DIE BIPOLARE GÖTTIN

Vermutlich ist es eine dem Adel abgeschaute bürgerliche Idee, seine Kinder auf den eigenen Namen zu taufen. Und wahrscheinlich ist sie genau aus diesem Grund mittlerweile ausgestorben. Man trägt ja auch keine Zylinderhüte mehr. Im Pop hingegen ist es immer noch durchaus üblich, dass ein Musiker seinem Werk den eigenen Namen gibt. Oft ist das bei Debüts der Fall („The Smiths„,“Jake Bugg“,“Scott 1″), oder wenn Künstler das Nach-sichselbst-Benennen zur Masche machen („Peter Gabriel„,“Tindersticks“, „Scott 2“), wenn sie sich neu erfinden („Blur“,“Fleetwood Mac“,“Scott 3″) oder -wie es so schön heißt -bei sich selbst angekommen sind („The Beatles“,“The Band“,“Scott 4″). Und welchen Grund hatte Annie Clark, ihr viertes Soloalbum nun auf den Namen ihres künstlerischen Alter Egos St. Vincent zu taufen?

„Ich habe die Autobiografie von Miles Davis gelesen“, sagt die 31-jährige Songwriterin. „Und zwischen sehr vielen ,fucks‘ und ,motherfuckers‘ und Sticheleien gegen Charlie Parker schreibt er, die schwierigste Aufgabe für einen Musiker bestehe darin, so spielen zu lernen wie er selbst. Und auf diesen neuen Stücken klinge ich einfach sehr nach mir selbst.“

In den vergangenen zwei Jahren hat Clark vor allem an der Seite ihres prominenten Partners David Byrne musiziert, das gemeinsame Album, „Love This Giant“, geschrieben, aufgenommen und vorgeführt -aufgrund des Erfolgs gerieten die Konzertreisen sogar ein bisschen länger als ursprünglich geplant. Da war es vermutlich höchste Zeit für das gute alte Beisich-selbst-Ankommen. Und wenn Annie Clark bei sich selbst ist, dann klingt sie irgendwie bipolar, dann oszillieren ihre Tracks zwischen großer Schönheit und bratziger Schroffheit, dann wird Elegisches von verzerrten Gitarren aufgescheucht und hysterische Rhythmen werden von großen Melodien erstickt. Manchmal denkt man kurz: „Dieser Song könnte ein Hit werden“, und dann, ein paar Sekunden später:“Nein, vielleicht doch nicht.“

„It’s a very quick train to the middle of the road“, sagt Clark.“Und wer den nehmen will -nur zu! Aber für mich ist das nicht der richtige Weg. Ich glaube, wenn ich morgen aufwachen würde und ein Popstar wäre, der Musik spielt, die ich hasse und cheesy finde, würde ich alles tun, um das wieder rückgängig zu machen.“ Das Showbusiness ist ihr fremd. Sie erzählt, wie ein Freund sie vor einiger Zeit zu einem Lady-Gaga-Konzert in Las Vegas mitgenommen hat. „Ich war vorher noch nie in Vegas. Eine ziemlich seltsame Erfahrung. Ich bin hingeflogen, habe mir das Konzert angeschaut und bin danach gleich wieder weg. Länger hätte ich es da auch nicht ausgehalten. Das ist wirklich ein fürchterlicher Ort“, sagt sie und schüttelt sich leicht angewidert. Kürzlich habe sie einen Essay des amerikanischen Kunstkritikers Dave Hickey über die Casino-Stadt gelesen, erzählt Clark weiter. „Sinngemäß schreibt er, man sollte Las Vegas nicht durch die Brille Amerikas sehen, sondern Amerika durch die Brille von Las Vegas … Und dann braucht er viele Seiten, um die Vorzüge der Stadt aufzuzählen und dass sie natürlich krass sei, aber auf seine oberflächliche Art sehr ehrlich.“

Sie überlege, sich Las Vegas daraufhin noch mal anzuschauen.“Vielleicht gefällt die Stadt mir ja mit dem Essay im Kopf besser. Aber ich bezweifle es“, sagt sie und verzieht die Miene zur Bestätigung hübsch hässlich. „Das Konzert war aber eine sehr gut inszenierte Produktion -viele Lichter und Requisiten und Kostümwechsel. Las Vegas war genau der richtige Ort dafür.“ Ein Lady-Gaga-Diss versteckt in einem Las-Vegas-Diss. Schön. Man könnte versucht sein, Annie Clark eine Art Anti-Lady-Gaga zu nennen, aber das würde vermutlich zu Missverständnissen führen.

Vielleicht kann man ihre Musik authentisch nennen, aber ganz sicher nicht nach den Regeln der Roots-Musik, nach denen man durch seiner eigenen Hände Arbeit klingen muss wie die Gegend, aus der man kommt (ist ja meist eh gelogen), sondern nach der existenzialistischen Miles-Davis-Definition, dass sie eben viel geübt und experimentiert hat, um irgendwann endlich zu klingen wie sie selbst. So gesehen ist Authentizität nicht das Gegenteil von Künstlichkeit, sondern fällt mit ihr zusammen. Und so wundert es einen dann auch gar nicht mehr, dass Clark nun, da sie ihre musikalische Selbstidentität erreicht hat, mit sich im Einklang ist quasi, gar nicht mehr aussieht wie sie selbst. Zumindest nicht, wie man sie in Erinnerung hat. Die einst brünetten Locken sind zur wasserstoffblonden Mähne umfrisiert, und sie sieht mit ihrem vornehm bleichen Teint nun aus wie eine unglaublich kostbare Porzellanpuppe.

Mit jeder platte versuche ich auch, eine neue visuelle Welt zu kreieren, die zur Musik passt und ihr noch etwas hinzufügt“, erklärt sie ihren Look. „Bei meinem letzten Soloalbum, ,Strange Mercy‘, war es der Archetyp der unterdrückten Ehefrau unter einem Schleier von Barbituraten und Weißwein, und auf ,Love This Giant‘ waren die Archetypen, an denen wir uns orientierten, die Schöne und das Biest – wobei David der Schöne war und ich das Biest. (lacht) Dieses Mal habe ich mir eine Hohepriesterin aus der nahen Zukunft vorgestellt. Mein momentanes Äußeres hat also da seinen Ursprung.“

Auf dem Cover des neuen Albums, das sie übrigens mit Kanye Wests visual adviser Virgil Abloh entwarf, kann man Clark dann auch in vollem Priesterinnenornat bewundern. „Zu dieser angedeuteten okkulten Bildsprache haben wir uns unter anderem von Alejandro Jodorowskys Film ,Montana Sacra‘ inspirieren lassen“, erklärt sie, und ärgert sich ein bisschen, als ich einwerfe, dass Kanye West zwei Tage vor unserem Treffen in Interviews auf Parallelen zwischen seiner „Yeezus“-Tour und diesem arg kruden psychedelischen Selbstfindungsfilm von 1973 hingewiesen hat (mehr zu Jodorowskys Filmen übrigens auf S. 108 dieser Ausgabe).“Oh, Mann, Kanye!“, bockt sie, mimt Entrüstung und stemmt die Ärmchen in die Seite. „Man will doch eigentlich sicher sein, dass man sich auf so verrücktes Zeug exklusiv bezieht … Also gut. Der pinkfarbene Stuhl, auf dem ich auf dem Coverfoto sitze, ist an das Design der Memphis Group angelehnt. Und während das Foto gemacht wurde, hatte ich den Spruch ,In der Pose liegt die Kraft‘ im Kopf. Also habe ich da gesessen und an die Bilder von Grace Jones oder David Bowie gedacht, bei denen man nicht genau weiß, ob es sich um einen Menschen oder um ein Alien handelt. Ich bin also eine jenseitige space geisha.“ Da kann Kanye West nicht mithalten.

Auch beim Fototermin für den ROLLING STONE verharrt Clark in dieser Pose, bewegt sich puppenhaft mechanisch. Beim Interview wirkt sie dann regelrecht gelöst, und man hat den Eindruck, sie lade einen ein, hinter die für „St. Vincent“ aufgezogene Fassade auf die reale Person Annie Clark zu schauen. „Dir kann ich’s ja sagen“, flüstert sie und lacht, „meist geht es um ziemlich persönliche Sachen in meinen Liedern, auch wenn die Leute oft denken, ich wäre eine Konzeptkünstlerin und sänge aus der Perspektive verschiedener Charaktere. Mein letztes Album hat sich zum Beispiel vor allem mit Schmerzen beschäftigt, die mir von außen zugefügt wurden, aber auch mit einer gewissen Selbstzerfleischung und Selbstverachtung. Auf dem neuen Album gibt es etwa einen Song,,Every Tear Disappears‘, in dem ich mich selbst vergewissere, wie weit ich gekommen bin und dass ich durch den Schmerz hindurch bin. Und dass ich stärker geworden bin durch solche Erfahrungen – das weiß zwar jeder, aber es ist noch mal etwas anderes, wenn man es am eigenen Leib erlebt.“

Der weg zurück zu sich habe für sie direkt nach dem Abschluss der „Love This Giant“-Tour begonnen, erzählt Clark. Als sie gemeinsam mit David Byrne und Entourage die Biennale in Venedig besuchte. „Da habe ich zum ersten Mal eine Videoinstallation von Ryan Trecartin gesehen -ich habe es geliebt! Er zeigt eine nahe Zukunft, in der alle nur noch in sinnlosen Slogans sprechen -und alle sind sexuell uneindeutige Zwitterwesen.“ Sie habe sich die ganze Zeit gefragt, warum sie diese Videos, von denen man übrigens einige auf Trecartins Vimeo-Channel anschauen kann, so berührt hätten, sagt sie. „Als ich zu Hause war, habe ich Trecartin gegoogelt und festgestellt, dass er aus dem Osten von Texas kommt, eine Stunde von Dallas entfernt. Und ich bin in einem Vorort von Dallas aufgewachsen. Vielleicht hat die innere Verbindung, die ich gespürt habe, da ihren Ursprung.“ Die Perversionen, mit denen er in seinem Werk spiele, seien sehr texanische Perversionen, erklärt sie und lacht. „In einem Video sieht man Teenager, die sich betrinken, gewalttätig werden, sich schlagen, sich wie wild küssen, und ich dachte:,Oh, mein Gott, das sind die Leute, die mich früher in der Highschool gemobbt haben. Ich kenne diese Kids. Ich kenne euch!'“

Clark lebt zwar schon lange in New York, aber Texas scheint für sie persönlich und künstlerisch immer noch der wichtigste Ort zu sein. Ihre Alben produziert sie am liebsten mit John Congleton, der unweit von ihr aufgewachsen ist und in Dallas ein Studio betreibt. „Wir verstehen uns quasi blind“, sagt sie. „Die Mentalität der Leute dort ist mir sehr vertraut. Und ich weiß, wie der Himmel dort im August aussieht oder wie das Gras im März riecht. In einer texanischen Vorstadt aufzuwachsen und ein Außenseiter zu sein, zu wissen, dass man da nicht hingehört, das prägt einen. In New York ist es einfach, ein Freak zu sein. Das ist der Hafen für alle, die es geschafft haben, den Vorstädten zu entfliehen. In Texas gehört mehr dazu. Gibby Haynes von den Butthole Surfers -das ist ein typischer texanischer Freak.“(lacht)

Die zarte Annie Clark zeigte schon in jungen Jahren, dass sie anders war als ihre Mitschüler: Als sie sich Mitte der Neunziger, in der Hochzeit des Grunge, mit einem irisierenden purpur-blauen Bass einer Heavy-Metal-Coverband namens Terminal anschloss. „Der Name kann sich auf das Flughafengebäude beziehen, wahrscheinlicher ist aber, dass eine existenziellere Endstation damit gemeint war. (lacht) Die anderen Kinder in der Band hatten reiche Eltern und große Marshall-Verstärker. Ich kam mit meinem winzigen Verstärker und meinem kleinen Ibanez aus einem weniger gut situierten Teil der Stadt angefahren, und wir haben Maiden-, Metallica-und Pantera-Songs gespielt.“ Die Wut von damals habe sie sich erhalten, sagt Clark. „Der ganze Indie-Rock ist ja aus dieser Wut der Vorstadt-Jugend entstanden. Auf meinem neuen Album gibt es sogar einen Song,,Bring Me Your Loves‘, auf dem ich quasi einen Jack Daniels für Dimebag Darrell einschenke, wenn du weißt, was ich meine. Nicht? Ach so, na ja, ich ziehe meinen Hut vor ,Cowboys From Hell‘ von Pantera.“

All die Referenzen auf ihre Herkunft und ihre musikalischen Anfänge lassen sich wohl auch daraus erklären, dass Clark sich zum Schreiben der neuen Lieder auf der Farm eines Freundes südlich von Austin eingenistet hat, um Abstand zu gewinnen vom New Yorker Trubel und der Aufmerksamkeit, die „Love This Giant“ auf sie lenkte. „Das ist die Landschaft von Cormac McCarthy, nördlich der mexikanischen Grenze, in der Einöde“, erläutert Clark ihre Eremitage. „Eines Morgens habe ich einen Spaziergang gemacht. Die Sonne schien, und ich habe mich ausgezogen, weil ich eins sein wollte mit der Natur oder so was. Jedenfalls -mitten in dieser transzendenten Erfahrung höre ich ein Rascheln. Erst dachte ich, es wäre der Wind, der durch die Gräser geht. Aber da war kein Wind. Dann habe ich mich umgesehen, und da rasselte eine Klapperschlange -höchstens zwei Meter entfernt. Ich bin gleich losgerannt, hab auf dem Weg Teile meiner Klamotten verloren und bin zurück zur Ranch“ – und dann setzt die Stimme der Sängerin von „Rattlesnake“, dem ersten Song auf „St. Vincent“ ein:“The only sound out here is my own breath/And my feet stuttering to make a path/Am I the only one in the only world?“

„Die Schlange, die archaische Landschaft, die Einsamkeit – das Album beginnt quasi mit meinem persönlichen Schöpfungsmythos“, sagt Clark. Und sich selbst in Form eines künstlerischen Alter Egos zu erschaffen, dauert nun mal länger als nur sieben Tage. Sieben Jahre nach ihrem ersten Album ist aus St. Vincent „St. Vincent“ geworden.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates