Die Freiheit nehm ich mir
Die Jubiläums-Jubelarien sind vorbei, jetzt kehrt beim Privatfernsehen wieder der Arbeitsalltag ein —und da prophezeien Experten: Mehr nackte Haut soll es geben, mehr Kribbelei zwischen den Geschlechtern, mehr sinn- entleerte Sendungen wie „"Der Bachelor" also. Einzig Hans Meiser hat noch Hoffnung. Doch der Rückblick auf die Geschichte der Sender zeigt: Um Qualität ging es eigentlich nie, sondern um Provokation und Quote.
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Willkommen bei ProLivePlus-II-TV. Willkommen in einer Welt, die eine ganz andere ist als die wirkliche da draußen. Willkommen in einer Welt, die sich selbst genug ist. Willkommen im Privatfernsehen.
Seit zwei Jahren ist das Privatfernsehen volljährig und hat mit der letzten frischen Sat-1-Show von Harald Schmidt gerade seinen 20. Geburtstag gefeiert. Es sind 20 Jahre, in denen sich nicht nur das Medium verändert hat, sondern auch das zugehörige Land. Nicht nur wegen der Einheit, nicht nur wegen diverser technischer Revolutionen, sondern auch wegen des Privatfernsehens. Die 20 Jahre markieren allerdings keine abgeschlossene Ära, sondern lediglich eine Zwischenstation.
„Es geht jetzt erst richtig los“, urteilt Norbert Schneider. Der Direktor der nordrhein-westfälischen Landesanstalt für Rundfunk weiß, wovon er spricht, denn er wacht nicht nur über die in seinem Lande lizensierten Privatsender, er ist zudem auch ein äußerst besehener Fernsehkonsument. „Es wird noch mehr vom selben geben“, droht er und prophezeit das völlige Verschwinden von Inselprogrammen, die sich im Wust des kommerziellen Dschungels bislang noch als intellektuelle Lichtungen bewähren konnten. Stattdessen geht es nach Schneiders Einschätzung gerade wieder hin zu mehr Haut, zu mehr Kribbelei zwischen Mann und Frau, zu mehr Sexualität. „Der Bachelor‘ ist da nur der Herold, hinter dem ein paar neue nackte Kohorten heraufziehen.“
„Der Bachelor“ ist ein neues, nach Schneiders Meinung zukunftsweisendes Programm, das RTL gerade gegen recht massive Widerstände eines anfangs unlustigen Publikums in die Quotenränge geboxt hat. Natürlich ist „Der Bachelor“ ein ziemlich alberner Name für ein Programm, was die Frage nahe legt, was wohl passieren würde, präsentierte man einem englischsprachigen Publikum eine Show mit dem Titel „The Junggeselle“? Sicherlich gäbe es Zuschauer, die das schwer originell fänden, weil man ja schon früher fremdartigen Begriffen wie Kindergarten oder Gemütlichkeit großzügig sprachliches Asyl gewährt hat. Es gäbe aber sicherlich auch Menschen, die solch eine Bezeichnung ziemlich gruselig fänden.
Die waren aber sicherlich nicht dabei, als ein als gut aussehend angekündigter Mann im Garten eines südfranzösischen Protz-Anwesens stand und von RTL nacheinander per Rolls Royce 25 junge Frauen zugeführt bekam, die man alle aufgebretzelt hatte bis zum Gehtnichtmehr, denn sie sollten in den folgenden sechs Wochen als „Pretty Women“ um die Gunst des Schönlings buhlen. Nicht allen wurde die Gunst, sich nicht nur mental zu entblößen, zuteil, denn am Schluss jeder Ausgabe wurden einige Damen in ihre Heimat abgeschoben und mussten die Villa wieder verlassen. Die restlichen erhielten eine Rose und durften vorerst weiter in seinem Harem weilen.
Irgendwie überhaupt nicht zufällig startete „Der Bachelor“ just in der Woche, in der es in vielen Schlagzeilen um einen Mädchenhändler-Ring ging, um Kriminelle, die Frauen wie Frischfleisch behandeln, für ihre Zwecke ausbeuten und nachher einfach abschieben. Natürlich ist „Der Bachelor“ nicht so schlimm, aber Ähnlichkeiten in den Handlungssträngen offenbaren sich doch.
Natürlich gibt es auch andere Prognosen fiir die Zukunft des Privatfernsehens. „Das Fernsehen wird von diesem Wundertüten-Billiggeschmack wieder weg kommen“, verspricht Hans Meiser. Er vergleicht den aktuellen Stand seines Genres mit der Fußball-Bundesliga, wo letztlich immer Bayern München gewinnt, was Meiser ziemlich langweilig findet. Mehr Events sieht er kommen. Am Vormittag werde möglicherweise vermehrt gezeigt, wie bei normalen Menschen der Garten umgegraben oder das Wohnzimmer renoviert wird, aber am Abend, da sei schon etwas zu erwarten.
Hans Meiser sollte wissen, wovon er redet. Schließlich gehört er zu den Pionieren des Privatfernsehens, zu den Männern der ersten Stunde. „Wir haben das Fernsehen populärer gemacht“, bilanziert er die Leistung von zwei Dekaden. Dass dies gelingen würde, daran war am 2. Januar 1984 noch nicht zu denken. Da erschien der Moderator Rainer Holbe auf dem bis dahin von ARD und ZDF beherrschten Bildschirm und simulierte im Chirurgenkittel eine Geburt. Dabei holte er ein Baby hervor, das einem Fernsehapparat ziemlich ähnelte und auf dem Bildschirm die Aufschrift RTL trug. Kurz danach ging Meiser erstmals als Nachrichtensprecher auf Sendung.
Plötzlich war er genau dort gelandet, wo er eigentlich nie hin wollte. „Fernsehen finde ich doof“, hatte er seinem damaligen Chef geantwortet, als der ihn vom erfolgreichen Hörfunksender Radio Luxemburg zur verschwisterten Mattscheibe locken wollte. Fernsehen sei zu kompliziert, befand Meiser. Man brauche immer ein Team, immer Kameras, nichts sei mehr so einfach wie beim Radio. Inzwischen ist er 20 Jahre dabei „Ich habe gedacht, die sind alle verrückt“, sagt er, wenn er sich an die Gründungsmannschaft erinnert. Zu den Verrückten gehörte auch Björn Hergen Schimpf, der in der ersten Nachrichtensendung Meiser als Sportreporter zur Seite saß. „Wir wussten, dass die Leute scharf darauf waren“, erinnert sich Schimpf heute und berichtet von einer umgebauten Garage und einem von Zweifeln geprägten Selbstverständnis: „Wir haben uns totgelacht über uns selben“ Ein bisschen Kameratraining hatte es vorab gegeben. Und einen Hinweis, dass die Kleidung möglichst fernsehfreundlich zu sein habe. Also keine kleinen Karos und nicht so dunkeL „Die Klamotten waren zweitrangig“, entschuldigt Schimpf das schlumpfige Auftreten der frühen Tage und bemüht dazu das Bild klassischer Pioniere:,,Das war wie eine kleine amerikanische Stadt, gegründet mit einem Schuppen und einer Kneipe direkt an der Eisenbahnlinie. So ein bisschen Wild-West“ Der Eisenbahnpräsident war Dr. Helmut Thoma, von der Mannschaft DT genannt, ein Kürzel, bei dem der zwei Jahre vorher in den Kinos gelandete ET Pate gestanden hatte. DT reagierte auf gute Vorschläge meist schnell und unkonventionell. In seinem unverwechselbaren österreichischen Tonfall sagte er: „Mochen’s dös“, und dann wurde das halt gemacht „Das galt als Unterschrift“, erinnert sich Schimpf.
Dass der 25-Millionen-Mark-Etat fürs erste Jahr überhaupt zusammenkam, ist vor allem Thoma zu verdanken. Von dem wollten die Eigner der luxemburgischen Firma CLT nämlich vorab die Garantie, dass der Sender auch Geld einspielen werde. Also besorgte sich Thoma ein Gefalligkeitsgutachten. Das hatte sich der in der Branche bewanderte Schlaufuchs von einem befreundeten Werber erstellen lassen, und zufällig stand in dem Gutachten genau das drin, was sich die Gesellschafter zur Beruhigung gewünscht hatten, dass nämlich der Sender im ersten Jahr mindestens zehn Millionen Mark einspielen werde.
DT führte die Mannschaft an der langen Leine. Man machte, was man konnte. Man konnte, was man probierte, und manchmal ging es eben auch daneben. Als der Muttertag anstand, fand man, es sei doch eine schöne Idee am Feiertag um 20.15 Uhr eine Kassette mit dem Titel „Die kleine Mutter“ einzuführen. Das ergab am Folgetag geharnischte Proteste nicht nur von kirchlicher Seite, denn der naiv und kenntnisfrei als harmlos eingestufte Streifen entpuppte sich als ziemlich krude Mischung aus erotischen Hard- und Softcoreszenen. „Da war die Kacke am Dampfen“, freut sich Schimpf noch heute. Dass man wirklich daneben gelegen hatte, signalisierte die Reaktion von Thoma. Der war sonst für jeden Ausrutscher zu haben, aber bei „Die kleine Mutter“ gelobte selbst er umgehend, dies Ding nie wieder einzusetzen.
Die erste Formel 1-Reportage lief schon nach wenigen Tagen. Damals noch per Telefon. Ein RTL-plus-Reporter stand an der Strecke und berichtete vom Geschehen, was akustisch nicht immer ein Genuss und schon gar nicht durchgehend verständlich war, denn bei jedem vorbeirasendem Boliden verschwand die Stimme im mörderischen Lärm. „Die ersten zwei Runden ging das noch, weil das Feld eng beieinander war“, berichtet Schimpf: „Aber dann zerriss das Feld, und es war immer weniger zu verstehen.“ Das, was vom Krach zerrissen wurde, versuchten der heutige Mercedes-Rennstall-Chef und damalige Redakteur einer Motorzeitschrift, Norbert Haug, und Schimpf im Luxemburger Studio wieder zusammen zu setzen.
Im Jahre 1986 keimte dann anlässlich der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko die erste Ahnung, dass man möglicherweise doch einer Angelegenheit von größerer Bedeutung zuarbeitete. Da ließ Schimpf seine lästernde Handpuppe Karlchen während einer Zuschauereinblendung spontan auf eine schöne Mexikanerin zeigen und fordern: „Die will ich hier haben.“ Als dann der Ausschnitt mit Karlchens Aufruf, sich zu melden, mehrfach im mexikanischen Fernsehen lief und sich die Lufthansa spontan bereit erklärte, die Erwählte first class über den Teich zu holen, was sie schließlich auch tat, dämmerte es Schimpf, dass dies Ding RTL wohl doch in ungeahnte Höhen vorstoßen würde. „Wenn die ehrwürdige Lufthansa einsteigt, nur weil eine quäkende Puppe eine Idee hat, dann muss da was dran sein.“
Der Überzeugung war der Senderchef schon lange. „Ich hatte die feste Absicht, etwas Größeres daraus zu machen“, sagt Helmut Thoma und berichtet belustigt, wie man ihm allerorten einen gewissen Größenwahn attestierte. Zwar erreichte seine erste Sendeanlage nur etwa 200 000 Haushalte in eher menschenleeren Gegenden des Saarlands und von Rheinland-Pfalz, aber es war wenigstens ein echter Sender und nicht nur ein Kabelstrang, der etwa die Konkurrenz mit ihren an einer Hand abzählbaren Zuschauern verband.
Die Konkurrenz saß in einem Keller in Ludwigshafen zwischen Schlachthof und Friedhof und nannte sich Programm für Kabel und Satellit, kurz PKS. Immerhin war der Sender, aus dem kurz danach Sat.1 entstehen sollte, schon einen Tag vor RTL auf Sendung gegangen. Mit Händels Feuerwerksmusik startete das Programm und endete mit Beethovens Neunter. „Damals waren wir ein richtiger Kulturknaller“, erinnert sich Jürgen Doetz, der als Geschäftsführer des vom Filmhändler Leo Kirch gelenkten Unternehmens die ersten Worte sprechen durfte. „Es war alles mit heißer Nadel gestrickt“, berichtet der Manager mit der Personalnummer 001, der als einer der wenigen Überlebenden der Anfangstage noch heute im Vorstand von Sat.1 sitzt. Schon früh zeigte sich, dass dieser Sender eher vom Kopf als vom Bauch gelenkt wurde.
„Das eigentliche Privatfernsehen war RTL. Sat.1 hat nur gemacht, was die Öffentlich-Rechtlichen auch gerne gemacht hätten“, sagt Medienwächter Schneider und zieht damit die Grenzen zwischen den zwei Start-Ups sehr deutlich. Schließlich sollte der Kirch-Sender vor allem die Bedürfnisse jener Politiker befriedigen, die genug hatten von öffentlich-rechtlichen Reportern, die gern einem linkslastigen Rotfunk zugeordnet wurden. Mehr Vielfalt wünschten sich die geistigen Väter des Privatfernsehens und meinten eigentlich mehr von sich selbst. Was sie bekommen sollten, konnten sie damals noch nicht ahnen.
Immerhin wurde der Start des Privatfernsehens aufmerksam zur Kenntnis genommen. „Wir hatten mehr öffentlich-rechtliche Kameras im Studio als eigene“, reportiert Doetz. Doch zu Beginn konnte noch niemand ahnen, dass das Rennen um die Gunst der Zuschauer 20 Jahre lang ein ungleiches bleiben würde. Während Helmut Thoma bei RTL schalten und walten durfte, wie er meinte, musste sich Doetz bei Sat.1 immer wieder Gesellschafterwünschen beugen. Vor allem natürlich denen des Leo Kirch, der das Privatfernsehen vor allem als Abspielstation tür seine gelagerten Filme ansah. „Der Kirch hatte damals 15 000 Filme im Lager; wir zwölf“, erinnert sich Thoma.
Die beiden Senderchefs trafen sich oft in jenen Tagen, denn das Programm blieb lange eine zweitrangige Angelegenheit. Von Interesse waren erst einmal die Verbreitungswege. Um Plätze im Kabelnetz und um Antennenfrequenzen galt es also bei den Medienanstalten zu buhlen. Im Vorteil war dabei lange Sat.1, denn Doetz schmähte RTL gerne als Bedrohung aus dem Ausland, was nicht unwesentlich dazu beitrug, dass Thomas Anstalt 1989 nach Köln zog.
Während der Umzugsphase hatte bei den Zuschauerzahlen kurz einmal der ewige Verlierer Sat.1 die Nase vorn. Zu sehr hatte Thoma sein Programm vernachlässigt, was die RTL-Gesellschafter gleich in Panik versetzte und die Frage aufwarf, ob man nicht dringend investieren müsse, um Sat.1 Paroli bieten zu können. Doch da war Thoma vor. „Es ist sinnlos so viel zu investieren, wenn wir die Verbreitung noch nicht haben“, sagte er und lieferte gleich eines der schönen Bilder, für die ihn die Medienberichterstatter lange liebten: „Wir marschieren durch eine Wüste, und da ist es sinnlos, am Ende des ersten Wandertages schon ein Vollbad zu nehmen. Man muss sehen, dass man mit seinem Wasser auskommt. Großzügig kann man später sein.“ In die Reihe der klassischen Thoma-Metaphern fällt auch das Gleichnis vom Köder-Wurm, der gefälligst dem Fisch zu schmecken habe und nicht dem Angler. Bis heute das ultimative Motto zur Führung eines Privatsenders.
Von denen gab es bald immer mehr. Pro Sieben ging auf Sendung, MTV ebenso, doch die große Gründungswelle ließ noch bis nach der 90er-Jahrzehntwende auf sich warten. Plötzlich waren Viva, RTL, n-tv, Kabelkanal und Vox on air. Mit Vox erfolgte dann gleich auch der erste große Crash des Privatfernsehens. Als Bildungsfernsehen an den Start gegangen, scheiterte der Kölner Kanal bald an seinen eigenen Ansprüchen und der nordrhein-westfälischen Mediengesetzgebung, die gerne montags etwas aufbaut, um dies dann von dienstags bis freitags wieder umzustoßen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich Vox erholte und einreihte in einen der beiden großen Blöcke. Von Leo Kirch wurde der eine, von Bertelsmann der andere dominiert.
Die um Standortpflege bemühten Medienpolitiker strickten ihre Gesetze zur Überwachung des Privatfernsehens stets so locker, dass Kollisionen mit den übermächtigen Konzernen vermieden wurden. Stattdessen echauffierten sie sich gern in Abständen über die für sie offenbar völlig überraschend eingetretene Verlotterung des Programms. Als hätte man nicht ahnen können, dass Privatunternehmen in erster Linie an Kundenquoten und dann erst an Verantwortung für den Bildungsauftrag interessiert sind.
Natürlich passierten die schönsten Skandale bei RTL, wo Helmut Thoma bald Geschlechtsverkehr vortäuschende Lederhosenfilme ausstrahlte. Die hatte Kirch nicht eingekauft, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass so etwas jemals über einen deutschen Sender würde gehen können. Es konnte, weil es mit minimalem Einsatz hohe Aufmerksamkeitswerte sicherte. „Das Verhältnis zwischen dem verfügbaren Geld und der Größe der Provokation war gigantisch“, urteilt Medienwächter Schneider. Und Thoma legte noch nach.
In Mailand hatte er ein Format gekauft, bei dem sich Mädchen mit Blumennamen entblätterten. In Deutschland wurden aus den Blumen Früchtchen, und schon war „Tutti Frutti“ geboren, das mittlerweile zum Anklickhit im RTL-Online-Angebot mutiert ist. Der Moderator Hugo Egon Balder tat dabei genau das, was er heute noch sehr erfolgreich in seiner Sat.1-Show „Genial daneben“ erledigt. Er stellt Fragen, die keiner kapiert und sorgt dafür, dass sich seine Kandidaten entblößen. Was inzwischen allerdings nur noch mental passiert, geschah damals auch physisch. „Wir hatten so viele Kandidaten, dass wir heute noch senden könnten“, erinnert sich Thoma.
Man wollte eben „erfrischend anders“ sein bei RTL. Man ließ Karl Dall seine Gäste beleidigen und Erika Berger Tipps für kreative Leibesübungen in Zweierbeziehungen erörtern. Dazu positionierte man Brüllshows, erst am Abend, dann am Nachmittag, und handelte sich so bald eine neue Deutung der Senderkennung ein. Aus RTL wurde „Rammeln, Töten, Lallen“, eine Dreieinigkeit des Flachsinns, die von harmlos langweiligen Familienshows wie Linda de Mols „Traumhochzeit“ nur unwesentlich beeinträchtigt wurde.
Früh schon hatte Helmut Thoma kapiert, dass man als Privatsender in Deutschland nicht sehr weit kommt, wenn man immer nur amerikanische Lizenzware abnudelt. Das war in den Anfangstagen noch ein Erfolgsmodell, als Sat.1 immer und immer wieder „Baywatch“ sendete und auch RTL seine Spezialangebote abnudelte. Thoma machte sich nicht nur einmal lustig über ein Publikum, dem er alle vorhandenen Folgen der Hasselhoff-Klamotte „Knight Rider“ fünfmal in Folge als Wiederholung vorsetzen konnte, ohne sich auch nur einen Protestbrief einzuhandeln. Mit der Zeit jedoch zeichnete sich ab, dass Serieneinkäufe in den USA zunehmend teurer werden würden. Sat.1 lieferte mit „Justitias kleine Fische“ im November 1988 die erste nicht sonderlich erfolgreiche selbstgedrehte, Thoma ließ Roy Black 1990 „Ein Schloss am Wörthersee“ eröffnen. Mit sagenhaftem Quotenerfolg, von dem die ARD heute noch profitiert, wenn sie die alte RTL-Ware ungeniert im Nachmittagsprogramm verbrät. Den größten Coup landete Thoma indes mit der Ansetzung der Seifenoper „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“. Die Kostet-wenig-bringt-viel-Produktion startete vor über zehn Jahren und gehört noch heute meist zu den Tagesgewinnern, wenn es um die von RTL entdeckte Zielgruppe der werberelevanten 14- bis 49-Jährigen geht.
Sat.1 tat sich im Gegenzug ziemlich schwer damit, über das Programm Profil zu erlangen. Man fiel allenfalls auf durch Kohl-Interviews, in denen dem Bundeskanzler noch gefälligere Fragen serviert wurden als bei Alfred Biolek. Später gelang dann aber ein spektakulärer Coup, als man viel Geld in die Hand nahm, ARD, ZDF und RTL die Bundesligarechte vor der Nase wegschnappte und mit der Sportsendung „ran“ die Fußballberichterstattung revolutionierte. Auch die Treue, mit der Sat.1 jahrelang zur Harald-Schmidt-Show stand, brachte dem Sender Ansehenspunkte ein. Die brauchte er allerdings auch dringend, um die Scharte wieder auszuwetzen, die er selbst gerissen hatte mit dem schnell gescheiterten Versuch, das Hauptabendprogramm schon um 20 Uhr und nicht erst zur geheiligten Nach-Tagesschau-Zeit um 20.15 Uhr beginnen zu lassen. Die Sendungen „ran“, „Harald Schmidt Show“ und „Ladykracher“, nennt Jürgen Doetz, wenn man ihn nach seinen Lieblingsprogrammen bei Sat.1 fragt. Nichts davon wird mehr frisch produziert, und nach Schmidts Abgang gibt nur noch die Aussicht auf Anke Engelkes im Mai startende Late Show Grund zur ganz leisen Hoffnung.
Nach der Pleite des Kirch-Konzerns regiert nämlich nun der Amerikaner Haim Saban die um Sat.1, Pro Sieben und Kabel 1 geflochtene Senderkette. Der redet zwar immer davon, er wolle keineswegs die Qualität aus dem Programm drängen, die sei schon enorm wichtig. Aber man weiß halt, was Sendergewaltige so reden, wenn der Tag lang ist.
Nicht ohne Grund hat sich in all den Jahren des Privatfernsehens eine ganz besondere Sendersprache eingebürgert. Teilt etwa eine Pressestelle mit, man wolle das Format xy überarbeiten und nach einem neuen Sendeplatz suchen, heißt das auf Deutsch: Kommt nie wieder. Sagt jemand, man wolle unbedingt auch anspruchsvolle Programme gegen den Trend der Verflachung setzen, steht das für: Jetzt werden wir aber richtig billig.
Dementsprechend wird der Privatfernsehmarkt dieser Tage weniger denn je von der Frage nach der Zuschauerakzeptanz bestimmt, sondern vom Verhältnis zwischen den Kosten einer Sendung und ihrem Einspielergebnis. Man muss keine zehn Millionen Zuschauer mehr locken, um einen satten Gewinn einfahren zu können. Es reicht auch eine Million, wenn man eine Sendung so kostengünstig produziert, dass auch wenige Zuschauer mehr Werbegeld einbringen, als die Herstellung des Programms gekostet hat. Wie so etwas aussieht, zeigen „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ und all die Gerichtsshows („Richterin Barbara Salesch“, „Richter Alexander Hold“,…), seit Jahren. Sat.1 hat zudem mit selbst verbrochenen Krimi-Serien wie „Lenßen & Partner“ und „Kll – Kommissare im Einsatz“ demonstriert, wie man durch Verzicht auf jegliche schauspielerische oder inhaltliche Qualität zu günstigen Kosten viel Programm auswirft und damit tatsächlich Geld verdienen kann.
Die einst hoch gelobten öffentlich-rechtlichen Programme, die anfangs noch über die Gehversuche der Privatsender schallend gelacht haben, sind schnell umgeschwenkt und haben nachgemacht, was nachzumachen war. RTL hat eine Seifenoper, ARD und ZDF wollen auch eine. RTL und Sat.1 haben Meisers und Schreinemakers‘ Talkshows, das wollen ARD und ZDF auch. Wer die Sendeschemata der im dualen System verankerten Betriebe übereinander schiebt, lernt schnell, dass Konvergenz kein leeres Wort ist. Gelegentlich überholen ARD und ZDF in vorauseilendem Gehorsam sogar ihre Vorbilder und opfern auf dem Altar der Quotenhörigkeit ohne Not das letzte Bisschen ihrer durch jahrelangen Verdienst angehäuften Glaubwürdigkeit.
Doch die Wirkung des Privatfernsehens bleibt nicht auf den kommerziellen und qualitativen Aspekt beschränkt. Auch das Leben des Einzelnen ist betroffen. „Das private Fernsehen hat die Bilanz zwischen privat und öffentlich verschoben“, diagnostiziert Norbert Schneider. Jeder Depp darf heute ins Fernsehen. Ob das die konsequente Durchsetzung eines Demokratiegedankens ist, darüber diskutieren kluge Geister schon eine ganze Weile, ohne bislang aber zu einer überzeugenden Lösung gekommen zu sein. Privatfernsehen funktioniert nach Ansicht von Schneider deshalb so gut, weil es die Grundbedürfnisse von Industrie und Zuschauern bestens verquicke. Bei den einen befriedige das Medium den Trieb zum Gelderwerb, während es bei den anderen für das Vertreiben der Langeweile zuständig ist Ein Leben, so langweilig, dass man es nur noch mit der Fernbedienung in der Hand ertragen kann, ist ein trauriges Leben. Ein Leben, das vielleicht den Skandal einer sich ins Unsoziale steigernden Gesellschaft spiegelt; ein Leben, das eigentlich ein Fall ist, ein Fall für die einschlägigen Magazine des Privatfernsehens. ProLivePlus-II-TV, übernehmen Sie!