Die Gärtner der Dummheit
Eine Ruckrede unseres Kolumnisten Rocko Schamoni: Wacht endlich auf!
Findest Du es nicht arrogant, Menschen ständig ihrer Dummheit zu bezichtigen? Sie für ihre körperlichen und sozialen Bedingungen zu verurteilen? Denn als „dumm“ abgestempelt zu werden, ist das maximale gesellschaftliche Todesurteil.
Entschuldige, da missverstehst Du mich, ich möchte niemanden degradieren. Ich möchte uns alle, auch mich selber, immer nur wieder an unsere eigene Begrenztheit erinnern. Wir fliegen häufig so hoch in den Wolken unserer eigenen Ansichten, dass wir den Blick für fast alle Details um uns rum verlieren. Vor allem den Blick auf die Schwächeren, Kleineren, den Blick auf die, die keine Stimme oder keine Lobby besitzen. Und dafür ist es recht und billig, uns unsere Empathielosigkeit vor Augen zu führen. Auch unsere Unsensibilität uns selbst gegenüber. Wir verhalten uns uns selbst und unserer Umwelt gegenüber häufig völlig gedankenlos, unsensibel, arrogant, desinteressiert, unaufmerksam, um nicht zu sagen: dumm. Ohne Bewusstsein. Vor allem ohne Bewusstsein für unsere Wünsche und Sehnsüchte, unsere daraus resultierenden Taten und deren Konsequenzen.
Es gibt Leute, die davon profitieren, wenn wir uns derer nicht bewusst sind, und sie werden alles dafür tun, dass sich daran nichts ändert, denn sie haben davon einen Vorteil der Macht und des Geldes. Politiker in vielen Ländern, speziell in denen mit autokratisch/ populistischen Regierungen, nutzen die Bewusstlosigkeit ihrer Bürger aus, sie leben davon und kultivieren sie. Genauso tun es religiöse Führer, das Militär, die Industrie in Form von Großherstellern und Handelsketten, die Werbebranche, Teile der Massenmedien und vor allem die sozialen Netzwerke – sie sprechen unsere Schwächen und niederen Instinkte an, sie handeln mit unserer Bewusstlosigkeit – sie profitieren von unserer Dummheit. Diese macht uns anfällig für einfache Botschaften – und dadurch lenkbar. Der Stand unseres Bewusstseins ist die wichtigste Handelsware, und unsere Verführbarkeit resultiert daraus.
Gerade die Massenmedien, z.B. die Radiostationen, die jeden Tag sehr viele Menschen erreichen, tragen eine große Verantwortung. Was nützt uns der sogenannte Bildungsauftrag, der täglich vom Deutschlandfunk eingelöst wird, wenn die meisten Menschen nur das Formatradio der großen Stationen hören, in dem auffällig dümmlich agierende Moderator*innen mit nervig ausgestellter guter Laune, läppische Anmoderationen oder infantile Anrufspiele präsentieren, das Ganze umbettet von algorithmisch sortierter Musik? Das ist modernes Mood Management, um die arbeitsamen Hörer und Hörerinnen gut über den Tag zu bringen und in ihre Verhältnisse zu schmieden.
Die Möglichkeit, die Hörer und Hörerinnen ab und zu zum Denken anzuregen oder ihnen in seltenen Momenten etwas wirklich Neues zu präsentieren, kommt niemals in Betracht. Wenn ich auf Überlandfahrt per Zufall an eine dieser unangenehm gut gelaunten Moderator*innen gelange, habe ich meist das Gefühl, verarscht zu werden, komme ich mir vor wie in einer Parodie in der erwachsene Menschen wie Kleinkinder behandelt werden. Der grausliche Verdacht kommt auf, dass die meisten Menschen diese Sender und Sendungen wirklich gerne hören, sich wohl und geborgen darin fühlen, sich ernst genommen und klug beheimatet wähnen.
Mir fällt dazu immer wieder ein Bild aus einem Frankreich-Urlaub vor ein paar Jahren ein: die Atlantikküste, im Sommer, die sogenannte „Silberküste“, hunderte Kilometer feiner Sandstrand, meist menschenleer ‒ und dann auf einmal zwei blaue Fahnen, einige Meter voneinander entfernt. Und um diese beiden Fahnen herum liegen Hunderte von Menschen. Und zwischen diesen beiden Fahnen gehen sie alle ins Wasser ‒ wenn der Bademeister sein Zeichen gibt. Sie schwimmen vorsichtig ein paar Meter hinaus und legen sich dann brav zurück ins fleischerne Beet am Strand. Wenn die roten Fahnen wehen, geht niemand ins Wasser.
Was die Menschen nicht bemerken: links und rechts von den Fahnen liegt das unendliche Meer. So geht es mir mit der Musiklandschaft in Deutschland: Überall hören die Menschen Musik übers Radio, im Auto, im Büro, in der Werkstatt, den ganzen Tag ‒ und immer und allerorten dieselben paar hundert Titel, im Oldie-Radio die von früher, im Chart-Radio die von heute. Als ob da nicht mehr wäre. Als ob da nicht ein ganzer Ozean voller Musik wäre, groß, tief und wild, in den man eintauchen könnte, in dem man sich erfrischen könnte, in dem man sich ersaufen könnte. Wenn sie nur davon wüssten. Wenn es ihnen jemand erzählen würde. Wenn es ihnen jemand beibringen würde.
Ich möchte schwimmen und tauchen, so weit und so tief, wie es geht. Und ich würde gerne die blauen Fahnen verbrennen.
Ich staune immer wieder über die Intelligenz von Tieren, bewundere sie für die Klugheit, mit der sie ihr Leben meistern. Natürlich sind wir Menschen gemessen an der reinen „Hirnpower“ viel intelligenter als Tiere. Aber nur in menschlichen Zusammenhängen – und genau in diesen verpufft diese wunderbare Fähigkeit, dieser eindeutige Vorteil, und unser Handeln erscheint nach außen hin häufig als völlig absurd. Warum nur benehmen wir Menschen uns, sobald wir zu mehreren zusammen sind, so ausnehmend oberflächlich, kleingeistig, banal und dümmlich, wenn wir doch als Einzelne ¬– zurückgeworfen in die Natur – so schön und weise sein können wie Zaunkönige? Warum nur? Ja, warum?
Wenn ich dann auf meiner Überlandfahrt an einer Tanke halte und all die Alltagsreisenden im Bistro bei ihrer Frühstückslektüre, der Zeitung mit den vier Buchstaben, sehe, dann weiß ich, dass all die Erregung umsonst ist, denn es ist einfach nichts zu retten. Zu lange schon sähen und jäten die fleißigen Gärtner der Dummheit ihr Beet, und dies scheint die Zeit, in der ihre Saat endlich aufgeht.
Autorenbild von Kerstin Behrendt