Die CD-ROM, als interaktive Revolution bejubelt, bleibt weit hinter den Erwartungen zurück
Seit Bill Clinton mit seiner Vision vom „Information Super Highway“ Politik und Industrie aufschreckte, geistern Schlagworte wie Datenautobahn und interaktives Fernsehen durch die Medien, als stünde der Einzug ins künstliche Paradies bevor. Mit Dollarzeichen in den Augen verspricht man uns eine multimediale Zukunft, in der wir den Inhalt von elektronischen Informationen selbst bestimmen werden, statt wie bisher nur passiv zu konsumieren.
Alles Quatsch? Die ehrliche Antwort kommt aus dem New Yorker Untergrund in Gestalt von „Blam!“, einer CD-ROM für Macintosh (Vertrieb: Indigo). „Interaktivität ist eine Lüge“, lautet das Manifest der Herausgeber Eric Swenson und Keith Seward. Mit von der Partie sind Künstler der New Yorker Anarcho-Boheme: Punk-Mutter Lydia Lunch gibt ein Interview, Kim Gordon von Sonic Youth quält ihre Gitarre, Howard Rheingold, Herausgeber des US-Kultmagazins „Whole Earth Review“, kommt zum Thema „Virtuelle Gemeinschaften“ zu Wort, und Peter Girardi betreibt Action Painting hinter einer Glasscheibe, die für den Anwender der Bildschirm ist Graphiken, Bilder, Videos: alles in Schwarz-Weiß.
Ihr Auftrag lautet schlicht und einfach: Dir klarzumachen, daß nicht Du es bist, der eine Anwendung kontrolliert, sondern daß die Maschine Computer Dich steuert; daß Du Dich trotz aller gegenteiligen Behauptungen immer noch an Technik und Marktstrategien der Kulturindustrie anpassen mußt, und nicht umgekehrt Freiheit gibt es eben auch im Cyberspace bestenfalls auf Zeit – und auch dann nur in der subversiven digitalen Aktion.
Es scheint, als hätten Seward und Swenson Hakim Bey gelesen. Gedanken aus der „Temporären Autonomen Zone“ (TAZ) tauchen immer wieder auf, etwa in einem Beitrag über „Pottable Hacking“ (Anarcho-Hacken in öffentlichen Netzen mit dem Notebook).
Für ein endgültiges Urteil ist es noch zu früh, vielleicht aber wird man die New Yorker Cyberpunks eines Tages in der Tradition der kulturellen Avantgarde sehen: in der Tradition von Dada, Surrealismus und vor allem der Situationistischen Avantgarde von Guy Debord.
Eines ist jedenfalls heute schon sicher: Wenn das Wort Cyberpunk jemals Sinn machen sollte, dann hier. „Blam!“ ist die Kampfansage des digitalen Untergrundes gegen die sich zu Tode amüsierende Gesellschaft. Eine süchtigmachende Elektronikschocktherapie gegen das elektronische LSD der Medienkonzerne.
Einen ähnlich subversiven Ansatz hätte man sich auch von den Residents gewünscht Lange vor anderen Musikern haben die Avantgardisten aus San Francisco das Medium Video als Kunstform erkannt; ab sie vor einem Jahr ihre Computer-CD yfieakshow“ herausbrachten, untermauerte das ihren Ruf als mediale Speerspitze: eine Band, die den Computer für interaktives Kunstverständnis einsetzt – und nicht als Vehikel zur Selbstinszenierung.
„Gingerbread Man“ (Indogo/BMG) heißt der Residents neuestes Computer-Kunstwerk (für Macintosh). Neun Charaktere, vom Fleischer bis zur alten Dame augenscheinlich alles Psychopathen, sind diesmal zu ergründen. Aus ihren Köpfen lassen sich per Mausklick Gedanken entlocken, als Ton, Text oder Bild.
Beim wiederholten Suchen nach den Interaktionsmöglichkeiten beschleicht einen aber der böse Verdacht, daß eine Szene der anderen gleicht und sich das Gleiche wiederholt Soundtracks zur Auswahl hat die CD-ROM übrigens auch nicht Nun werden ergebene Fans auf „Gingerbread Man“ wohl entdecken, was den Augen und Ohren der Ungläubigen verborgen bleibt. Für uns Ketzer aber gilt: Rock-Avantgardisten dürfen sich viel herausnehmen – verarschen dürfen sie sich allein.