Die Dekade des Dude
Joel und Ethan Coens wirre Geschichte eines bowlenden Kiffers im L.A. der Neunziger war im Kino ein Riesenflop. Doch ganz langsam entwickelte sich The Big Lebowski zur wohl meistverehrten Komödie einer ganzen Generation
„Der ganze Raum hier ist irgendwie Dudemäßig“, sagt Jeff Bridges. Es ist ein Nachmittag im Sommer, und der 58’jährige Filmstar – vier Oscar-Nominierungen kramt in der staubigen Garage auf seinem Anwesen in Santa Barbara, Kalifornien, nach Memorabilien aus „The Big Lebowski“. Im ganzen Haus mit den spanischen Kacheln finden sich Gegenstände aus dem Film. Im Tonstudio etwa, in dem Bridges mal ein Album mit Michael McDonald aufgenommen hat, steht einer der Kegelhüte aus der rauschhaften Traumsequenz mit Bridges und Julianne Moore. Im Büro liegen die verdreckten Plastiksandalen, die er in seiner Rolle als der Dude trug. Und als wir zu der Klippe mit dem Blick aufs Meer hinaufsteigen, wo Bridges fast täglich spazieren geht, sehe ich eine schmutzige Tasse mit den Überresten eines Cocktails. Es war ein „Black Russian“. Das scheint mir der größte Unterschied zwischen Bridges und seiner Kult gewordenen Filmfigur zu sein: Der Dude trank „White Russians“.
In der Garage wühlt sich Bridges jetzt durch einen mächtigen Stapel Pappkartons. Er greift nach etwas und zieht es heraus.
„Aaaah“, sagt er. „Da ist sie ja.“ Die Strickjacke. Die beige und braune Strickjacke mit Zickzack‘ und Zopfmustern, die der Dude im Film die meiste Zeit trägt. Für einen eingefleischten Fan ist das so ergreifend, als würde Harrison Ford den Hut von Indiana Jones ausgraben.
Bridges sieht, dass ich lächle, und platzt schallend heraus. „Hier, probieren Sie sie an“, sagt er.
„Das kann ich nicht“, sage ich. Es wäre einfach nicht richtig.
.Ach was, los“, sagt er.
Ich schlüpfe in die Jacke. Sie ist schwer und viel zu groß. Bridges schnappt sich mein Kamerahandy. „Nehmen Sie die rechte Schulter ein bisschen zur Seite“, sagt er. „Kopf höher, ja, perfekt.“
Und das alles wegen eines sonderbaren Films, der total floppte, als er 1998 in die Kinos kam. Doch in den zehn Jahren seither hat sich „The Big Lebowski“ – eine verworrene Komödie der Desert-StormÄra von Ethan und Joel Coen (Oscar-Gewinner für „No Country For Old Men“) – zu einem der Kultfilme seiner Generation entwickelt.
Das Internet wimmelt von Lebowski-Tributes und Videos wie „The Mii Lebowski“ (einer Hommage mit Videospiel-Figuren). In den USA wurden Dutzende akademischer Arbeiten über „Lebowski“ verfasst, etwa über die Männlichkeitsrituale im Film. Und mehrmals jährlich treffen sich Tausende kostümierter Fans in diversen amerikanischen Städten zum „Lebowski Fest“. Bei einer dieser Versammlungen in Südkalifornien ist Bridges vor ein paar Jahren aufgetreten – „mein Beatles-Moment“, sagt er. Bis heute hat „The Big Lebowski“ in den USA auf DVD 40 Millionen Dollar umgesetzt (mehr als doppelt so viel wie im Kino), und im September erschien in den USA eine limitierte Jubiläums-Edition der DVD, natürlich in einer Bowlingkugel-Hülle.
„In unserem Freundeskreis wird kein anderer Film häufiger zitiert“, sagt Jim James, Sänger von My Morning Jacket, die beim „Lebowski Fest“ in ihrer Heimatstadt Louisville, Kentucky, in Verkleidung auftraten (James als der Dude). „Wir hören immer wieder Stories von Leuten, deren Leben der Film verändert hat.“
Was macht „The Big Lebowski“ zu einem solchen Phänomen? Die Antwort könnte ähnlich kompliziert ausfallen wie die labyrinthene Handlung, für den sich die Coen-Brüder an den Noir-Krimis von Raymond Chandler orientierten. Zum Teil verdankt sich der Kult sicher einer Grundkonstellation, die schlicht einen lustigen Film hergibt: Der von Bridges gespielte Dude – wahrer Name: Jeffrey Lebowski – ist ein eher teilnahmsloser Kiffer im Los Angeles der frühen Neunziger, der mit seinen Freunden Walter Sobchak (einem cholerischen Vietnam-Veteranen, gespielt vonJohn Goodman) und Donny Kerabatsos (Steve Buscemi als sanfterer Sidekick) in einer Freizeit-Bowling-Liga spielt. Als ein trampliges Gaunerduo den Dude mit einem anderen, ungleich reicheren Jeffrey Lebowski verwechselt – und einer der beiden zwecks Einschüchterung auf seinen wertvollen Teppich pinkelt —, wird er in eine Reihe von Screwball-Situationen verwickelt, zu denen ein Familienfehde, eine Gang von Nihilisten, die Avantgarde-Kunstszene, die kalifornische Pornobranche, ein verlorenes Hausaufgabenheft, Tara Reid und ein fehlender Zeh gehören.
Aber das ist nur eine Seite. Zu Beginn des Films deklamiert der Erzähler (Sam Elliott als Cowboy „The Stranger“), manchmal gebe es „den richtigen Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort“. Und vielleicht ist die seltsame Wahrheit, dass dieser Mann – der Dude eben – seiner Zeit um zehn Jahre voraus war.
Heute, wo uns der technische Fortschritt immer mehr an Zeitpläne und Termine fesselt (während Sie diesen Artikel lesen, verpassen Sie drei E-Mails), hat diese Figur etwas ungemein Tröstliches: ein Mittvierziger, der gern mal einen ganzen Abend lang einfach nur in der Badewanne liegt und dazu einen Joint raucht und eine Cassette mit Walgesängen hört. Dieser Dude ist kein Mann des 21. Jahrhunderts. Er ist nicht Iron Man und erst recht nicht Batman. Er interessiert sich nicht für Job, Gehalt, Rentenplan oder iPhone. Der Dude ist einfach. Und er ist glücklich damit.
„Es steckt so eine Freiheit in ,The Big Lebowski'“, sinniert Philip Seymour Hoffman, der im Film den unterwürfigen Assistenten des reichen Lebowski spielt. „Der Dude bleibt sich treu, und ich denke, das ist etwas, wonach sich viele Menschen sehnen- ihr Leben so leben zu können. Man kann schon verstehen, dass das junge Leute anspricht.“
„Lebowski“ ist einer dieser seltenen Magneten des Universums, die Zeit und Raum verändern und Menschen und Ereignisse anziehen“, sagt Jim James von My Morning Jacket. „Der Dude ist wie Dirty Harry“, lobt John Milius, der unverblümte, konservative Drehbuchautor von „Apocalypse Now“ oder „Dirty Harry“. Milius diente den Coens als eines der Vorbilder für John Goodmans Figur des manischen Vietnam-Veteranen Walter. „Dirty Harry wurde zu einer Bewegung. Der Dude genauso. Er symbolisiert eine ganze Lebenshaltung.“
Am meisten überrasche das lange Leben des „Lebowski“ vermutlich diejenigen, die den Film gemacht haben. Als ich John Goodman in L.A. treffe, sagt er als erstes, „Lebowski“ sei „von allen Sachen, an denen ich je gearbeitet habe, meine liebste“, und er brüllt vor Lachen, als ich ein paar von Walters besten Sätzen zitiere. (Ein Favorit: „Man kann über den Nationalsozialismus sagen, was man will, aber an Grundsätzen hat es ihm nicht gefehlt.“) Julianne Moore, die im Film Maude spielte, eine Künstlerin und entfremdete Tochter des reichen Jeffrey Lebowski, sagt, es sei „einer der Filme, auf die ich am häufigsten angesprochen werde. Ich sag ja immer, dass ich eines Tages auch mal zu einem .Lebowski Fest‘ gehe.“ Steve Buscemi, der immerhin in fast 100 Filmen mitgespielt hat, auch in Oscar-gekrönten, erlebt das ähnlich: „Wenn ich auf der Straße an drei Leuten vorbeikomme, die mir zunicken, dann müssen sie nicht mal eine Dialogzeile zitieren. Ich weiß, an welchen Film sie denken.“
Auch Jeff Bridges sagt, mit dem DVD-Erfolg von „The Big Lebowski“ hätte er nicht gerechnet. Wir haben diesen großartigen Schauspieler nun schon als rauflustigen Städter („Die letzte Vorstellung“), schweigsamen Außerirdischen („Starman“) und abgründigen Klavierspieler („Die fabelhaften Baker Boys“) gesehen, aber keine dieser Rollen wirkte so nachhaltig wie die des Dude. Und während viele Schauspieler sich dagegen wehren, vom Publikum mit einer besonders geliebten Figur identifiziert zu werden, hat Bridges mit dem Dude kein Problem. Als ich frage, ob es ihn ärgern würde, wenn er vor allem für „The Big Lebowski“ im kollektiven Gedächtnis bliebe, zögert er keine Sekunde, „Nein“, sagt er. „Überhaupt nicht.“
Als Joe! und Ethan Coen mit dem Drehbuch zu „The Big Lebowski“ begannen, standen sie an einem Tiefpunkt ihrer Karriere. Sie hatten mit zwei Hits begonnen, „Blood Simple“ und „Raising Arizona“. Doch dann ließen die in den Suburbs von Minneapolis aufgewachsenen Brüder eine Reihe von Kassenkatastrophen folgen, die nur Kritikern gefielen: „Barton Fink“, „Miller’s Crossing“, „The Hudsucker Proxy“. Letztgenannter, eine Parodie auf das Big Business, kostete 25 Millionen Dollar und spielte nur drei Millionen ein. Heftig angeschlagen machten sich die Coens an zwei neue Drehbücher gleichzeitig. Das eine war „Lebowski“. Das andere ein viel düstererer Stoff über einen desperaten Autohändler, der zwei Gangster anheuert, damit sie seine Frau kidnappen. Der Film hieß „Fargo“, war wesentlicher Teil des Independent-Booms im Kino der Neunziger – und machte richtig Kasse. Er wurde für sieben Oscars nominiert, und gewann zwei: für die beste Hauptdarstellerin (Frances McDormand) und das beste Originaldrehbuch. Letzteren teilten sich die Coens.
Allerdings fanden sie den Erfolg von „Fargo“ auch ziemlich irritierend. „Wenn so ein Film Erfolg hat, dann stimmt doch überhaupt nichts mehr“, sagte Ethan damals. „Dann kann man genausogut einfach irgendeinen Film machen — den, den man eben machen will —, und dann hofft man das Beste.“ Das nahmen sie sich zu Herzen und wandten sich wieder „The Big Lebowski“ zu, einem Film, den sie schon seit Jahren im Hinterkopf hatten. Für die Handlung bedienten sie sich bei Raymond Chandler ebenso wie bei den wahren Taten und Erlebnissen ihrer exzentrischen Freunde in L.A. „Ein paar der Figuren sind sehr lose von lebenden Personen inspiriert“, bemerkte Ethan 1998. „Wir kennen da so einen Hippie-Pothead mittleren Alters und auch einen Veteranen, der sich total über seine Zeit in Vietnam definiert. Wir finden Figuren interessant, die von den Sixties geprägt sind, aber in den Neunzigern leben.“ (Die Coens reden schon seit einigen Jahren nicht mehr öffentlich über „Lebowski“ und wollten sich auch für diesen Artikel nicht interviewen lassen.) Neben Milius war das wichtigste Vorbild für die Rolle des Vietnam-Veteranen Peter Exline, ein sogenannter „Script Doctor“, ein Drehbuch-Redakteur, den die Coens bei der Arbeit an „Blood Simple“ kennengelernt hatten. Sie nannten ihn „Onkel Pete, den großen Philosophen von Hollywood“. Der dünne, grauhaarige Exline, der ein bisschen an Beatles-Produzent George Martin erinnert, war mit seinem Charisma und seiner riesigen Sammlung abstruser Geschichten gleichsam das Rückgrat des Films. Nehmen wir den berühmten Teppich des Dude. Die Idee dazu entstand bei einer Party bei Exline Ende der Achtziger, zu der auch die Coens eingeladen waren. Exline hatte in seinem Wohnzimmer gerade erst einen (unechten) Perserteppich ausgelegt, den ihm Nachbarn bei ihrem Auszug überlassen hatten. „Ich stand am Grill, guckte jede Viertelstunde auf den Boden und sagte: ,Der Teppich macht den Raum doch erst rund, oder?“, erzählt Exline. „Den Gag trat ich den ganzen Abend breit, und alle lachten.“ Auf derselben Party habe er den Coens auch die bizarre Geschichte erzählt, wie sein Mazda mal gestohlen und auf einem Parkplatz für abgeschleppte Autos wieder entdeckt wurde. Er fand ein Schulheft mit Matheaufgaben im Wagen, das ihn und seinen Freund Lew Abernathy (ebenfalls Vietnam-Veteran) zu einem 14-jährigenJungen namens Jaik Freeman führte. „Wir suchten ihn zu Hause auf, und Lew holte das Heft raus. Er lief auf und ab wie Perry Mason. Dann hielt er Jaik das Heft vor die Nase und sagte: ,Wir wissen, dass du das Auto gestohlen hast, Jaik.“‚Auch diese Story landete in „The Big Lebowsky“.
„Als Pete uns diese Geschichte erzahlte, fand ich irgendetwas an ihr typisch L.A.“, sagte Joel Coen einmal. .Allerdings ein sehr Chandler’sches L.A.“ Raymond Chandler schrieb bekanntlich über ein toughes, nächtliches LA., in dem sein Protagonist, der Detektiv Philip Marlowe, auf seinem Weg zur Lösung eines Kriminalfalls mit immer schrägeren Charakteren zu tun bekommt. Die Coens ließen sich von Chandler-Klassikern wie „The Big Sleep“ inspirieren, in dem ebenfalls ein an den Rollstuhl gefesselter Millionär vorkommt, außerdem eine wilde junge Schönheit, Pornografen und eine zornige junge Erbin, die versucht, den Helden zu verführen.
Sie beschlossen, die Hauptfigur von „Lebowski“ müsse statt des schlauen Marlowe einer sein, der für die Aufklärung komplizierter Fälle denkbar unbegabt ist. Und dachten sofort anJeff „the Dude“ Dowd, einen Aktivisten aus den Sechzigern, der ihnen geholfen hatte, für ihren ersten Film „Blood Simple“ einen Verleih zu finden. Dowd ist ein Bär von einem Mann, der unglaublich gern redet (bei unserem zweistündigen Telefoninterview brachte ich genau drei Fragen unter), und der nach seinen politischen Jahren Mitte der Siebziger durch die Bars von Seattle zog und über seine hitzige Vergangenheit Gras wachsen ließ. ,Ja, wir tranken immer White Russians“, bestätigt Dowd. „Sie nahmen diese Phase des Dude, hielten die Zeit an und verlegten ihn ins Jahr 1991. Jeff Bndges hat meine Körpersprache total verinnerlicht. Das halb Gemurmelte, das Abschweifen und solche Sachen. Ich bin leicht zu imitieren. Beim ersten Sundance-Festival machte Robert Redford mich nach.“
Während die Coens das Drehbuch schrieben, hatten sie noch keinen bestimmten Schauspieler für die Rolle des Dude im Sinn. Allerdings war ein Name früh im Gespräch: Mel Gibson, damals einer der größten Stars in Hollywood. Ethan und Joel sprachen darüber mit Ethans altem College-Kumpel Bill Robertson. „Mein Kommentar war: ,Vielleicht müsst ihr jetzt einfach mal erwachsen werden: den Star engagieren und fertig“‚, sagt Robertson. Aber Gibson nahm das Angebot nicht sonderlich ernst, die Coens suchten weiter und luden Jeff Bridges zu einem Meeting im „Broadway Deli“ in Santa Monica. Dort skizzierte Ethan die Story des Films und beschrieb den Dude als jemanden, der den ganzen Tag chillt, mit seinen Kumpels abhängt und Gras raucht.
Über Bridges Kopf ging ein Licht an. „Ich bin so einer“, sagte er.
Die Dreharbeiten begannen am 27. Januar 1997 und dauerten drei Monate. Wie bei all ihren Filmen bis „Ladykillers“ (2004) war Joel als Regisseur genannt und Ethan als Produzent. In Wirklichkeit machten sie beide beides. „So etwas gab es damals einfach nicht“, sagt Rick Finkelstein von Universal, der mit „Lebowski“ befasst war. „Wir mussten eine Genehmigung der Directors Guild einholen, weil deren Regelwerk das verbietet.“ John Goodman, der auch in „Barton Fink“ und „Raising Arizona“ Hauptrollen spielte, ist vom einzigartigen Verhältnis der Brüder fasziniert. „Die haben ein gemeinsames Hirn“, sagt er.
Jeff Bridges erinnert sich an nur einen Streit der beiden auf dem Set. „Das war, als wir die Traumsequenz drehten und mein Kopf die Bowlingkegel treffen sollte“, erzählt er. Joel sagte: ,In dem Moment musst du das Gesicht verziehen, weil es ja weh tut.‘ Ethan erwiderte: ,Echt?! Ich dachte immer, er muss lächeln, weil er ja trifft.‘ Ich guckte hin und her und dachte: ,Oh je, jetzt geht’s los.‘ Aber schließlich sagten sie: Ach, drehen wir beide Versionen und entscheiden dann beim Schnitt.“‚ (Dort gewann Ethan.) Für die Kontrolle über jeden Aspekt eines Films sind die Coens auch bereit, weniger daran zu verdienen. Als Bridges das erste Angebot für den mit 15 Millionen Dollar angesetzten Film bekam, war er schockiert: „Es wurde zwischen John, mir und den Coen-Brüdern geteilt. Ich bekam das Angebot und sagte: Jesus, ist das das Beste, was ihr hinkriegt? Ihr habt einen Oscar gewonnen, und dann macht ihr mir so ein Angebot? Kommt schon, da können wir doch mehr rausholen.‘ Aber sie sagten: „Nein, wir wollen gar keinen größeren Deal, sonst sind wir den Finanziers verpflichtet. Wir wollen, dass die Finanziers uns verpflichtet sind.‘ Die bekamen da nämlich einen Superdeal -Oscar-Gewinner für so wenig Geld. Und deshalb war die Atmosphäre auf dem Set dann so relaxed. Kein Druck.“
Über das Drehbuch spricht die ganze Besetzung von „The Big Lebowski“ heute noch wie von einem heiligen Text, der vom Himmel kam, und der keinen Platz für Improvisation und Abweichungen ließ. Jedes Wort in diesem Script steht aus einem guten Grund da, und wenn es der Rhythmus ist“, sagt Julianne Moore. „Ich weiß noch, wie Ethan mal zu mir kam und mich bat, ein einzelnes Wort wegzulassen. Solche Regieanweisungen kriegt man von denen, so präzise arbeiten sie.“
Als „The Big Lebowski“ schließlich im März 1998 in die Kinos kam, war die
Reaktion der Kritiker sehr durchwachsen. Die meisten hielten den Film für eine allzu selbstverliebte, schrullige Abkehr vom vergleichsweise kargen „Fargo“. Ein paar fanden ihn sehr lustig. Die unterschiedlichen Meinungen von Gene Siskel und Roger Ebert, Amerikas bekanntesten Filmkritikern, brachte die Debatte auf den Punkt. Ebert: „Kaum ein Film könnte es mit ,Fargo‘ aufnehmen, und dieser kann es auch nicht. Obwohl er auf eine seltsame Art sehr charmant ist.“ Siskel urteilte deutlich härter: „Ich finde den Humor einfach einfallslos“, sagte er. „Ist das Thema Entführung gegen Lösegeld nicht recht abgedroschen? „Kingpin‘ war, als Film, der im Bowling-Milieu spielt, viel witziger. Und die Figur von Jeff Bridges hat mich gelangweilt. Da ist kein Herz drin. „The Big Lebowski? Eine einzige Enttäuschung.“
An den Kinokassen war Amerika immer noch im ,Titanic‘-Rausch. ,The Big Lebowski‘ kam am Startwochenende nur auf Platz sechs der Kinocharts und spielte magere 5,5 Millionen $ ein. ,Fargo‘ war vergessen: Die Coens galten wieder als Macher überteuerter Flops.
Der Aufstieg des ,Big Lebowski‘ von der Kassenkatastrophe zur Kultsensation verlief ganz allmählich. Viele Fans des Films reagierten anfangs ähnlich wie Gene Siskel. „Zuerst ging der Film total an mir vorbei“, sagt der Mitbegründer des „Lebowski Fest“, der 32-jährige Will Russell, der in Louisville einen T-Shirt-Laden führt. „Er war ziemlich verworren. Die meisten Leute gingen wahrscheinlich rein wie in jeden anderen Film: In der Erwartung, dass die Handlung den Film trägt. Dann stellt man fest, dass der Plot recht unbefriedigend ist. Er diente ihnen aber eben nur als Rahmen für diese großartigen Figuren und dieses ganze tolle Kinoerlebnis.“ Russell sagt, er habe „Lebowski“ über 100 Mal gesehen: „Einfach zwei Stunden pures Vergnügen.“
lieh von den Coens selbst – umgeändert in: „This is what happens when you find a stranger in the Alps“). Plattenläden verkauften „Lebowski“-Plakate neben dem von Marley mit Joint, und auf YouTube häuften sich die Tribute-Videos.
Einige der Schauspieler – die natürlich enttäuscht waren, als der Film so schlecht anlief- beobachteten erste Anzeichen dieser Entwicklung schon fünf Jahre vorher. „Mir fiel auf, dass die Fans zunehmend jünger wurden“, sagt Goodman. „Manchmal riefen sie: ,Shut the fuck up, Donny.'“
Und John Turturro – er hat im Film einen hinreißenden dreiminütigen Auftritt als Jesus, der Bowling-Spieler und Triebtäter im engen lila Overall – wird nur das Buch schreiben, und dann mach ich ihn.“ Die Story ist simpel: Jesus kommt aus dem Gefängnis und findet einen Job als Busfahrer des Volleyballteams einer Mädchenschule. „Der Film wird davon handeln, wie er mit seinen Dämonen kämpft. Es wird wie eine Mischung aus ,Rocky‘ und ,Die Bären sind los‘. Und es müsste allermindestens ein Gastauftritt des Dude rein.“
Goodman würde irgendwann auch gern wieder mit den Coens drehen, aber ergeht davon aus, dass der Anruf nicht so schnell kommt. „Irgendwann wurden meine Figuren zu ähnlich“, sagt er. „Sogar ihre Namen wurden ähnlich, also trennten sich unsere Wege. Ich vermisse diese Zeit. Ich würde heute vieles Als das amerikanische Publikum den Film wiederzuentdecken begann, entwickelte sich eine Eigendynamik. Ab 2001 zeigten immer mehr US-Kinos den Film in Spätvorstellungen neben Kultklassikern wie der „Rocky Horror Picture Show“. „Lebowski“-Zitate wurden zur neuen Kommunikationsform an den College-Campuses. Kabelsender begannen den Film regelmäßig zu zeigen (mit der Konsequenz, dass er entschärft werden musste: Goodmans Satz „This is what happens when you fuck a stranger in the ass“ etwa wurde – angebvon Autogrammjägern ständig gebeten, mit seinem berühmtesten Satz zu unterzeichnen: „You don’t fuck with the Jesus.“ „Die Tragödie ist, dass irgendwer meinen Overall weggegeben hat“, sagt Turturro. „Mit dem hätte man ein Vermögen für einen guten Zweck machen können.“
Turturro sprach kürzlich mit den Coens über die Möglichkeit eines „Lebowski“-Sequels mit Jesus in der Hauptrolle. „Wir reden da schon länger drüber“, sagt er. „Selbst wenn sie den Film nicht machen wollen – sie könnten auch anders machen, aber das geht nun mal nicht, das ist gegen die Naturgesetze. Die Zeit läuft weiter.“
Falls tatsächlich irgendwann eine Fortsetzung von „Lebowski“ kommt, dann hat sie schon mal ein wild begeistertes Publikum in der stetig wachsenden Legion der „Lebowski Fest“-Teilnehmer. Sechs Jahre ist es her, dass Will Russell und sein Freund Scott Shuffitt in Louisville Flyer verteilten und zu einer ,Lebowski‘-Party in der örtlichen Bowlingbahn einluden. „Wir dachten, es würden 20 Freunde von uns kommen“, sagt Russell. „Am Ende waren es 150 Leute, manche sogar von außerhalb des Staates.“ Inzwischen findet das Fest fünfmal im Jahr statt und zieht Tausende von „achievers“ an, wie sich die „Lebowski“-Fans gern nennen. Sie verkleiden sich passend (als Creedence-Cassette oder als Hausaufgabenheft des kleinen Larry) und kippen White Russians. Schauspieler, die im Film kleine Rollen hatten (wie Robin Jones, die den Dude zu Beginn des Films als Supermarkt-Angestellte bedient), schauen ohnehin regelmäßig vorbei, aber 2005 gab es einen Riesentrubel, als Jeff Bridges bei einem .Xebowski Fest“ in LA. auf die Bühne kam und mit seiner Band „The Man In Me“ spielte, den vergessenen Dylan-Klassiker, der praktisch der Titelsong des Films ist. „Ich ging auf die Bühne und spielte vor einem Meer von Dudes“, sagt Bridges. „Ich hab mich kaputtgelacht.“
Bridges lacht vielleicht, aber es ist klar, dass der Dude eine ganze Generation ins Herz getroffen hat, wie einst Dennis Hopper in „Easy Rider“ oder John Belushi in ,Ar>imal House“. „Er ist so eine Art schräges Rollenvorbild“, sagt Robertson. „Die Kids heute stehen unter einem Wahnsinnsdruck; ständig sollen sie Bestnoten abliefern. Gleichzeitig müssen sie mitansehen, wie die Gesellschaft ihre Zukunft verschleudert, und sie wissen, dass ihr Lebensstandard viel niedriger sein wird als der ihrer Eltern.“ Deswegen zieht es sie zum Dude, sagt Robertson, „einer Figur, die einigermaßen clever ist, zwar konfus vom Kiffen und nach normalen Maßstäben ein Versager, aber er hat ein gutes Herz und ist loyal. Am Ende des Films bleibt, dass es schon okay ist, ein Loser zu sein – solange man ein guter Mensch ist.“ Robertson hat diese Theorie auch schon bei einem „Lebowski Fest“ vorgestellt. Den Zuhörern „kamen dabei die Tränen“, sagt er.
Beim Brunch im „Four Seasons“-Biltmore, Santa Barbara überlegt Jeff Bridges, wie ähnlich der Dude ihm selbst sei. Mir scheint die Grenze zwischen den beiden recht unscharf. „Ich denke, unsere grundlegenden Lebensphilosophien sind dieselben“, sagt er. Bridges hat dieselbe relaxte Haltung, und er zuckt nicht mit der Wimper, als eine Frau an unseren Tisch kommt und ihm, als wären sie enge Freunde, die sich lange nicht gesehen haben, herzlich zum Erfolg von „Iron Man“ gratuliert (in dem Bridges Obadiab Stane spielt, den Finanzier und Rivalen von Iron Man). „Ich kann mich nicht erinnern, woher ich diese Frau kenne“, sagt er, als sie weg ist. „Vielleicht bin ich…“, sinniert er weiter, „ist ,ehrgeiziger‘ das richtige Wort? Oder ,getrieben‘? Aber allzu viel fällt mir nicht ein. Jedesmal, wenn ich an was denke, worin ich anders bin, kontert mein Verstand und sagt: ,Nee, das würde der Dude auch so machen.‘ Mir schwimmt der Kopf bei der Frage.“