Die Fahnen der Erinnerung
Immer, wenn man Jubiläum brauchte, ist gerade keines da. Gerne würde ich nämlich auf das Mozartjahr 2006 das Kierkegaard-Jahr 2007 folgen lassen. Denn der eigenwillige Däne hat schon vor mehr als 160 Jahren in seinem Werk „Die Wiederholung“ quasi den Klappentext zu den vergangenen zwölf Monaten geschrieben. Und der geht so: „Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in die entgegengesetzte Richtung; denn dasjenige, woran man sich erinnert, ist gewesen, wird rückwärts wiederholt, während die eigentliche Wiederholung eine Erinnerung in vorwärtiger Richtung ist.“
Das Jahr 2007 stand nicht nur musikalisch ganz im Zeichen solcher Erinnerungen, Wiederholungen und Déjà-vus. Und im Rückblick können wir den Sätzen des großen Philosophen noch die Einsicht hinzufügen: In der Erinnerung wird manches besser, in der Wiederholung alles schlechter.
Als wir aus dem Sommermärchenjahr 2006 getorkelt kamen, suchten wir — oder besser: die Medien, denn die konstruieren dieses Wir ja erst – also: suchten die Medien nach Events, an denen sie sich mittels Wiederholung noch einmal an ihre eigenen Konstruktionen aus dem vergangenen Jahr erinnern konnten.
Das Jahr der Repetitionen begann mit dem sogenannten „Wintermärchen“ der Handball-WM im eigenen Land. Für Open-air-Public Viewing war es zwar im Januar zu kalt, Fähnchen wurden auch nur auf Befehl von Kameraleuten geschwenkt, und Autokorsos fanden in Gegenden, in denen nicht sowieso (wie in Kreuzberg) immer Autokorsos stattfinden, nicht statt. Doch Zeitungen und Fernsehen machten sich daran, das Wir-sind-wieder-wer-Gefühl und den Laissez-faire-Nationalismus des letzten Jahres erneut heraufzubeschwören. Und es entging dabei nicht wenigen, dass Handball – abgesehen von den spannenden Schlussminuten – eigentlich ein ziemlich öder und uninspirierender Sport ist. Nicht nur die Nationalspieler hatten nach dem Finalsieg gegen Polen (Polen!) alle einen (angeklebten) Bart, auch die Dramaturgie des ganzen Spektakels mutete an wie aus der TV-Inszenierungs-Mottenkiste.
Als unser Schnauzer Heiner Brand (nicht zu verwechseln mit Terrier Berti Vogts) nach dem Gewinn des Finalspiels allein im Mittelkreis stand, musste man natürlich an Franz Beckenbauer denken, wie er 1990 bei der Fußball-WM mutterseelenallein über den Platz wandelte. Nur: Brand, der im richtigen Leben Versicherungskaufmann ist, stand in der muffigen Köln Arena unter Neonlicht, Kaiser Franz stolzierte damals unter Roms Sternenhimmel über den heiligen Rasen des Olympiastadions.
Im September rüstete man sich für den nächsten Versuch, das vermeintliche Sommermärchen 2006 zu rekonstruieren. Dummerweise fand die Frauenfußball-WM in China statt, und so wurden die Spiele am frühen Nachmittag übertragen. Mit der guten alten Kein-Bier-vor-vier-Devise hatte man als normaler Quartalstrinker daher keine Chance, das Gekicke ebenso unbeschadet und gut gelaunt durchzustehen wie bei der Männer-WM. Als die deutschen Damen dann zu der Recycling-Schlagzeile „Wir sind Weltmeisterin!“ heimkehrten, offenbarten sie den schweiß- und bierseligen Charme eines Sonntagnachmittags in der Kabine eines Kreisligavereins, und man konnte ohne Bedenken und schlechtes Gewissen die Fahne wieder einrollen und die privaten Feierlichkeiten beenden.
Spätestens 2011, wenn die Frauen-Fußball-WM in Deutschland stattfindet und „wir“ den Titel verteidigen müssen, geht der Wahnsinn noch mal von vorne los. Es sei denn, die Medien haben sich bis dahin wieder auf ihre – neben dem Falsch-Erinnern – zweite Kernkompetenz besonnen: das Vergessen.