Die Farbe des Geldes
Schon wieder eine beste amerikanische TV-Serie: Martin Scorsese eröffnet „Boardwalk Empire“.
Man hat das alles schon oft gesehen: den Pier von Atlantic City. Die Whiskey-Schmuggler, die Holzkisten von einem großen Segelschiff in ein kleines Motorboot heben. Die Abolitionisten bei ihren feierlichen Vorträgen. Den Stadtkämmerer, der eine schwülstige Ansprache hält und vorgibt, er müsse leider sofort zum nächsten Termin und könne am Abendessen nicht teilnehmen.Die schwangere Frau, die um Hilfe bittet, und den prügelnden, saufenden Ehemann zu Hause. Die reichen, piekfeinen Geschäftsleute, die von der Prohibition profitieren und in Hotels ihre Deals besprechen.
Das alles zeigt Martin Scorsese in der ersten Episode von „Boardwalk Empire“, der in den USA belobigten Serie, die jetzt von TNT gezeigt wird. Man könnte sagen: Auch wenn Kabel Deutschland nur diesen einen Kanal hätte und der nur „Boardwalk Empire“ zeigen würde, hätten sich die 15 Euro im Monat gelohnt. Denn schon der Auftakt vereint die glänzende Ästhetik und Künstlichkeit von „Casino“, „Aviator“ und „Gangs Of New York“ mit der schieren Brutalität und verbalen Kraft von Scorseses frühen Filmen. Wie gern der Meister in Kulissen arbeitet, wissen wir seit der ganz und gar gebauten Welt von „New York, New York“, die er den Sets von Vincente Minnelli und Stanley Donen nachempfunden hatte.
„Boardwalk Empire“ hat nur wenige Schauplätze und spielt fast ausschließlich in Innenräumen, was Scorsese Szenen von ausgeklügelter Wucht und Ausleuchtung erlaubt. Unvergesslich ist der Blick von Enoch „Nucky“ Thompson, dem Stadtkämmerer, Spielhallenbetreiber und Alkoholschmuggler, in eine Kinderkrippe, in der die Babys liebevoll umsorgt werden. Enoch, den Steve Buscemi mit seiner patentierten Janusköpfigkeit aus skrupelloser Verschlagenheit und drolliger Komik spielt, hat seine Frau verloren und begeht den Jahreswechsel 1921 mit einer entfesselten Nymphe. Zugleich wird um Mitternacht die Prohibition eingeläutet; in Karren und Särgen werden die Spirituosen zu Grabe gefahren – und das neue Jahr wird mit knallenden Korken begrüßt. Eine Blaskapelle spielt „Auld Lang Syne“, Enochs Geschäfte versprechen das Schönste. Mit einem Haufen Chargen und seinem jungen Handlanger Jimmy (Michael Pitt) karriolt der immer weinerlich ausschauende Bonze durch die Straßen der Vergnügungskapitale, hat Ärger mit seinem liederlichen Liebchen, wird allzu oft aus dem Schlaf oder Beischlaf geklopft und von dem gerissenen New Yorker Millionär Arnold Rothstein über den Tisch gezogen. Der jüdische Millionär Rothstein wird von dem Theaterschauspieler Michael Stuhlbarg gegeben, der in „A Serious Man“ einen ängstlichen Hanswurst darstellt und hier mit glatter Lässigkeit den souveränen Falschspieler verkörpert, der in Enochs Kasino die Bank sprengt – so holt er sich das Geld für die überteuerte Whiskey-Lieferung zurück.
Jähe Gewalt blitzt auf wie in den berühmten Zornesattacken von Joe Pesci, ein Mord auf See erinnert an eine ähnliche Szene in den „Sopranos“ – wie auch viele Boardwalk-Spaziergänge und Blicke aufs Meer: Autor ist hier wie da Terence Winter. Dazu spielt die Kirmes-Drehorgel oder ein roher Blues wie aus der Schrott-Werkstatt von Tom Waits. Der Mord am Ende der Episode wird vom Gesang Carusos begleitet, die Schellack-Platte dreht sich auf dem Grammofon, und der Kamera-Blick durch das leere Restaurant des Mafioso signalisiert dem Zuschauer, dass hier jemand heimlich anwesend ist. Diese Momente der Bewegungslosigkeit gibt es auch vor den Gewaltszenen im „Paten“, die eingefrorenen Einstellungen vor dem Schnitt in „Casino“. Martin Scorsese ist hier auf der Höhe seiner Kunst.
Der junge Jimmy, der für sein Land in den Krieg gezogen war, ist ein unzufriedener Parvenü, er ist so nervös, anmaßend und ehrgeizig wie früher Robert De Niro in Scorseses großen Dramen. Er wird vom FBI umworben und landet seinen ersten Coup auf eigene Rechnung, ohne dass Enoch ihn dafür zur Rechenschaft zieht – er nimmt lieber den Geldumschlag von dem Laufburschen an.
Enoch Thompson ist eine zutiefst sentimentale Figur: Er verliebt sich in die Bittstellerin Margaret Schroeder (Kelly Macdonald), die von ihrem Mann beinahe zu Tode geprügelt wurde. Bevor das Bild in Laterna-magica-Manier zu einem Guckloch schrumpft, sehen wir ihn mit einem Blumenstrauß vor ihrem Krankenhausbett stehen. Der Hurerei müde, wird sich Nucky um eine bürgerliche Fassade bemühen. Und Margaret hat allen Grund dazu, sich nach besseren Verhältnissen zu sehnen.
„Boardwalk Empire“ ist auch ein Gründungsmythos wie der Film „There Will Be Blood“ und eine Selbstvergewisserung der USA. Wie der legendäre Senator von Louisiana, Huey P. Long, ist Enoch zwar ein korrupter Lügner und Krimineller, aber kein Mann ohne Herz. Das vaterländische Pathos, die Bigotterie und Frömmelei der Bundesbeamten, Betschwestern und Honoratioren von New Jersey werden hier als ranzige Anachronismen vorgeführt; aus lauter Menschenliebe haben die Frauen gerade das Wahlrecht bekommen – nun, so glauben die Kleinkrämer, muss nur noch der Alkohol besiegt werden.
Die Roaring Twenties können beginnen: Charleston, Fatty Arbuckle, der große Gatsby, Ford-Automobile, die „Lost Generation“ und der Schwarze Freitag.