Die Deppen-Dämmerung
Über die Nuller wachte der "Big Brother" - mit der Garantie, dass jeder ein Popstar sein konnte. Zur Not auch gegen seinen Willen.
Das letzte Jahrzehnt hat uns alle doof gemacht, und das kam so: Im Jahr 2000 landete ein Hubschrauber in Köln. Darin saß John de Mol, der gekommen war, um in einer Pressekonferenz seine neue Show zu erklären. Ein Dutzend Leute sollten in einem Haus zusammenleben und dabei ständig von Kameras beobachtet werden. Nach und nach sollten die Zuschauer einen Bewohner auswählen, der das Haus wieder verlassen musste. Der Letzte sollte Geld bekommen.
Ich saß damals da und dachte: Wer soll den Mumpitz denn gucken? Mittlerweile gibt’s das Format „Big Brother“ in 70 Ländern, allein bei uns schon in der zehnten Auflage.
Zlatko war einer der Stars der ersten Staffel und machte Doofsein hip. Shakespeare nicht zu kennen wurde nicht nur verzeihlich, sondern cool. Zlatko musste anschließend Platten machen, genau wie Jürgen, der andere Star der ersten Staffel. Beide zusammen hatten einen Nummer-eins-Hit, der sich unfassbare 800.000 Mal verkaufte. Die Doofen, ein paar Jahre zuvor noch der ironische Bandname von Wigald Boning und Olli Dittrich, übernahmen jetzt in echt und ironiefrei die Charts. Popstar-Sein wurde das, was früher Interrail war: Man kam mal rum und war nach ein paar Monaten wieder da, wo man angefangen hatte.
Musik wurde zum Medium der Zweitverwertung. Hits wurden zu Klingeltönen und Dieter Bohlen zur Instanz des Mainstream. Konsequenterweise wandert MTV jetzt ins Bezahlfernsehen, die Popkomm 2009 in Berlin wurde abgesagt und im Ex-Standort Köln durch die Games-Convention ersetzt. Klar, es gibt auch noch The Streets, The Strokes, Arcade Fire, Kanye West. Aber das berühmte geköpfte Huhn rennt ja auch noch eine Weile herum.
Meine persönliche Obduktion: Das Musikbusiness ist toter als Elvis. Die Popstars leben zwar, nur haben sie höchstens noch am Rande mit Musik zu tun. Zlatko war der deutsch-mazedonische Beweis für den Wahrheitsgehalt des amerikanischen Traums: Jeder kann es schaffen! Mit dieser Drohung müssen wir seither leben.
Von Nichts zu Allem und wieder zurück war im letzten Jahrzehnt aber nicht nur das Motto für Fernsehinsassen: Die Haffa-Brüder Thomas und Florian waren im Jahre 2000 die Zlatkos und Jürgens des Neuen Markts. Mit ihrer Firma EM-TV waren sie die Popstars der Börse. Für 680 Millionen Dollar kauften die Jungs die Rechte an den Muppets. Das war damals viel Geld, selbst für Puppen. Die 3,3 Milliarden Mark für die Vermarktungsrechte an der Formel 1 klangen im Vergleich dazu angemessen. Formel 1 war ja auch damals schon mit echten Autos.
Ein CEO braucht Glamour-Qualitäten, sprach Herr Haffa und sah entsprechend aus. Der Neue Markt war eine Show, ähnlich wie „Big Brother“, und wieder durften die Zuschauer mitmachen. Dieses Mal als Aktionäre. Und sie machten mit, bei Mobilcom, ComROAD, Telegate und anderen – bis EM-TV zwei Jahre später die Muppets wieder zurückverkaufte, für verschämte 84 Millionen Dollar, während die Formel-1-Rechte noch 8,5 Millionen Euro brachten.
Der Neue Markt wurde 2003 geschlossen, und alle, alle schworen sich, nie, nie wieder so doof zu sein und auf windigen Wirtschaftszinnober reinzufallen. Fünf Jahre später waren die Lehman-Brüder pleite und in ihrem Gefolge fast der ganze Westen. Irgendwas (oder irgendwer) muss da doch wieder doof gelaufen sein – im Zweifel wir alle.
Allein die Sportler waren bekanntlich auch früher schon doof, wurden nun aber auch zu Popstars. War man vor Jahren noch überrascht gewesen, dass die Martinas Navratilova oder Hingis abseits des Tennisplatzes Frauen waren, so erstaunte mich im letzten Jahrzehnt eher, dass geile Weiber wie Kournikova und Sharapova sogar passabel Tennis spielen können. Im Fußball hatte es früher Gesichtslandschaften wie die von Katsche Schwarzenbeck oder Bulle Roth gegeben, die folgende Generation war dann eher gesichtslos (selbst die Weltmeister von ’90 sind heute weitgehend vergessen – außer Klinsmann und Matthäus, was aber bei beiden nichts mit Fußball zu tun hat). Die Ballkönige von heute sind Strenesse-Models mit Model-Freundinnen, PR-Berater und eigener Figur auf der Playstation, die sich das Recht auf eigene Fußballschuhe im Vertrag festschreiben lassen. Kein Wunder, dass Berti Vogts in einen Dritte-Welt-Staat abgeschoben wurde und Rudi Völler nach Leverkusen, was praktisch dasselbe ist.
Kurz gesagt: Das Volk ist doof, der Rest ist Popstar. Unser aktueller Verteidigungsminister ist einer, genauso wie Margot Käßmann oder Thilo Sarrazin. Alle schreiben Bücher oder machen Platten. Wer Titten hat, macht beides, siehe Daniela Katzenberger und Gina Lisa Lohfink – auch wenn die besagten Brüste meistens gar nicht echt sind. Gleichzeitig ist Authentisch-Sein total wichtig geworden. Jeder, der authentisch ist, kriegt automatisch einen Werbevertrag.
Die Nuller waren ohnehin ein Jahrzehnt voller Widersprüche. Es gab immer mehr Dicke, gleichzeitig auch immer mehr Mitglieder in Fitnessstudios. Designer kümmerten sich um jeden Scheiß, zum Beispiel Staubsauger, gleichzeitig kamen Flipflops in Mode. Wellness wurde genauso hip wie Botox. Die Handyverträge verfünffachten sich, ebenso die Fragen „Stör‘ ich gerade?“, „Wo bist du denn?“ „Soll ich noch mal anrufen, wenn die Verbindung besser ist?“.
Und das Morgenland bombte sich zurück ins westliche Bewusstsein. Wir wissen jetzt ungefähr, wo Afghanistan liegt. Der Islam gehört plötzlich zu Deutschland, oder gar schon umgekehrt, die Diskussion darüber läuft noch. Und natürlich das Internet. Google, Facebook und Konsorten kamen über uns wie die Amis über Bagdad, in beiden Fällen im Namen von Freiheit bzw. Demokratie. Dank Internet hat jeder jetzt Zugang zu allem und kann mitreden. Was noch schlimmer ist: Er tut es auch. Was man früher nur mitbekam, wenn man Stammtische mochte, erfährt man heute fast unausweichbar aus Blogs und Kommentaren zu „Spiegel Online“-Artikeln, in Amazon-Bewertungen, SMS-, Twitter- oder Videobotschaften. Wenn irgendwann herauskommen sollte, dass Marc Zuckerberg bei Al-Qaida ist, würde es mich nicht groß wundern.
„Big Brother“ war im Roman „1984“ noch der Diktator eines totalitären Staates. Jetzt hat George Orwell eine Facebook-Seite, und 84.512 Leuten gefällt das. Wer noch immer nicht glaubt, dass wir im letzten Jahrzehnt alle doof geworden sind, der ist selbst der beste Beweis dafür.
Ralf Husmann, Jahrgang 1964, wurde als Autor für „Harald Schmidt Show“, „Anke“ und „RTL Samstag Nacht“ bekannt. Für die „Stromberg“-Drehbücher gewann er u.a. den Grimme-Preis. Sein neuer Roman „Vorsicht vor Leuten“ ist eben im Scherz-Verlag erschienen.