Die formbare Stadt
Jonathan Lethem ist für seinen jüngsten Roman in seine Heimat New York zurückgekehrt.
Wer schon mal durch die Straßen von New York gelaufen ist, wird dieses Gefühl kennen: Jeder Ort und jede Straße erinnern an einen Film, ein Buch oder einen Song. Man kommt sich vor, als sei man gefangen in einer Fiktion. Der New Yorker Autor Jonathan Lethem hat sieh dieses Netz von Referenzen in seinen besten Büchern zu Nutze gemacht. In „Die Festung der Einsamkeit“
etwa rekonstruierte er 2003 aus seinen kulturellen Leidenschaften und Obsessionen nicht nur seine eigene Kindheit und Jugend, sondern ließ auf knapp 600 Seiten aus Popmusik, Superhelden-Comics, Graffiti und Filmen einen ganzen New Yorker Borough neu erstehen: sein persönliches Brooklyn. In seiner fantastischen autobiograhischen Essaysammlung „The Disappointment Artist“ baute er zwei Jahre später weiter an dieser Stadt.
Nun kehrt Lethem nach der enttäuschenden, in Los Angeles spielenden Beziehungskiste „Du liebst mich, du liebst mich nicht“ für seinen neuen, jüngst in den USA erschienenen Roman „Chronic City“ (Doubleday) wieder zurück in seine Heimatstadt. Doch dieses Mal zieht es ihn nicht nach Brooklyn, sondern an die Upper East Side, diese eisige Welt des Geldes und des schönen Scheins, der Dinner Parties und Charity Events.
Hier verkehrt Chase Insteadman, ein typischer Upper East Sider, gutaussehend, smart und durch eine Fernsehserie in den 80ern zum (Kinder-)Star geworden. Auch 20 Jahre später ist er noch stadtbekannt, weil er mit einer Astronautin liiert ist, die auf einer von chinesischen Minen in Schach gehaltenen Raumstation gefangen ist und ihm rührende Liebesbriefe schreibt, die in der war-free edition der „New York Times“ abgedruckt werden. Die ganze Stadt nimmt Anteil am Schicksal des Mannes, der nicht nur dem Namen nach kaum mehr ist als ein Platzhalter für irgendetwas anderes, wenn auch niemand sagen könnte, für was.
Insteadman arbeitet mittlerweile hauptsächlich als Synchronsprecher. Bei einem Engagement für den Filmverlag Criterion Collection (der amerikanischen Entsprechung zum deutschen Arthaus) lernt er Perkus Tooth kennen, einen Filmfreak, der Klappentexte für DVDs schreibt und in seinem früheren Leben einmal Rockkritiker war. Ein hagerer Mann, der ein kleines mietpreisgebundenes Apartment an der Upper East Side bewohnt und zwischen Migräneattacken und durchkifften Nächten die Fähigkeit zu besitzen scheint, durch all die glitzernden Oberflächlichkeiten, schamlosen Scheinheiligkeiten, Medienmanipulationen und politischen Betrügereien hindurch auf die unverhüllte Realität zu blicken. Klar, dass so einer keine Chance bei Frauen hat. Klar, dass Insteadman fasziniert ist von diesem sonderbaren Mann, der der komplette Gegenentwurf zu ihm selbst zu sein scheint.
Bald verbringt er jede Nacht bei Kaffee und Joint in Perkus‘ Apartment an der 84ten Straße und lauscht, wie sein neuer Freund immer waghalsigere kulturelle Verweisketten und Verschwörungstheorien aufstellt. Dabei hat er nur ein Thema, aber es ist das größte von allen: die Wahrheit. Doch seit Insteadman in sein bis dahin wohl geordnetes, aus Büchern, Platten und Filmen zusammengesetztes Universum des Wahren und Schönen eingedrungen ist, scheint auch Perkus Probleme zu haben, noch zu unterscheiden, was wahr ist und was falsch, wer echt ist und wer ein fake. Aus seiner Dope-befeuerten Paranoia und Idiosynkrasie entspinnt sich ein aberwitziger Plot, in dem sich Schein und Sein kaum noch voneinander unterscheiden lassen. Ein Tiger wütet in und unter den Straßen New Yorks, eine Ghostwriterin tritt auf, die gerade an der Autobiografie eines Künstlers arbeitet, der New York in eine riesige Installation zu verwandeln scheint, ein Obdachloser findet Unterschlupf in einer virtuellen Welt, aus der Objekte von rätselhafter Schönheit in die Realität finden und bei eBay zu Höchstpreisen gehandelt werden.
Doch diese manchmal arg bemühten postmodernen Spielchen um Simulation und Wirklichkeit sind nur Staffage, denn „Chronic City“ ist – eindrucksvoller noch als „Die Festung der Einsamkeit – die anrührende Geschichte einer Freundschaft, in der sich wiederum die Geschichte einer Stadt spiegelt. Denn mit dem autistischen Eremiten Perkus Tooth und dem Lichtdouble des schönen Scheins Chase Insteadman treffen hier zwei Bilder New Yorks aufeinander. Das bohemehafte, idealistisehe Greenwich Village der Fünfziger und Sechziger – und die spätkapitalistische, gentrifizierte Metropole der Michael-Bloomberg-Ära.
Derbritische Autor Jonathan Raban schrieb in seiner Schilderung des urbanen Lebens, „Soft City“, Metropolen seien – im Gegensatz zu Dörfern und Kleinstädten – naturgemäß aus Plastik. Wir können sie in unsere eigenen Bilder und Formen gießen und zugleich prägen sie uns – durch den Widerstand, den sie leisten, wenn wir versuchen, ihnen unsere persönliche Gestalt zu geben. Perkus Tooth zerbricht am Ende an diesem Widerstand, denn das New York in seinem Kopf hat nichts mehr gemein mit der Stadt, in der er lebt. Seine Wirklichkeit ist in tausend Stücke zersplittert. Mit einer dreibeinigen Pitbull-Hündin namens Ava tanzt er am Rande des Wahnsinns immer und immer wieder zu „Shattered“ von den Rolling Stones. „My brain’s been battered, splattered all over Manhattan.“
Jonathan Lethem hat in der Figur des Perkus Tooth einem alten Freund ein Denkmal gesetzt. Dem 2006 in ärmlichsten Verhältnissen einsam verstorbenen Paul Nelson, einem der Urväter des anspruchsvollen Rockjournalismus, der seine mit Film- und Literaturverweisen gespickten Artikel in den Sechzigern und Siebzigern unter anderem in „Sing Out!“ veröffentlichte. Nelson war es auch, der den jungen Bob Dylan mit Woody Guthrie vertraut machte und versuchte, ihm den topical song auszureden – und später bei der Entdeckung von The Velvet Underground und den New York Dolls eine wichtige Rolle spielte.
Lethem lernte Nelson während seiner Studienzeit in den Achtzigern kennen, als der – immer öfter am eigenen Anspruch scheiternd – schon kaum noch publizierte und stattdessen in einer Videothek im West Village arbeitete. Nächtelang saßen die beiden in Nelsons Apartment an der Upper East Side und schauten alte Western, Film-Noir und Nouvelle-Vague-Klassiker. Hier wurde das Fundament gelegt für Lethems New York.