Die Frau, die spät zündet
An jedem normalen wochentag setzt sich Marissa Nadler ins Auto und fährt aus Boston hinaus. Ihr Ziel ist ein kleiner Ort ein paar Meilen außerhalb, wo sie als Lehrerin einer Schule für Sonderpädagogik Kinder unterrichtet, die es im regulären Schulbetrieb schwer haben. Das Unterrichtsfach ist Kunst. Marissa Nadler hat das schon einmal gemacht, vor ein paar Jahren in Harlem. Doch dieser Job ist keine Übergangsbeschäftigung; Nadler ist gekommen, um zu bleiben. „Ich erkenne mich in diesen Kids wieder“, erklärt sie, „ich war selbst dieses verschlossene Mädchen, das in seiner eigenen Welt lebt, ein Spätzünder. Ich liebe es, ihnen die Künste nahezubringen. Außerdem hilft es mir persönlich. Das Leben eines Künstlers kann sehr einsam sein – man wird negativ und dreht sich nur noch um sich selbst.“ Getourt wird in Zukunft in den Ferien, und dann auch nur kurz. „Ich kann sowieso nicht länger als zwei, drei Wochen unterwegs sein, das würde ich nicht durchstehen.“
So hat man Marissa Nadler kennengelernt – als scheuen Menschen, der sich auf der Bühne nicht immer wohlfühlt. „Glücklicherweise habe ich mittlerweile ein Publikum, das mich kennt – sie wissen, dass ich ziemlich zerbrechlich bin.“
Der Job als Lehrerin gehört zum neuen Leben der Marissa Nadler, die nach eigenen Angaben vor zwei Jahren den Tiefpunkt einer schweren Krise erreicht hatte. Eine schwierige Beziehung, persönliche Miseren, ein Alkoholproblem – Nadler war an einem dunklen Ort angekommen. Die damals veröffentlichte EP „The Sister“ brachte das Ungemach mit dunkel minimalistischen Liedern zum Ausdruck. Nadler hat im Rückblick gemischte Gefühle. „Bei mir veränderte sich damals nach all dem Chaos sehr viel. Ich war allein mit mir und meinen Gefühlen. Diese Lieder sind eine lose Sammlung von Emotionen, die ich auf eine therapeutische Art mir selbst zugesungen habe.“ Wegen einiger unguter Erfahrungen mit Plattenfirmen hatte Nadler die EP und das vorangegangene Album selbst veröffentlicht. Das geschäftliche Klimbim und die stundenlangen Besuche beim Postamt wirkten sich zusätzlich negativ auf die Kunst aus. „Ich stellte damals ein paar Songs auf Soundcloud und dachte, das war’s, meine Musik braucht kein Mensch mehr. Zu sehen, wie viele Leute auf die Songs reagierten, war ein Schock – ich begriff, was für ein schiefes Bild ich von meiner Karriere hatte.“ Bald darauf hörte Nadler eher zufällig eine Radioshow von Simon Raymonde -und bekam ein Zeichen. Der Chef des exquisiten britischen Labels Bella Union spielte just an dem Abend einen Song von Nadler, die sich darauf hin ein Herz fasste und Raymonde ein Demo mit neuem Material schickte. Kurze Zeit später hatte sie einen Plattenvertrag.
Das neue Album „July“ korrigiert unser Bild von Marissa Nadler, deren Musik nun weniger selbstzerstörerisch wirkt als zuletzt. Natürlich bleiben das Flüstern, die gleichzeitig unheimliche und engelhafte Stimme sowie die unerhörte Langsamkeit, mit denen diese Lieder durch riesige Hallräume schleichen. Doch die elf Songs auf „July“ haben mehr Kontur und mischen hellere Farben ins Bild.
Dazu gibt Produzent Randall Dunn (Sunn O))), Wolves In The Throne Room) den gewohnt minimalistischen Arrangements ein goldenes Leuchten und findet großartige Klänge links und rechts von Nadlers handgepickter Akustikgitarre. Nadler wirkt in dieser Kulisse wohl träumerisch und selbstvergessen wie immer, doch sie hat eine direktere Präsenz als bislang, als drückte sich die neu gewonnene Klarheit in ihren Phrasierungen und Melodien aus.
„July“ ist eher eine Kollektion als ein Musikalbum, eine Sammlung von Klang-Gemälden. „Ich habe mich immer als Malerin gesehen“, sagt die Absolventin der Rhode Island School of Design, „ich bin ein sehr visueller Mensch – auch Musik ist für mich eher Form als Ton.“ Gut, dass sie diese Formen wieder sehen kann. „Ich war so ausgebrannt, dass ich die Musik an den Nagel hängen wollte“, sagt Nadler. „Dieses Album ist für mich so etwas wie eine zweite Chance.“