Die Dinosaurier wer den auch immer jünger
Die schwedischen The Hives spielen den Rock'n'Roll so frisch, als wäre er gerade erst erfunden worden, und alte Rockhelden wie MC5 bemühen sich um ihren Sänger Pelle Almquist
Es muss wohl von Zeit zu Zeit wie ein Mantra wiederholt werden: Rock’n’Roll war ursprünglich nur ein anderes Wort für Sex. Und es waren verdammt coole, stets gut gekleidete Typen, die ihre Musik nach dieser schönen Sache benannt haben. Einige Besucher des Hurricane-Festivals in Scheeßel haben davon leider noch nicht gehört: Schwer schwankend urinieren vier Rock-Hooligans ungeniert in einen stinkenden See, der aus der Pisse ihrer Vorgänger besteht und in den diese Tölpel freiwillig hineingewatet sind. Das schlimmste daran: Diese vier Herren halten ihr Tun ebenso für Rock’n‘ Roll wie das Werfen mit vollen Bierbechern oder das besoffen-im-Schlamm-Schlafen.
Als die fünf Musiker der Hives an den traurigen Pinklern vorbei schlendern, die ihre Notdurft in unmittelbarer Nähe des Bühneneingangs verrichten, verziehen sich ihre Gesichter zu einer Melange aus Amüsement, Abscheu und Arroganz. Anstelle von schlammigen Jeans tragen die fünf Schweden eine elegante Uniform: schneeweiße Blousons, schwarze Hemden, schwarze Hosen, weiße Schuhe. Sie sehen darin aus wie die Hausband des großen Gatsby: scharf, smart und cool. Sie wissen, dass gerade der hemmungslos manischste Rock’n’Roll auch nach einer großen Inszenierung verlangt. „Sonst könnten wir ja gleich wieder auf Bäume klettern und auf Kokosnüsse eindreschen“, behauptet Pelle Almquist, mit einem provozierenden Grinsen. Nicht nur auf dem Cover des neuen Albums „Tyrannosaurus Hives“ besitzt der Sänger der Hives eine starke Ähnlichkeit mit Malcolm McDowell, dem provozierendsten Rebellen des englischen Kinos. Er erinnert dabei weniger an den tollschockenden Alex aus „A Clockwork Orange“ und mehr an den aufsässigen Internatszögling Mick Travis, aus Lindsay Andersons „If“.
Die Hives kommen aus der schwedischen Kleinstadt Fagersta, wo sich das gesamte Leben dem Tagschicht-Nachtschicht-Rhythmus eines Stahlwerks unterordnet Rock bringt zumindest einen Hauch von Abwechslung in die industrielle Idylle. Die Väter fast aller Hives Musiker spielten deshalb früher ebenfalls in Bands, und ihre Plattensammlungen waren ein ähnlich großer Quell der Inspiration wie die Punk-Mixtapes ältere Freunde. Als sie genug Hard-Ons und Mitch Ryder & The Detroit Wheels gehört hatten, vernahmen Howlin‘ Pelle Almquist, Chris Dangerous, Vigilante Carlstroem, Nicholaus Arson und D. Matt Destruction vor elf Jahren den Ruf eines ominösen Impresarios namens Randy Fitzsimmons.
Auch heute noch behaupten die Hives in Interviews, dass es Fitzsimmons tatsächlich gibt und dass er es war, der ihnen beibrachte, wie man den hysterischsten und beseeltesten Garagen-Rock der Welt spielt. Eine liebenswerte Verneigung vor all den Kim Fowleys und Rodney Bingenheimers – wenn auch komplett erstunken und erlogen. Aber auch Schwindeln gehört ja zum Rock’n’Roll.
Heute spielen The Hives – was man mit Nesselfieber übersetzten sollte und nicht mit Bienenstock – unmittelbar vor The Cure, als Co-Headliner des Hurricane-Festivals: „Wir sind die godfathers dieser Bewegung, ohne jemals wirklich Teil davon gewesen zu sein“, prahlt Almquist. „Und wir sind immer noch immer jünger, als die meisten anderen The-Bands.“ Wie immer hat er dabei ein amüsiertes Lächeln im Gesicht. Natürlich gab es auch früher schon Bands wie The Make-Up, die ebenfalls identische, gut geschnittene Bühnenoutfits trugen und genauso Soul, Punk und Rock’n’RoIl zu einem schweißtreibenden Cocktail verquirlten. Von Ahnvätern wie The Sonics gar nicht zu reden.
Doch auf ihrem 2000 erschienenen und wegen dem auf Hochtouren brodelnden Trend 2002 gleich noch mal veröffentlichten zweiten Album „Veni Vidi Vicious“ klangen die Hives so umwerfend frisch und mitreißend, dass ihnen spätestens seitdem die halbe Welt zu Füßen liegt Selbst Wayne Kramer fragte Pelle Almquist unlängst, ob er nicht die wiederformierten MC5 als Sänger unterstützen wolle: „Ich sollte bei einigen Shows in Japan singen, aber wir touren dort nun doch nicht zur gleichen Zeit wie MC5. Es hätte bestimmt Spaß gemacht, aber ich mag die Hives mehr, spielt er die ganze Angelegenheit herunter und redet stattdessen davon, dass Neu! und Devo große Einflüsse für „Tyrannosaurus Hives“ gewesen wären, neben einer Extraportion Soul, versteht sich (kein Wort über Marc Bolan und T. Rex, wie man bei diesem Albumtitel hätte vermuten können – wäre aber auch musikalisch vielleicht ein bisschen zu weit hergeholt).
Doch nun wird es Zeit, nach draußen zu gehen, auf die große Bühne des Hurricane Festivals, vor der bereits Zehntausende ungeduldig warten. Die Hives tragen nun exakt das gleiche Outfit wie auf dem Cover des neuen Albums: weiße Dinner-Jackets, schwarze Hemden, Hosen, Schuhe und als Bonbon – schneeweiße Gamaschen. Schnell und drahtig nehmen sie ihre Plätze ein, Dangerous Chris lässt die Drumsticks kurz in der Luft rotieren, Pelle gockelt über die Bühne wie der junge Jagger (manchmal auch wie der alte Jagger, der den jungen zu imitieren versucht).
Dann kommt „Die, All Right!“, und die Menge vor der Bühne explodiert in einem hemmungslosen Veitstanz. Wie Peitschenhiebe knallen die Riffs, Gitarrist Nicholaus Arson wechselt bei jedem zweiten Akkord die Pose und vergießt dabei garantiert keinen einzigen Tropfen Schweiß. Almquist wird nun erst recht zu einem Zwitterwesen. Halb McDowell, halb Jagger wirbelt er das Mikro, macht ironische Verbeugungen – und er kreischt dazu, als sei er von James Brown besessen. Als nach der neuen Single „Walk Idiot Walk“ die großartige Soulnummer „A Little More For Little You“ folgt, hat sich gnädige Dunkelheit über das Festivalgelände und seine nun überwiegend betrunkenen Besucher gelegt. Doch ganz vorne, im Licht der Bühnenscheinwerfer, tanzen jetzt auffallend viele hübsche Mädchen. So als wollten sie den Musikern zu verstehen geben: Hey, auch für uns bedeutet Rock ’n’Roll mehr als besoffen im Dreck zu pennen.