Die Entdeckung der Schnelligkeit – Wie R.E.M. zum Rock’n’Roll zurückfanden
Seit 28 Jahren gibt es R.E.M., und manchmal wundern die Musiker sich selbst, wie sie es so lange aushalten konnten miteinander. Als sie mit ihrem neuen Album "Accelerate" begannen, wollten sie alles anders machen: Weniger Zeit im Studio verbringen, mehr reden, konzentriert sei, spontan. Und dieses Mal ist es ihnen tatsächlich gelungen.
Es war mal wieder Zeit, etwas Anderes zu versuchen, neue Wege zu gehen. R.E.M. werden am 5. April 28 Jahre alt, und glaubt man dem Mythos, dass sich alle sieben Jahre im Leben etwas Gravierendes ändert, dann liegen sie genau im Zeitplan. Viele werden R.E.M. im Jahre 2008 nicht sofort wiedererkennen. Ihr neues Album „Accelerate“ ist gerade mal 34 Minuten lang. Mit Produzent Jacknife Lee, der U2 bei deren letztem Album „How To Dismantle An Atomic Bomb“
schon ordentlich Auftrieb gab, entschieden sie sich für elf knappe Songs, von denen nur einer als Ballade durchgeht. Es gibt kein großes Brimborium, keine Soundspielereien oder Orchesterarrangements, es gibt nur: R.E.M.
Und das ist schon ein kleines Wunder, auch wenn sie zur Veröffentlichung von „Around The Sun“ 2004 noch etwas ganz Anderes erzählten. Damals betonten die drei, wie gut sie sich trotz aller Differenzen verstünden, kein Grund zur Beunruhigung. Heute geben sie zu, dass sie höchst unzufrieden waren und kaum noch miteinander sprachen. „A million times“ hätten sie sich schon trennen können, sagt Gitarrist Peter Bück freimütig, aber momentan ist das kein Thema mehr. Schon im vergangenen Jahr läuteten sie selbst die Wende ein. Im März wurden sie in die „Hall Of Fame“ aufgenommen, zur Feier des Tages kam sogar Schlagzeuger Bill Berry, der die Band 1997 verlassen hatte, zum Konzert. Eddie Vedder hielt die Laudatio und beschrieb die Verdienste von R.E.M. mit blumigen Worten: „Sie haben jede Farbe auf der Palette benutzt, sie haben ganz eigene Farben erfunden, und sie haben dieses gewaltige Wandgemälde voller Musik, Sounds und Emotionen erschaffen.“ Für die Band war da schon klar: Das nächste Bild sollte eher ein Action-Painting werden als ein Stillleben.
Im Juli traten sie fünf Nächte hintereinander im kleinen Olympia Theatre in Dublin auf. „Working rehearsals“ nannten sie die Konzerte, bei denen sie viele neue Lieder ausprobierten und nur zwischendurch ein paar alte spielten. Michael Stipe musste seine Songtexte noch vom Notebook absingen, im Hintergrund prankte die Zeile „This is not a show“ wie eine Warnung. Tatsächlich waren diese Auftritte für R.E.M. vor allem ein Test, ob sie für ihr 14. Album die richtige Richtung eingeschlagen hatten. Den Zuschauern gefielen die kurzen, schnelleren Stücke. Also: „Accelerate“!
Einige Monate später, an einem eiskalten Tag im Januar, sitzen R.E.M. in drei schicken Suiten im New Yorker Tribeca-Viertel, um über ihre wieder entflammte Liebe zur Rockmusik zu sprechen. Im direkten Vergleich wirken die Musiker so unterschiedlich, wie das bei drei Menschen nur möglich ist. Der schlagfertige Bück spricht schnell und trifft immer den Nagel auf den Kopf, was manchmal schroff wirkt, meistens aber eher launig. Er ist nicht mehr bereit, lange nach diplomatischen Formulierungen zu suchen, ganz anders als Bassist Mike Mills, der zwar ebenso eloquent ist, aber im Zweifelsfall dazu neigt, die höfliche Antwort der allzu ehrlichen vorzuziehen und sich mit einem Zwinkern hinter spiegeligen Brillengläsern aus der Affäre zu ziehen.
Am schwersten macht es sich immer noch Stipe, der nicht einfach plappern will, sondern lange nach korrekten Antworten sucht. Er sitzt nicht gern still und stellt während des Interviews auch noch fest, dass er „am Verhungern“ ist. Zwischen ein paar Happen Haferbrei und Früchten ärgert er sich nebenbei über die lärmende Klimaanlage. Beim Versuch, das Gerät abzustellen, gibt es alarmierende Geräusche von sich. „It’s going to explode now“, verkündet Stipe. Vielleicht ist dies dann das allerletzte Interview, das er je geben muss, entgegne ich. Worauf Stipe so laut lacht, dass man fast Angst bekommt. Wahrscheinlich gefällt ihm der Gedanke.
Der Titel „Accelerate“ (Beschleunigen) trifft es genau – das Album ist nur 34 Minuten lang.
Stipe: Wir haben versucht, all das überflüssige Fett loszuwerden. Ich bin es immer mehr leid, mir Musik anzuhören, bei der ich das Gefühl habe, dass dauernd alles nur wiederholt wird, also wollte ich die Songs tighter und schneller haben just get the idea and get out and move on to the next thing. Wenn es zu viele Chorusse gab oder zu viele Strophen oder der Song einfach zu lang war, haben wir nach Möglichkeiten gesucht, die eigentliche Idee prägnanter herauszustellen. Mills: Wir wussten von Anfang an, dass die Songs kürzer sein sollten, aber nicht, wie viele wir haben wollten oder wie lang das Album werden würde. Wir haben einfach ständig Kram weggeworfen. Zu viele Strophen – weg damit! Weg mit der Bridge! Wir brauchen sie nicht!
Bück: Es hätte ein 15-Song-Album werden können, aber wir haben uns gefragt: Wird es dadurch besser? Wir haben editiert, bis wir selbst das Gefühl hatten: Oh Gott, ist es schon vorbei? Die letzten beiden Alben waren wahrscheinlich zu lang. Wir haben ja seit Jahren keine Zweieinhalb-Minuten-Songs mehr geschrieben.
Am Ende von „Around The Sun“ hatten wir einfach alle komplett die Nase voll von unserer eigenen Arbeitsweise. Wir haben ewig gebraucht, und ich persönlich mochte das Album nicht. Wir gingen auf Tour, und live klangen die Stücke sofort besser. Ich fing an, zum Soundcheck schnelle Songs mitzubringen, Mikes Lieder gingen in dieselbe Richtung, nach dem Motto: We are a band, let’s do this. Spontan sein, die Energie aufrechterhalten, den Fokus bewahren.
Schön zu hören ist es nicht, dass eine Band ihr eigenes Album nicht mag.
Bück: Am Ende hat mir das Aufnehmen einfach keinen Spaß mehr gemacht. Mike und Michael mochten das Album ja. Ich fand es nicht richtig gut. Aber wir hatten das Geld genommen. Wir hatten zugesagt, es rauszubringen. Wir hatten eine Tournee geplant. So was passiert eben. Und es ist ja so: Wenn ich gesagt hätte, ich hasse das Album, lasst uns noch mal anfangen – dann hätten wir auch nicht dieses Album gemacht, sondern einfach noch länger rumgepuzzelt. Manchmal muss man loslassen können. Ich mochte die Songs auf „Around The Sun“ sehr. Man kann sie nur leider kaum hören, weil so viel Mist um sie herum ist.
Du bist ja begannt dafür, dass du gern schnell arbeitest, ohne viele Overdubs und Sound-Schichten.
Bück: Ja, aber diesmal waren wir uns da alle einig. Ich arbeite ja viel außerhalb der Band, und da müssen wir immer schnell arbeiten, aus finanziellen Gründen. The Minus Five haben kein Geld, Tuatara haben kein Geld. Also gehen wir ins Studio und nehmen 22 Songs an drei Tagen auf. Und die klingen nicht schlechter als die, für die wir mit R.E.M. ein Jahr brauchen. Mike zum Beispiel kann toll spontan spielen, was ihm gerade einfällt, aber wenn du ihm die Entscheidung überlässt, wird er acht Monate an einem Bass-Stück herum tüfteln. Ich sage ihm immer, dass er der beste Bassist der Welt ist, wirklich, er ist auf einer Höhe mit Paul McCartney und Brian Wilson. Also spiel einfach Bass! Du kannst es! Tu’s einfach! Denk nicht nach, tu’s!
Warum habt Ihr bei „Around The Sun“ überhaupt den „Fokus verloren“, wie Ihres nennt?
Stipe: Wir waren einfach an einem Punkt angekommen, an dem wir überhaupt nicht mehr miteinander kommuniziert haben – als Menschen oder als Bandmitglieder. Dass wir so lange für das Album gebraucht haben, lag zu einen daran, aber auch an der Tatsache, dass wir mittendrin das Best-Of veröffentlicht haben und getourt sind. Es wurde ein endloser Prozess. Und da haben wir die ursprüngliche Inspiration aus den Augen verloren. Einige der Songs sind im Laufe der Aufnahmen einfach verschwunden. Und, das möchte ich betonen: Das war unsere Schuld, es hatte gar nichts mit Pat McCarthy zu tun oder mit seinen Fähigkeiten als Produzent. Er ist wunderbar, aber die Band – wir haben nicht mehr miteinander geredet, und das hat dem Album sehr geschadet.
Wie kamt Ihr wieder zusammen?
Stipe: Als wir die Songs von „Around The Sun“ und „Reveal“ live gespielt haben, fiel uns auf, dass wir da wirklich was in der Hand haben, das wir im Studio nur fallengelassen hatten, weil wir zu lange daran gearbeitet hatten. Also haben wir die alten Arbeitsregeln genommen und sie aus dem Fenster geworfen und noch mal neu angefangen.
Und nebenbei hast du dich daran erinnert, dass Songtexte sich nicht reimen müssen.
Stipe: Man verfällt oft in eine Routine, und es ist einfach zu reimen, es macht Spaß. Aber ich habe gemerkt, dass ich es nicht tun muss. Es ging nicht darum, clever zu sein, denn ich hasse cleveres Songwriting, das macht mich verrückt. Es ging um die Parameter, die man als Texter hat, und viele davon hatte ich für mich zu eng gefasst. Als wir in Dublin die älteren Songs gespielt haben, als Füller, um dem Publikum eine Pause von all dem neuen Zeug zu gönnen, fiel mir auf: Mann, viele dieser Stücke haben keinen einzigen Reim. Das war großartig!
So finden sich bei Liedern wie „Sing For The Submarine“ wieder fast stream-of-consciousness-artige Textlawinen, die gerade durch ihre Unscharfe den typischen R.E.M.-Zauber entfalten – ganz abgesehen davon, dass Stipe-Anhänger bekannte Versatzstücke erkennen werden. Irgendwas fasziniert diesen Mann an der Schwerkraft, auch hier fühlt er wieder „gravity’s pull“. Aber erwarten Sie jetzt noch keine Text-Analysen, die liefert Stipe frühestens drei Jahre, nachdem er etwas geschrieben hat.
Einer der Songs, die in Dublin vorgestellt wurden und den er besonders mochte, „On The Fly“, schaffte es nicht aufs Album. „Das war erschütternd“, gibt er zu und lacht ein bisschen verzweifelt. Auch „Starring Down The Barrel Ot The Middle Distance“ wurde am Ende leider gekippt, was vor allem Bück störte. Da sind sie wieder, die Freuden der Demokratie!
Das Album beginnt nun mit „Living Well’s The Best Revenge“ – ein Satz des walisischen Dichters George Herbert, der gewissermaßen zusammenfasst, worum es bei R.E.M. schon immer ging: die Welt genau betrachten, vielleicht zornig oder traurig, aber trotzdem weitermachen, ohne sich beirren zu lassen. Das Leben so leben, wie man selbst es will. Stipe denkt über diese These lange nach. „So hatte ich es gar gesehen“, schüttelt er den Kopf., Aber das ist eine schöne Vorstellung. Im Allgemeinen ist das ja das, wo ich als Texter und als öffentliche Figur hin will, was ich vermitteln will. Dieses Hoffnungs-Ding, von dem komme ich einfach nicht weg. Gleichzeitig sind da Elemente von Dystopia und das Gefühl, absolut hilflos zu sein und überwältigt davon, wo wir stehen, kulturell und politisch.“
Über die anstehenden US-Wahlen wollen R.E.M. in diesem Jahr nicht groß reden. 2004 unterstützten sie bekanntlich John Kerry mit der „Vote For Change“-Tour, was sie keinesfalls bereuen. Sie bedauern nur, dass es nicht genug geholfen hat. Mills verrät das Offensichtliche: „Sicher wähle ich jeden Demokraten, der nominiert wird. Ich habe gewisse Präferenzen, aber jeder, der kein Republikaner ist, soll mir recht sein.“ Und dann appelliert er noch an die Bürger, sich nicht nur zurückzulehnen, sondern aktiv zu werden, weil sonst immer die Falschen gewinnen. Sein Lieblingszitat: „Evil needs nothing to sueeeed excebtfor good men to stand by and do nothing.“ In der Öffentlichkeit hält Stipe sich nun aber tatsächlich auch lieber zurück und will nur den Beobachter spielen, aus Gründen, die er nicht näher benennen will, das sei ein „very personal thing“.
Manchmal muss man sich wundern, was bei Stipe plötzlich zu privat ist. Er spricht fast ohne zu zögern über die schlimmen Kommunikationsprobleme mit den Kollegen, aber dann stockt er bei der einfachen Frage, ob von Anfang an klar war, dass R.E.M., die in den vergangenen Jahren für ihre Verhältnisse extrem viel unterwegs waren, mit diesem Album wieder touren würden. „That’s pretty private“, eröffnet er. „Ich war mir zuerst nicht sicher, ob es eine Tournee geben würde, aber ich bin echt froh, dass es nun so ist. Ich habe immer gesagt, dass es sich nicht lohnt, etwas zu machen, wenn man eigentlich nicht will. Das Leben ist zu kurz. Ich fühle das jetzt mehr und mehr. Aber offensichtlich genießen wir die Konzerte. Es wird ein toller Sommer.“ Er lächelt. Geschafft. Man möchte sich gar nicht vorstellen, welche schwierigen Überlegungen bei dieser Entscheidung wohl eine Rolle gespielt haben. Bei der letzten Tour hatte die Band angeblich ja mehr Spaß denn je, auf jeden Fall sah es so aus. Aber vielleicht fragen wir besser in zwei Jahren nach, wie es tatsächlich war.
Eins muss man R.E.M. hoch anrechnen, auch wenn es die Neugier natürlich nicht befriedigt: Sie sprechen nie schlecht über andere und werden im Zweifelsfall immer betonen, wie großartig und talentiert ehemalige Weggefährten waren und wie wunderbar man sich immer noch versteht. Oder, wenn es gar nicht anders geht, dann sagen sie einfach gar nichts. Das war so, als sie sich von ihrem langjährigen Manager Jefferson Holt trennten, oder von Scott Litt, der sechs Alben von „Document“ bis „New Adventures In Hi-Fi“ produziert hatte. Auf „Accelerate“ ist nun Keyboarder Ken Stringfellow nicht mehr dabei, und nach den Gründen gefragt, sagen alle drei erst mal, wie sehr sie ihn als Mensch und Musiker schätzen und lieben, dass sie immer noch in regem Kontakt stehen und es gar nichts, aber auch überhaupt gar nichts mit Stringfellow selbst zu tun hat, dass er nicht gebraucht wurde. Man wollte nur einfach in eine Richtung, die seine Anwesenheit überflüssig machte. „Wir haben uns auf Gitarren konzentriert“, erklärt Mills, „und die Keyboards, die wir brauchten, konnte ich gerade noch selbst spielen.“ Ganz die Southern Gentlemen.
Wie wichtig war Produzent Jacknife Lee für den Aufnahmeprozess und letztendlich für das Album?
Bück: Meiner Meinung nach sollte der Job eines Produzenten der eines Cheerleaders sein. Klar, gute Sounds sollen sie auch machen, aber vor allem sollen sie sagen: „Toll, Jungs, weiter so!“ Was man wirklich nicht hören will, ist: „Ach, ich weiß nicht, ich mag’s nicht so.“ Jackrufe war klar, worauf wir hinauswollten. Die Songs sollten prägnant sein, aufregend. Wir konnten uns auf unsere Arbeit als Musiker konzentrieren, er jonglierte mit den Sounds. Ich habe ihm gleich gesagt: Ich will nicht fünf oder sechs Takes machen, da verlieren wir nur den Fokus. Dreiviertel des Albums haben wir in ein oder zwei Takes gemacht, und es gibt nur ein Overdub. Ich glaube ein Gitarren-Overdub bei ,Accelerate“ und- was ist noch auf dem Album? Vielleicht eins bei „Horse To Water“.
Mills: Manchmal brauchen wir einfach jemanden, der eine Entscheidung trifft, wenn wir das nicht können. Wir legen dann unser Schicksal in seine Hände, wir vertrauen ihm. Jacknife war der perfekte Mann zur perfekten Zeit.
Musste er denn viele Entscheidungen für euch treffen?
Mills: Nein, lustigerweise gar nicht! Diesmal haben wir alle ähnlich getickt. Wir wussten, was wir wollen, und wie wir’s kriegen.
War das Glück oder Mills (lacht laut auf): Ich wünschte, ich wüsste, was es war! Eine Entscheidung, die wir gleich zu Beginn getroffen hatten, war sicher ausschlaggebend: Wir wollten nichts anderes machen, wir wollten diesem Album unsere volle Aufmerksamkeit schenken. Das hat alles leichter gemacht, wir waren viel schneller so. Drei Wochen in Vancouver, drei Wochen in Irland, drei Wochen in Georgia. Plus ein bisschen Zeit zum Mixen. Das schien uns genau richtig zu sein. Natürlich kann man sich so viel Zeit nehmen, wie man will – eine Woche oder zwei Jahre. Aber es ist besser, Prioritäten zu setzen und Grenzen.
Stipe: Es war gut, mit Jacknife jemanden ins Spiel zu bringen, der noch nie mit uns gearbeitet hatte und unsere Schwächen und Stärken gar nicht kannte, und der auch nicht wusste, wie unsere Beziehungen untereinander sind. Wir konnten ihn da nicht mit hineinziehen. Oder wir mussten es nicht. Wenn man so lange zusammen ist wie wir – dann kann man diese Beziehung auch ausnutzen, und nicht auf eine gute Weise. Wir mussten neu überdenken, wer wir sind und was wir wollen. And that’s that.
So enden unangenehme Gedanken bei Michael Stipe meistens: And that’s that. Was so viel heißt wie: Bloß keine weiteren Nachfragen. Die schwere Zeit ist erst mal vorbei, warum also noch lange darüber nachdenken? „Loslassen“ ist das neue Lieblingswort der Band, und jetzt möchten sie gern nach vorne schauen statt sich über alte Konflikte zu unterhalten. Die große Erleichterung, dass es bei den Aufnahmen so wenige Spannungen gab, ist allen anzumerken, doch Bück gibt offener als die anderen beiden zu, dass die Nerven bei ihnen oft blank lagen. „Diesmal waren wir entspannter. Mein Problem ist ja immer: Ich mag Entscheidungsunfähigkeit nicht.
Ich entscheide mich immer sehr schnell, die anderen probieren gern lange rum, und es kotzt sie an, wenn ich versuche, sie zu drängeln. Mich kotzt es an, wenn sie Zeit verschwenden. Das ist die Dynamik der Band!“
Noch eine Veränderung gibt es, sieht man sich das „Accelerate“-Cover genau an: Die Punkte fehlen! R.E.M. bleiben aber trotzdem R.E.M. – ihr Manager Bertis Downs sieht das nicht so eng und scherzt: „Die Punkte sind nur in Gefangenschaft, sicher versteckt im Full Stop Prison. Period.“ Sie werden wieder kommen, aber als kleines Signal kann man das wohl schon deuten: Nichts ist mehr hundertprozentig sicher bei R.E.M., und das ist gar keine so schlechte Sache nach 28 Jahren. Langweilig wird es so auf jeden Fall nicht.
Sind R.E.M. noch dieselbe Band wie vor 10 oder 20 Jahren?
Bück: Well, you can’t stop at the same river twice. Wir sind andere Menschen. Ich kann mich erinnern, wer diese Typen waren, und an die Erfahrungen und all das. Aber wenn man mit 50 dieselbe Person wäre wie damals mit 23, wäre das ziemlich schräg. Und glaub mir, ich sehe so was oft in der Rockstarwelt! Meine Sorgen haben sich etwas verschoben, aber andererseits sind es auch noch die gleichen: Ich will großartige Alben machen, ich will, dass wir eine großartige Band sind. Ich will, dass diese Alben den Menschen etwas bedeuten.
Ist die Arbeit mit der Band in den 28 Jahren leichter geworden oder schwerer? Bück: It’s way past just being friends or playing music together, it’s like blood. Wir kennen uns so gut, dass wir genau wissen, welche Knöpfe wir drücken müssen. Wir können den anderen innerhalb von einer Sekunde zur Weißglut bringen. In einer Sekunde. Aber natürlich bedeuten einem diese Leute auch wahnsinnig viel, und unsere Leben sind so ineinander verstrickt. Es geht ja nicht nur um die Band. Jede Frau, die ich je gedatet oder geheiratet habe, habe ich getroffen, weil ich in dieser Band spiele. So ist das mit allem. Alles Gute, was mir je passiert ist, kommt davon, dass ich dies tue.
Ihr macht ja alle auch viel abseits von R.E.M. Tut das der Band gut?
Stipe: Absolut! Es wäre schrecklich, wenn wir immer nur an der Band hängen würden und sonst nichts zu tun hätten. Dann hätten wir nicht lange durchgehalten. Wir sind ja offensichtlich sehr unterschiedliche Leute mit sehr unterschiedlichen Interessen.
Michael Stipe hat vor kurzem eine Kampagne für Marc Jacobs gemacht, auf der er mit nacktem Oberkörper zu sehen ist. Kein typisches Mode-Foto, im Gegenteil-genau deshalb gefiel Stipe die Idee. Es macht ihm Spaß, das allzu ernsthafte Image, das ihm immer noch anhaftet, gelegentlich aufzubrechen. Lind wie eine Werbe-Veranstaltung kam ihm das Shooting mit dem von ihm bewunderten Jürgen Teller auch gar nicht vor: „Für mich war das viel mehr wie Kunst, witzig und inspirierend, gar nichts Dummes. Ich hätte ja viele andere dumme Dinge tun können, wenn ich gewollt hätte…“
Während Stipe sich also auch mal Fashion-Shows anschaut oder bei den „MTV Europe Music Awards“ auftaucht, spielt Mills Heber Golf. Und Bück? Macht Musik. Kümmert sich um seine 14-jährigen Zwillinge, sitzt gerne zu Hause rum und – macht Musik. Seit Bill Berry vor elf Jahren die Band verlassen hat, schlagen sich R.E.M. mit der Tatsache herum, dass sich bei einem so ungleichen Trio fast immer einer ausgeschlossen fühlt.
Meistens ist das wohl der emsige Bück, und insofern kann man durchaus sagen, dass „Accelerate“ sein Album ist — das Album, bei dem Mills und Stipe das ewige Zaudern und Laborieren nicht gestattet wurde. Ob damit das Gleichgewicht wiederhergestellt ist oder nur für den Moment Harmonie herrscht, weiß allerdings keiner so genau.
Seid Ihr jetzt endlich als Trio gefestigt?
Stipe: Ach, bei jeder Platte denke ich, jetzt haben wir’s geschafft-und wie sich herausgestellt hat, kommt dann immer der nächste Schwung von Herausforderungen auf uns zu, mit dem wir fertigwerden müssen, um als Trio durchzuhalten. Ich könnte jetzt leichtfertig „ja“ sagen, aber wenn ich ehrlich bin: Ich habe keine Ahnung! Es kommt mir so vor, als wären wir jetzt im Einklang, aber wie oft habe ich das schon gesagt?
War es mit vier Leuten wirklich einfacher?
Bück: Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn Bill jetzt noch in der Band wäre. Früher kam es mir so vor, als wären Bill und ich auf der einen Seite und Mike und Michael auf der anderen. Aber die sind sich auch oft nicht einig. Bill und ich hatten es auf jeden Fall immer eilig: raus aus dem Studio, ab nach Hause. Und plötzlich, als er weg war, haben wir die Bremsen gezogen. Alles verlangsamte sich. Aber so ist der Lauf der Dinge. Diesmal ging alles sehr schnell, nächstes Mal machen wir vielleicht eine ganz lange, opulente Platte mit Orchester. Ich hab’s nicht vor, aber wer weiß. Macht Ihr überhaupt Pläne für die Band? Bück: Ich schon. Ich habe immer einen Zwei- oder Drei-Jahres-Plan, und er funktioniert nie. Mike und Michael sind zufrieden damit, jeden Tag für sich anzugehen. Ich schaue gern voraus. Es ist schön, Ziele vor Augen zu haben. Welche Ziele denn?
Bück: Nach dem letzten Album war ich ja nicht glücklich. Und ich dachte, es gibt absolut keinen Grund für mich, so viel Zeit meines Lebens mit etwas zu verbringen, das mich nicht voll fordert. Ich liebe diese Typen, aber ich will arbeiten. Ich sagte, wir können eine tolle Platte machen, aber falls ihr acht Monate Studio buchen wollt, dann bin ich nicht dabei. Doch alle waren sich einig: Fokus und Spontaneität, das sind diesmal die beiden Schlüsselwörter. Das ist das erste Album, das mir richtig Spaß gemacht hat, seit-15 Jahren. 20. Ich schätze seit „Document“. Obwohl „Automatic“ und „Out Of Time“ auch naja, nicht gerade Spaß gemacht haben, aber gute Erfahrungen waren. Danach ging’s irgendwie bergab.
Und wo werden R.E.M. wohl in 10 oder 20 Jahren stehen?
Stipe: Ich kann’s mir einfach nicht vorstellen. Nicht, dass ich es nicht wollte, aber ich habe einfach nicht die Kapazität, so weit in die Zukunft zu projizieren.
Mills: Ich denke immer nur ans nächste Projekt, jetzt also an die Tour. Dann vielleicht eine kleine Pause, dann das nächste Projekt: das nächste Album. Es interessiert mich nicht so, wo irgendwer in fünf oder zehn Jahren sein wird – außer mein Sohn. Ich will, dass die Welt ein Ort ist, wo mein Sohn auch in fünf oder zehn Jahren glücklich sein kann. Ansonsten mache ich mir keine großen Sorgen, um R.E.M. oder irgendwas.
Bück: Ich will weitermachen. Ich möchte gern eine dieser Bands werden, bei der die Leute sagen: holy shit, die können es noch. Ich bin jetzt 50, ich habe noch viel vor. Wenn alles vorbei ist, sollen die Leute sagen: Die hatten eine tolle Phase am Schluss, da haben sie das Werk ihres Lebens vollbracht. Das ist der Plan. Aber du weißt ja, wie das mit meinen Plänen ist…