein Vater nach seiner ersten Haft aus dem Gefängnis kam – weil er mir zu meinem zehnten Geburtstag eine E-Gitarre schenkte.
Weil Sie eine Gitarre wollten?
Nein, aber ich war schon immer musikalisch veranlagt. Das war etwas, das jeder irgendwie bemerkte. Er hat meinem jüngeren Bruder Aaron und mir zu Weihnachten immer Geschenke gemacht, und ich hatte meinen Bruder überredet, sich ebenfalls Musikinstrumente zu wünschen, damit ich sie auch benutzen konnte. Er wollte sie eigentlich nicht, aber ich brachte ihn dazu, dass er ein Schlagzeug bekam. Mein erstes Instrument war eine E-Gitarre. Es war eine Slingerland, und im Koffer war der Verstärker.
War Ihr Vater sehr musikalisch?
Er spielte Altsaxophon. Und er hat es mir ein wenig beigebracht.
Aber Sie haben die meiste Zeit mit Ihrer Großmutter verbracht. Inwieweit hat sie Sie musikalisch beeinflusst?
Meine Großmutter hat mich musikalisch viel mehr inspiriert, weil sie eine Hammond-B3 besaß. Wenn wir bei ihr wohnten, hat sie darauf gespielt. Hauptsächlich Boogie-Woogie. Und ich habe immer auf dieser Orgel herumgespielt.
Haben Sie viel geübt? An der Orgel und der Gitarre?
Die Gitarre kam lange nach der Orgel, aber ich war nie wirklich diszipliniert genug, so zu üben, wie ich es hätte tun sollen oder können.
Welcher war der erste Song, den Sie zu imitieren versucht haben?
Einen Song von Sly and the Family Stone, weil ich auch Bass gespielt habe. Das war eine klassische Basslinie, boom, ba boom boom boom … auch Eddie Kendricks‘ „Keep on Truckin’“. Das Schlagzeug habe ich zu diesen Platten nach Gehör gespielt. Ich habe mir das Spielen verschiedener Instrumente „nach Gehör“ beigebracht, wie man so sagt.
Sie haben mir erzählt, dass Ihr größter musikalischer Einfluss bis heute James Brown ist.
James Brown, P-Funk und bis zu einem gewissen Grad Motown. Motown vor allem, weil meine Eltern das gehört haben.
James Brown ist einer der einflussreichsten Musiker aller Zeiten. Das Wichtigste war meiner Meinung nach, dass er Instrumente, die eigentlich nicht Teil der Rhythmusgruppe sein sollten, in Schlaginstrumente verwandelte.
Das stimmt. James Brown ist der Pate des Funk, ein Musikstil, mit dem ich im Grunde aufgewachsen bin und der meine Musikproduktion am meisten beeinflusst hat.
In der James-Brown-Biografie gibt es eine bemerkenswerte Szene, in der Brown bei den Proben für einen neuen Song seine Bläser fragt, welche Instrumente sie spielen. Als sie mit „Saxophon“, „Posaune“ und „Trompete“ antworten, korrigiert Brown sie wiederholt mit den Worten: „Nein, ihr spielt Schlagzeug“. Für mich ist dies eine entscheidende und sehr aufschlussreiche Szene. Alle Blechbläser wurden darauf trainiert, auf rhythmische Weise zu spielen. Wie Schlaginstrumente oder die Gitarre. Und das ist genau das, was Jahre später zu elektronischer Musik und Techno geführt hat. Es dreht sich alles um Rhythmus. Der Rhythmus steht im Mittelpunkt.
Ganz genau.
Wie ist der Bass als Instrument in Ihr Leben gekommen?
Eigentlich hat ihn meine Großmutter gekauft.
Hat sie damals schon gemerkt, dass Sie besonders talentiert sind, und wollte sie Sie deshalb unterstützen?
Ja, sie hat mich immer unterstützt. Sie hat mir auch meinen ersten Synthesizer gekauft. Es war ein Korg MS-10.
Wie alt waren Sie da?
14 oder 15.
Hatten Sie zu diesem Zeitpunkt schon vor, Musiker zu werden?
Ich wusste schon immer, ich glaube, schon im Mutterleib, dass ich nicht nur Musiker werden wollte, sondern auch ein Popstar.
„Was den Sound angeht, war der Bass immer das, was mir am meisten zusagte“
Ein Popstar?
Ja. Eine Berufung. Etwas, von dem ich innerlich spürte, dass ich auf diesen Planeten gebracht wurde, um genau das zu sein, oder dass ich es zumindest versuchen sollte.
Welches war Ihr Lieblingsinstrument? Keyboard, Schlagzeug, Gitarre oder Bass?
Nun, was den Sound angeht, war der Bass immer das, was mir am meisten zusagte.
Wie Sie wissen, war ich früher auch Bassgitarrist. Für mich war es die Kombination aus Rhythmus und dem tiefen Sound. Die körperliche Erfahrung. Der Klang und die Vibrationen, die man mit dem ganzen Körper spürt. Wieso kamen Sie auf den Bass?
Weil man den Bass auf dem Synthesizer spielen konnte. Und davon wurde ich besessen. Als ich den Synthesizer entdeckte, öffnete sich mir ein ganzer Horizont, eine ganze Welt.
Als 14- oder 15-Jähriger wussten Sie also schon, dass Sie Musiker werden wollten. Haben Sie in Bands gespielt?
Ja, wir hatten das, was man Garagenbands nennt. Ich weiß nicht, ob es das in Deutschland auch so gab, aber man konnte durch die Nachbarschaft laufen und irgendwo in irgendeinem Block gab es immer eine Gruppe von Jungs, die in ihrer Garage jammten. Einer meiner besten Freunde zu der Zeit war Jimmy Smith, er war Bassist. Wir trafen uns zum Spielen. Natürlich konnte ich nicht Bass spielen, weil er es ja schon tat. Also spielte ich Schlagzeug oder was auch immer. Oder ich spielte die Gitarre, er den Bass und ein Typ aus der Nachbarschaft spielte das Schlagzeug. Das Instrument war für mich gar nicht entscheidend. Ich habe das eine Instrument nicht gegen das andere ausgespielt.
Das war eher die Einstellung eines zukünftigen Komponisten und DJs als die eines Popstars.
DJ war zu dieser Zeit nicht wirklich auf meinem Radar. Das Mixen von Platten war noch nicht erfunden, mobile DJs gab es nicht. Im Grunde wollte ich Sly Stone sein, mit einem neuen Juan-Atkins-Touch.
Also Musik und nur Musik. Irgendein Interesse an der Schule?
Die Musik und nur die Musik war immer mein Hauptinteresse. Allerdings habe ich in der Schule immer gute Noten bekommen, obwohl ich eigentlich oft sehr frech war. Ich habe den Kindern das Essensgeld weggenommen. Ich war in viele Schlägereien verwickelt, aber ich wurde nie verprügelt. Ich war gerissen. Es ging nicht um Stärke; ich wusste einfach, wann und wie ich zuschlagen musste. Ich wusste, welche Bewegung ich machen und wann ich jemanden packen musste. Ich war klug darin, in Deckung zu gehen.
Gab es einen Lehrer, der Sie in irgendeiner Weise beeinflusst hat? Jemand, der Sie inspiriert oder eine Liebe zur Musik hatte?
Ja. Ich belegte in der High School einen Kurs namens Zukunftsforschung. Und das Referenzhandbuch für diesen Kurs war „Future Shock“ von Alvin Toffler. Das war das Buch, das mich für Technologie begeistert hat.
Und warum war es so wichtig für Sie?
Weil es für mich wie ein Science Fiction war. Der Dozent hieß Mr. Fielder, glaube ich, und er war cool. Er war wie ein Hippie. In seinem Kurs lernte ich etwas über die Techno-Rebellen [eine Formulierung von Toffler]. Tofflers zweites Buch hieß „The Third Wave“, in dem ich etwas über den Metropolenkomplex lernte – den Metrokomplex, der sich später zu Metroplex entwickelte.
Man könnte also sagen, dass Tofflers Werk der Grund dafür ist, dass Sie die Musik, die Sie komponiert haben, später Techno und Ihr Label Metroplex genannt haben?
Ja, definitiv, das kam direkt von Toffler. Das Label Metroplex ist die Abkürzung für Metro Complex. Und ein Metroplex ist das Zusammenwachsen zweier Städte, wie der Dallas-Forth Worth-Metroplex. Irgendwann werden auch Detroit und Chicago zu einem Metroplex werden, wenn das nicht schon der Fall ist.
Wann haben Sie denn ernsthafte Ambitionen entwickelt, Musiker oder Produzent zu werden? Oder gar ein DJ?
Als meine Großmutter mir den Synthesizer kaufte, sah ich, dass ich die Fähigkeit dazu hatte. Als schwarzes Kind, das in Belleville [einem Vorort von Detroit, wohin Atkins als Teenager zog] lebte, war die nächste Person, die irgendein Instrument spielte, etwa 10 oder 15 Meilen von mir entfernt. Ich konnte nicht einfach um den Block spazieren und einen guten Bassisten oder Schlagzeuger auftreiben. Also musste ich einen Weg finden, all diese Dinge selbst zu machen. Und mit dem Synthesizer ist es möglich, all diese verschiedenen Sounds zu kreieren, so dass man fast eine Band sein könnte. Aber das Besondere daran war, dass alles elektronisch ist. Ich konnte sogar Schlagzeugsounds mit dem Synthesizer erzeugen. Mit ein bisschen weißem Rauschen und rosa Rauschen, und wenn man den Filter ein bisschen runterdrehte, hatte man eine Kick-Drum. So habe ich also angefangen, zu Hause meine eigenen Tracks zu machen.
Als mein Vater 1972 oder 1973 entlassen wurde, wohnten wir eine Zeit lang mit ihm im Hotel meiner Oma. Dort habe ich das meiste mit der Hammond-B3-Orgel gemacht. Danach zogen wir zu meinem Vater, der inzwischen ein Haus in der Northwest Side gekauft hatte. Es war von hier aus genau die Straße runter. Das war die Zeit, als ich meine Bassgitarre hatte. Es war eine Rickenbacker-Kopie; sie war nicht echt, aber ich mochte, wie sie aussah. Das war wirklich Rock’n’Roll. In dieser Zeit hab ich zu Hause Konzerte imitiert und bin mit dieser Rickenbacker herumgesprungen. Ich habe mir (die Hautreinigungscreme) Noxzema ins Gesicht geschmiert, damit es so aussah, als hätte ich weiße Kreide im Gesicht. Mein Vater war Motorradfahrer, also setzte ich seinen Helm auf. Er hatte diese richtig futuristisch aussehenden Motorradhelme, die das ganze Gesicht bedecken. Ich setzte mir also diesen Helm auf, als wäre ich einer der Typen von KISS oder ein Rock’n’Roller. Damals lief die „Midnight Special“-Konzertshow im Fernsehen. Und ein anderer Sender, ABC, hatte „In Concert“ im Programm. Sie haben Konzerte gefilmt und alle meine Lieblingsstars waren dabei, wie Parliament-Funkadelic. Manchmal hatten sie auch Sly and the Family Stone am Start.
Es gab also keinen professionellen Ansatz und keine Vorstellung von Cybotron, der Elektrogruppe, die Sie 1980 gründeten?
Das war nicht annähernd professionell – zu diesem Zeitpunkt war ich gerade dabei, mich zu entwickeln.
Wie haben Sie Derrick May und Kevin Saunderson kennen gelernt, zwei Freunde, die oft genannt werden, wenn es um die Entstehung von Techno geht?
Derrick und Kevin hatten mit Musik überhaupt nichts am Hut – sie spielten Football. Sie waren in der Klasse meines Bruders, der zwei Jahre unter mir war, also waren sie eigentlich seine Freunde. Doch irgendwie freundenten Derrick und ich uns an, wir spielten zusammen Schach oder so. Einmal saß ich auf der Veranda und spielte auf meiner Bassgitarre. Ich hatte keinen Verstärker, aber man konnte es trotzdem hören. Er fuhr mit seinem Fahrrad die Straße entlang, kam auf mich zu und fing an, mit mir zu reden. Wir wurden sozusagen Freunde, aber es hatte noch nichts mit Musik zu tun. Derrick und Kevin begannen erst sich für Musik zu interessieren, nachdem wir, also Rik Davis und ich, als Cybotron „Alleys of Your Mind“ [Anfang 1981] auf unserem eigenen Label Deep Space Records veröffentlicht hatten. Rik Davis war ein befreundeter Elektronikmusiker, den ich am College kennen gelernt hatte. Ich brachte meine Demo-Aufnahmen mit in den Unterricht, und alle waren begeistert, auch Rik, der mich dann zum Jammen in sein Heimstudio einlud. Sein Studio befand sich im Schlafzimmer einer Zweizimmerwohnung auf dem Campus der Eastern Michigan University. Es war, als würde man das Cockpit eines Raumschiffs betreten. Ich brachte meinen Korg MS-10 Synthesizer mit, und wir begannen zu jammen. Unser erstes fertiges Stück nannten wir „Cosmic Raindance“, das schließlich die B-Seite von „Alleys of Your Mind“ wurde.
Sie sagen „veröffentlicht“ …
Wir haben tatsächlich eine Platte gemacht und sie veröffentlicht. Das war meine erste professionelle Aufnahme, und sie kam nicht bei einer Plattenfirma heraus.
Das war der Moment, in dem Cybortron gegründet wurde?
Ja, Rik und ich kamen auf den Namen Cybotron – eine Mischung aus den Wörtern Cyborg und Cyclotron, eine Mensch-Maschine und ein Teilchenbeschleuniger. Diese Platte mit Rik Davis war komplett elektronisch.
Aber zu diesem Zeitpunkt kannten Sie die Musik von Kraftwerk bereits.
Die Sache mit Kraftwerk ist die: Wir müssen zurückgehen in die Zeit von Electrifying Mojo, einem ikonischen DJ, der die Stadt mehr oder weniger in der Hand hatte – also musikalisch. Er war ein ehemaliger Radio-DJ aus Vietnam, der im Frühjahr 1977 bei einem UKW-Radiosender antrat, der im Wesentlichen als Gospelsender begonnen hatte. Die DJs konnten im Grunde spielen, was sie wollten. Und Mojo, wie wir ihn kurz nannten, hatte die beste und eklektischste Auswahl an Musik, von James Brown bis zu den Rolling Stones, von Jimi Hendrix bis Peter Frampton, von Parliament-Funkadelic bis Kraftwerk und Prince. Mojo hat die Fantasie der Jugend von Detroit schon vor Rap und HipHop beflügelt.
Parliament-Funkadelic und James Brown waren tief im Rhythm & Blues und dem Funk verwurzelt, während Kraftwerk eine sehr weiße Musik war.
Das Besondere an Kraftwerk war ihre präzise und reglementierte Musik, das war der Unterschied. Meine Musik war damals sehr locker und organisch. Es war immer alles elektronisch, aber nicht so präzise und streng wie Kraftwerk.
Stücke von Kraftwerk waren sehr gleichmäßig auf den Beat. Kein bisschen groovy.
Aber Kraftwerk erzählten mir, ihr Einfluss sei James Brown.
Schon wieder James Brown? Wow! Das wusste ich nicht. Das ist wirklich interessant, weil Kraftwerk so ungroovy ist.
Electrifying Mojo im Radio – das war das erste Mal, dass ich „Die Roboter“ von Kraftwerk hörte. Das hat mich umgehauen, Mann. Das war der beste, härteste Scheiß, den ich je gehört hatte. Und zu dieser Zeit machte ich schon Musik, auch wenn ich noch nichts veröffentlicht hatte. Das war so um 1979, 1980. Ich hatte diese Demos gemacht, als ich noch in der Highschool war. Ich wünschte, ich hätte sie noch. Ich habe im Laufe der Jahre die Kassetten mit diesen frühen Songs verloren, die nur aus Drum-Drops bestanden und über denen ich Synthesizer spielte. Ich war erstaunt, wie die Musik von Kraftwerk dem glich, was ich machte, nur noch präziser. Der Unterschied war, dass sie im Radio liefen, und ich war damals noch nicht im Radio zu hören. Viele Leute dachten, dass ich Kraftwerk gehört hatte und dann anfing, das zu tun, was ich tat – aber im Grunde war es parallel.
Kraftwerk hat Sie also an das erinnert, was Sie gemacht haben, aber sie hatten besseres Equipment, professionellere Ressourcen. Kann man sagen, dass es sich auch ein bisschen wie eine Bestätigung anfühlte, dass Sie auf dem richtigen Weg waren?
Ja, und ich muss zugeben, dass dieser streng reglementierte Sound ein Einfluss war. Als ich mit „Alleys of Your Mind“ herauskam, war da definitiv ein Kraftwerk-Einfluss zu spüren. Nur nannten Kraftwerk ihre Musik nicht Techno, ich meine aber schon.
Wann haben Sie Ihre Musik zum ersten Mal als Techno bezeichnet?
1981, als „Alleys of Your Mind“ herauskam.
Und warum haben Sie es Techno genannt?
Wegen meines Highschool-Kurses in Zukunftsforschung. Toffler sprach über den Übergang von einer Industriegesellschaft zu einer Technologiegesellschaft. „Techno“ ist natürlich die Abkürzung für ‚Technologie‘, und es erschien mir nur logisch, diese Musik als Technomusik oder Technologie-Musik zu bezeichnen, weil sie auf Maschinen basiert, die aus der technologischen Revolution hervorgegangen sind.
Es gab also diesen intellektuellen Einfluss von Toffler und musikalische Einflüsse von Kraftwerk und James Brown, und natürlich Ihre eigene Vorliebe für P-Funk. Sind das die Hauptzutaten?
Die Sache ist die: Schon vor Kraftwerk gab es Platten wie „Flash Light“, wie „One Nation Under a Groove“, die hauptsächlich elektronisch waren. „Flash Light“ von Funkadelic war meinem Sound am nächsten. Wenn ich einen direkten Einfluss nennen müsste, wäre es „Flash Light“.
Würden Sie sagen, dass 1981 – das Jahr, in dem Sie „Alleys of Your Mind“ veröffentlicht haben – tatsächlich das Geburtsjahr von Techno war?
Ja, es war ein Riesenhit in Detroit. Damals habe ich gelernt, dass und wie ich eine Platte veröffentlichen kann. Damals dachte ich zunächst, ich müsse zu einer großen Firma gehen. Dann stieß ich auf ein Buch namens „Make & Sell Your Own Record“ von einer Autorin namens Diane Rapaport. Als ich Rik Davis traf, hatte er auch dieses Buch. Rik las sowieso sehr viel, und bei mir und ihm war es Schicksal – als ob wir dazu bestimmt waren, uns zu treffen.
Stichwort Belleville Three: Ich würde gerne die Magie dieses Trios verstehen. Kevin Saunderson und Derrick May werden immer im Zusammenhang mit der Entstehung von Detroit Techno genannt. Welche Rolle spielten sie im Vergleich zu Ihnen?
Derrick war mein bester Freund in meinem letzten Jahr an der Belleville High School. Aber zuvor, als wir „Alleys of Your Mind“ veröffentlichten, war Rik Davis mein Partner bei Cybotron. Derrick machte uns zwar mit Mojo bekannt, aber Derrick war kein Musiker. Jeder hörte nachts Mojo, und als Mojo „Alleys of Your Mind“ spielte, wurde ich in Detroit mehr oder weniger sofort eine Berühmtheit. Die Leute hingen also mit mir ab, und Kevin und Derrick zählten zu meinen Freunden. Wir gingen auf eine Party und alle Mädchen wollten mit mir reden, weil ich Cybotron war – Derrick und Kevin wollten das auch. Sie waren Sportler, sie spielten Football in der High School. Irgendwann, als wir zusammen abhingen, hat [die Musik] irgendwie auf ihn abgefärbt. Kevin war ein Freund von Derrick, dessen Eltern in seinem letzten Highschool-Jahr nach Chicago zogen, und Derrick bei Kevin wohnen ließen, um die Schule in Belleville zu beenden. Das war genau zu der Zeit, als „Alleys of Your Mind“ im Radio zu hören war, und was immer ich mit Derrick machte, Derrick übertrug es auf Kevin. Und das war auch die Zeit, in der wir anfingen, zusammen Platten aufzulegen und so. So fing im Grunde unser Ding an. Wir haben DJ-Partys veranstaltet, und zur gleichen Zeit gab es „Alleys of Your Mind“, das wir auf 45 RPM-Vinyl herausbrachten.
Eine DJ-Party bedeutete damals im Grunde, Platten auf den Plattenteller zu legen und nicht auf eine ausgefeilte Art zu mixen, richtig?
Im Grunde ja. Vinylplatten, keine Tracks. Das kam mit dem Mixen, und das Mixen kam in der Disco-Ära auf.
Sampling kam später, Scratching kam später.
Das Scratchen kam zur gleichen Zeit wie das Mixen. Das Scratchen von Schallplatten kam aus New York. Auch das Mixen, das Abmischen von Platten auf den Beat, war eine New-York-Sache.
Gab es in Detroit in den frühen Achtzigern eine Clubszene?
Disco-Musik war der Soundtrack der Schwulenszene. Schwulenclubs gab es schon immer, also war das die Musik, die dort gespielt wurde. Einige Disco-Platten gingen in den R&B über und umgekehrt. Zum Beispiel Cameo. Cameo war eine Funk-Band, aber sie machten eine 12“-Single namens „I Just Want To Be“. Das war eine meiner Lieblingsplatten, aber es war im Grunde eine Disco-Maxi. Viele R&B-Gruppen haben versucht, Disco-Platten herauszubringen. Damals gab es an der Uni Partys von Studentenverbindungen, die man Eisbrecher nannte. Sie engagierten uns für diese Partys, zusammen mit anderen DJs.
Einerseits waren Sie also die musikalische Speerspitze der elektronischen Musik mit Cybotron und Ihren eigenen Veröffentlichungen. Andererseits wurden Sie mit Kevin und Derrick zu einer Art DJ-Team, das diese Musik in die Highschool-Welt brachte – die lokalen Helden beim Auflegen auf diesen Partys?
Als die Clubs aufkamen, wurden auch die DJs berühmt. Aber damals legte ein DJ nur Platten auf, wie ein Radio-DJ.
Wer war der erste echte DJ-Superstar?
Nun, der erste DJ – also Club-DJ, nicht Radio-DJ –, den ich kenne, war ein DJ namens Ken Collier. Er war ein schwuler DJ und, wie ich schon sagte, kam diese ganze Disco-Sache, das ganze Mixing-Ding aus der schwulen Community.
„Wir waren einfach ein paar Kids, die Spaß hatten. Die Technologie hat unsere Ambitionen vorangetrieben oder sie erleichtert“
Was war Ihr Ziel zu dieser Zeit? Sie waren ein Generalist, eine Art Produzent, dann wurden Sie zunehmend zum Erfinder eines neuen Musikstils. Sie waren auch ein DJ und haben diese Rolle allmählich verändert. Haben Sie in diesem Zusammenhang irgendwelche besonderen Ambitionen entwickelt?
Nein. Das Auflegen und viele andere Dinge haben sich organisch entwickelt. Es gab nie einen Plan – niemand wusste, was als nächstes passieren würde. Wir waren einfach ein paar Kids, die Spaß hatten. Die Technologie hat unsere Ambitionen vorangetrieben oder sie erleichtert. Es wirkte so, als ginge es Hand in Hand. Aber es hat sich niemand hingesetzt und gesagt: „OK, wir benutzen den Synthesizer, um diese Art von Schlagzeugsound zu machen, und dann spielen wir das im Club.“ Niemand hat das geplant.
Können Sie die Atmosphäre, die Stimmung und auch die Popularität der Musik, die wir heute Techno nennen, hier in Detroit beschreiben? Sie wurde von einer breiten Masse geliebt, war aber natürlich weit vom Mainstream entfernt.
Nun, der Begriff „Techno“ wurde ausgebeutet. Ich meine, selbst jetzt ist Techno in Deutschland etwas anderes als in Spanien. Hier in Detroit liebte jeder die Musik. Niemand wusste, dass es „Techno Music“ war. Vor allem die schwarzen Jugendlichen in Detroit nicht. Sie wussten nur, dass dies ein neuer Sound war. Und was auch immer es war, wie auch immer die Frequenz dahinter aufgestellt war, es hat einfach irgendeinen einen Knopf gedrückt. Als diese Musik nach Europa kam, musste Europa ihr eine Art Label, ein Etikett geben.
Erzählen Sie mir die Berliner Geschichte. Wer hat angerufen? Ihr erster Auftritt im Club Tresor war 1991, stimmt das?
Nun, es gab eine Station vor Berlin. Wir fingen in Großbritannien an, uns auch international auszuprobieren. Von unseren Reisen nach London, eigentlich eher nach Nordengland und in die Midlands, ging es direkt nach Kontinentaleuropa… Neil Rushton managte mich, Derrick und Kevin zu der Zeit. Und er war es auch, der den Virgin-Records-Deal mit Richard Branson abschloss. Sie veröffentlichten die erste Detroit-Platte und nannten sie „Techno“. Neil hatte mich und Kevin Saunderson, Santonio Echols, Blake Baxter, Eddie Fowlkes, James Pennington, Art Forrest, Thomas Barnett und andere Leute kennengelernt. Und uns mit Virgin Records zusammengebracht. Sie wollten eine Compilation veröffentlichen und sie „The House Sound of Detroit“ nennen. Und dann habe ich meinen Track mit dem Titel „Techno Music“ darauf gepackt. Und sie änderten den Namen in „The Techno Sound of Detroit“ [tatsächlich hieß das Album schließlich „Techno! The New Dance Sound of Detroit“ und wurde 1988 veröffentlicht – Red.] und so wurden die Jungs aus Detroit in Europa bekannt.
Natürlich bekamen viele Leute Wind davon. In Belgien wurde R&S Records darauf aufmerksam, und Dimitri Hegemann vom Tresor in Berlin.
Wie haben Sie Dimitri kennengelernt?
Es gab damals eine Konferenz-Reihe in Amerika, das ‚New Music Seminar‘. Sie fand in New York statt. Alle Leute aus der Dance-Music-Szene gingen alljährlich zu dieser Konferenz. Und Dimitri war auch einmal dabei. Ich hatte vom Tresor gehört. Dimitri hatte die Platte „Der Klang der Familie“ herausgebracht, und er war in New York, um sie zu promoten. Der Ruf des Tresor-Clubs eilte ihm voraus. Ich glaube, einer der ersten DJs, die im Tresor auflegten, war Jeff Mills. Das Tresor-Label lizenzierte Musik aus Detroit. Das war einen kurzen Augenblick lang hip und angesagt.
„Jeder wollte im Tresor spielen“
Erinnern Sie sich an den ersten Abend im Tresor? Können Sie ihn ein wenig beschreiben?
Ich spielte mit Jeff Mills. Es war im Keller. Es war surreal, blau-weißes Neon. Das ist es, woran ich mich erinnere. Schwer in Worte zu fassen. Jeder wollte im Tresor spielen. Dessen Ruf war, dass es dort heavy, krachend und voll war, und dass die Leute total darauf abgingen.
War das ein wichtiger Schritt für Ihre Karriere?
Auf jeden Fall ein Schritt in Europa. Ich meine, wenn man nach Kontinentaleuropa ging, war der Tresor eine der ersten Stationen zu dieser Zeit.
Und wie lange haben Sie das erste Set gespielt?
Eineinhalb Stunden.
Und kam es bei den Leuten gut an?
Es gab keine Beanstandungen.
Haben Sie sich auf eine bestimmte Weise darauf vorbereitet?
Nein. Das Lustige an diesem Abend war, dass ich die Platten, die ich dabeihatte, am Flughafen verloren habe. Ich musste also Platten in Berlin kaufen. Ich habe den ganzen Abend damit verbracht, bei (dem Berliner Plattenladen) Hard Wax Platten zu kaufen, die ich am Abend im Tresor spielen wollte. Das war ziemlich verrückt.
Und wann haben Sie gemerkt, dass diese Sache, die wir Techno nennen, wirklich zu einem weltweiten Erfolg wird?
Als ich in London gespielt habe. Das erste Mal, dass ich in London auflegte, war in einem Filmstudio mit einer Kapazität von 5000 Leuten. Es waren also 5000 Jugendliche in diesem Raum. Ich und einer der Techniker waren die einzigen beiden Schwarzen. Das war etwas, was ich noch nie zuvor gesehen hatte und mir nicht einmal vorstellen konnte – dass ich für 5000 weiße Teenager Musik spielen würde. Und sie haben es einfach geliebt. Das ist etwas, was ich mir in Amerika nie hätte vorstellen können. Das war wirklich ein Kulturschock. Es war definitiv ein Aha-Erlebnis. Und da habe ich gemerkt, dass diese Musik größer ist, als ich dachte.
„Du musst dich entscheiden. Entweder Tresor oder Berghain“
Was ist mit dem Berghain im heutigen Berlin? Es ist der legendäre Berliner Techno-Club. Eine globale Marke. Warum spielen Sie nicht dort?
Weil ich im Tresor spiele. Es geht um Politik, definitiv. Ich habe tatsächlich einmal im Berghain aufgelegt – nein, genauer gesagt in der Panorama Bar [ein kleinerer Floor im Obergeschoss]. Ich habe zweimal dort gespielt. Aber das war eine Ausnahme. Du musst dich entscheiden. Entweder Tresor oder Berghain.
Schon interessant, dass es so viel um Politik geht und eigentlich nur um das Abstecken von Territorien.
Es war verrückt. Ich hatte den Eindruck, wenn du im Tresor auftrittst, wollen sie dich ins Berghain holen und umgekehrt.
Wenn Detroit die Geburtsstadt des Techno ist, dann ist Berlin die Hauptstadt des Techno.
Das kann man diskutieren. Ist der Geburtsort und die Hauptstadt nicht dasselbe?
Lassen Sie uns ein wenig über Technologie sprechen. Wie hat die Technologie Techno und das Leben eines Techno-DJs verändert? Als Sie anfingen, waren es Vinylplatten, die Sie auf die Plattenteller gelegt haben. Dann ging es mehr und mehr zu CDs und moderner Technologie über, die beim Mischen und Synchronisieren der Beats half. Bis hin zur heutigen Situation, in der ein DJ meist mit einem Laptop oder einem Stick auftritt.
Techno ist Technologie, oder? Ohne Technologie gäbe es keine Technomusik. Aber die Entwicklung ist auf jeden Fall gut, denn wenn man älter wird, wird es schwierig, diese großen, verrückten Platten zu schleppen. Ich kann mich an die Zeit erinnern, als es noch keine Räder unter den Plattenkisten gab. Man musste die Plattenkiste buchstäblich in mit der Hand wuchten, und viele von ihnen waren aus Stahl gefertigt. Ich erinnere mich an einen Auftritt, bei dem ich mit zwei Plattenkisten vom Bahnhof zum Club laufen musste. Dieser Auftritt war das Anstrengendste, was ich je in meinem Leben gemacht habe – ich begrüße also den Fortschritt.
Abgesehen vom Schleppen der schweren Plattenkisten, ist das Leben eines DJs heute künstlerisch viel einfacher?
Es ist einfacher, weil man per Knopfdruck Zugang zu Tausenden von Platten hat. Die Vinyl-Sache sieht einfach cool aus. Aber sie hat auch so viele Nachteile. Am peinlichsten ist es, wenn die Platte zu Ende ist, bevor man die nächste Platte auflegen kann. Ja, Mann, das ist peinlich.
Und wenn man die Synchronisation eines Beats verpasst, auch. Heute gibt es kein Risiko mehr, weil man die Technologie hat. Es wird automatisch durch Auto-Sync erledigt.
Aber echte DJs rümpfen über automatische Synchronisation die Nase. Sie sagen: „Okay, du kannst Platten auf dem CDJ oder Laptop abspielen, aber mische die Platten wenigstens selbst.“
Würden Sie sagen, dass der Grad der Spontaneität heute geringer ist?
Nein, ich glaube, es gibt sogar mehr Spontaneität, weil es einfacher ist. Ich meine, man kann einfach digital suchen und hat die Wahl zwischen Tausenden von Platten, anstatt nur das, was in der Plattenkiste ist. Ich kenne DJs, die noch immer nur Vinyl auflegen, aber der Typ braucht drei Leute, um alle seine Boxen zu tragen. Er trägt buchstäblich seine ganze Sammlung in den Club.
Ist Techno eine politische Bewegung oder ist es unpolitisch?
Was mich betrifft, so mische ich mich nicht in die Politik ein. Aber ich wäre naiv zu glauben, dass es nicht politisch ist. Aber ich möchte mich nicht gerne daran beteiligen.
Würden Sie zustimmen, dass es indirekt politisch ist, weil es eine Bewegung der Freiheit, der Toleranz, eines sehr integrativen Lebensstils ist? Die Love Parade, das Festival in Deutschland, wurde sogar als politische Demonstration gesehen, was ich nie verstanden habe. Aber sie hatte eine indirekte politische Wirkung, könnte man sagen.
Ich glaube, es geht um mehr als um Politik, es geht tiefer. Musik ist universell. Musik ist Schwingung. Und es gibt Frequenzen, die unsere zelluläre Beschaffenheit verändern. Ich kann Ihnen eine 432-Hertz-Welle schicken, und bestimmte Zellen in Ihrem Körper werden darauf reagieren. Und deshalb denke ich, auch wenn ich die Komplexität der Frequenzen nicht kenne oder weiß, welche Frequenzen welche Wirkung haben, so weiß ich doch, dass man manchmal spontan sein und einfach mit dem Flow des Universums gehen muss. Es gab mal ein Sprichwort: „Wer lange denkt, denkt falsch.“ Sie können das wahrscheinlich beobachten, wenn ich auflege – ich fühle eine Synergie mit den Leuten, für die ich spiele. Und das bedeutet mir mehr als an bestimmten Orten zu spielen oder bestimmte Sachen aufzulegen oder ein bestimmtes Set aus politischen Gründen zu spielen.
Können Sie die wichtigsten Elemente guter Technomusik beschreiben?
Der Synthesizer ist der grundlegende Parameter oder das grundlegende Werkzeug für die Kreation von Techno, weil er elektronisch ist. Es ist keine akustische Gitarre, es ist kein Horn. Normalerweise findet man im Techno keine akustischen Grundlagen. Es ist Musik, die aus technologischen Fortschritten und mit technologischen Geräten entstanden ist.
Hat Techno eine Botschaft?
Die Zukunft!
Wieder Toffler.
Nicht wirklich. Toffler hat kein Exklusivrecht auf die Zukunft. Die Zukunft ist einfach nur die Zukunft.
Wenn Sie auf die letzten 40 Jahre zurückblicken, gibt es irgendetwas, das Sie anders gemacht hätten, irgendetwas, das Sie vermisst haben … das Sie Ihrer Meinung nach hätten tun sollen?
Ich bin ein Mensch. So viel ich weiß zumindest [lacht]. Und ich habe Fehler gemacht, die ich wahrscheinlich kein zweites Mal gemacht hätte, wenn die Chance bestünde, sie zu korrigieren.
Etwas Bestimmtes?
Man kann in den Vergnügungspark gehen und sehr viel mit der Achterbahn fahren. Vielleicht hätte ich ein oder zwei Mal weniger mit der Achterbahn fahren sollen, um es mal so auszudrücken. Die Achterbahnfahrt bewirkt nicht mehr, als dass man ständig high ist.
Was ist für Sie die Verbindung zwischen Drogen und Techno?
Na ja, mein Vater war ein Drogendealer, um Himmels willen. Es war also irgendwie unvermeidlich. Obwohl ich nie Heroin oder Pillen oder solche Sachen genommen habe. Ich habe es mit Kokain versucht. Und wenn ich die Möglichkeit hätte, noch einmal zu der Zeit zurückzureisen, bevor ich damit experimentiert habe, würde ich wahrscheinlich nicht so viel nehmen, wie ich es getan habe.
Sehen Sie eine Notwendigkeit in der Koexistenz von Drogen und Techno, oder glauben Sie, dass Sie auch ohne sie ein großartiger DJ sein könnten? Haben die Drogen Ihr Spiel besser oder schlechter gemacht?
Lassen Sie es mich mal kurz umdrehen: Macht das Heineken, das Sie gerade trinken, dieses Interview besser? Ich denke, das kann niemand sagen.
Man könnte sagen, dass die Wirkung von Techno sehr euphorisierend ist. Man könnte sagen, die Musik macht’s allein, man braucht die Drogen nicht. Die Musik ist die Droge.
Ich glaube nicht, dass es irgendeine äußere Substanz gibt, vor allem keine bewusstseinsverändernde Substanz, die mich besser machen würde.
„Ein großartiger DJ ist ein Anführer. Ein mittelmäßiger DJ ist ein Mitläufer“
Gehen Sie manchmal auf eine Party und hören anderen DJs zu, um einfach nur die Musik zu genießen, ohne irgendwelche professionellen Gedanken oder eine professionelle Beteiligung? Einfach tanzen und mit dem Strom schwimmen?
Ja! Anderen DJs zuzuhören ist eine tolle Sache. Vor allem gute DJs sind immer eine Inspiration für einen DJ. Ich lerne von anderen DJs viele Dinge, um mein Handwerk zu verbessern.
Was unterscheidet einen guten DJ von einem mittelmäßigen DJ?
Ein großartiger DJ ist ein Anführer. Ein mittelmäßiger DJ ist ein Mitläufer.
Sie haben gesagt, der wichtigste Grund, sich für Techno zu interessieren, ist die Zukunft.
Ja, es ist Fortschritt, Zukunft, Entwicklung.
Haben Sie eine Vorstellung davon, wie die Zukunft von Techno aussehen wird? Wie Techno bald klingen und sein wird?
Wie nichts, was wir je gehört haben. Und es gibt keine Möglichkeit, das vorherzusagen, weil wir es eben noch nicht gehört haben. Das ist es, was ich beim Auflegen, Produzieren und Präsentieren von Musik versuche. Die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums ist ziemlich kurz, und die Leute sind immer daran interessiert, was als Nächstes kommt. Nicht so sehr, was gestern passiert ist. Nicht so sehr, was jetzt gerade passiert. Aber was kommt als Nächstes?
Wenn wir auf die vergangenen 100 Jahre Musikgeschichte und die Geschichte der Tonträger zurückblicken, sehen wir einen Trend zur Entmaterialisierung. Es begann mit diesen alten, schweren Schallplatten vor 100 Jahren, dann wurden die Vinylplatten leichter. Dann wurden sie als Singles kleiner. Und dann gab es CDs, die noch kleiner und leichter waren. Dann gab es die MP3-Player – immer kleiner und kleiner. Und dann gab es den Daumenabdruck. Jetzt hat man alles auf dem Handy. Ein Chip. Fast nichts. Es gibt also eine fortlaufende Entmaterialisierung. Können Sie sich vorstellen, dass Musik eines Tages völlig immateriell wird?
Ich denke, Musik wird es immer geben, aber die Art und Weise, wie sie präsentiert wird, wird sich definitiv ändern. Oder wie man auf Musik zugreift, oder wie sie an die Massen gebracht wird.
Welche Rolle wird künstliche Intelligenz in diesem Zusammenhang spielen?
Ich weiß es nicht. Es könnte der Tag kommen, an dem man einfach sagen kann: „Hey, ich will einen Four-on-the-Floor-Beat mit einer Bassline in der Tonart B. Mach mal diese Tonleiter.“ Und man braucht es nur zu sagen und es wird ausgespuckt.
Könnten Sie sich vorstellen, dass künstliche Intelligenz den Komponisten, den Produzenten und den DJ ersetzen kann?
Das bedeutet, die Menschheit zu ersetzen, oder?
Oder die Verschmelzung von Mensch und künstlicher Intelligenz?
Ich weiß es nicht.
Aber Sie haben Musik geschaffen, bei der der Mensch auf der Grundlage hochentwickelter Technologie eine neue Ebene erreicht hat. Der Einsatz von Technologie hat Musik verbessert.
Aber sie braucht immer noch einen Menschen, der sie vorantreibt. Ich denke, die Grundlage ist der Mensch. Und das führt zu meinem neuesten Cybotron-Track namens „Maintain“.
Mathias Döpfner ist Journalist und CEO von Axel Springer, dem am Mediahouse Berlin – in dem die deutsche Ausgabe des ROLLING STONE erscheint – beteiligten Verlag.