DIE BILDENDE KUNST
Zum Bücherherbst 2011: Ein blick auf die Neuerscheinungen, Künstler und Helden des Comicgenres.
So wie bei allen Kunstformen verliert sich auch die Ahnenspur des Comics irgendwo im Archäologischen. Etwa in den Höhlen von Lascaux, wo die Steinzeitkünstler bildlich Jagd machten auf ihr Lieblingswildbret; oder in den ägyptischen Königsgräbern, deren Malereien den toten Seelen noch einmal einen Blick auf ihr glorioses Leben gestatten sollten. All diesen Proto-Comics eigen ist bereits die sequenzielle Struktur, die erst wirkliches Erzählen ermöglicht, weil sich nur in einer Folge von Bildern längere Zeitverläufe darstellen lassen. Was diesen Vor- und Frühformen allerdings noch fehlt, ist der Text als grafisches Element.
Es dauerte dann noch eine Weile, bis die Schrift mitten im Bild ihren Platz fand. Die politischen Cartoons im England der Aufklärungszeit besaßen bereits Sprechblasen, waren allerdings bloße Kommentare zum Zeitgeschehen. Wilhelm Busch, dessen Einfluss auf den frühen Zeitungscomic enorm war und der mit seiner Erzählung „Der Virtuos“ (1865) erstmals wirklich Bewegungsdynamik, Schnelligkeit, eben Action aufs Papier brachte, trennte noch rigoros Text und Bild. Mit Comics wollte Busch nichts zu tun haben. Doch unzählige Zeichner, die auf die große Nachfrage der Zeitungsredaktionen reagierten, ließen sich vor allem von seinen „Max und Moritz“ inspirieren, am deutlichsten und erfolgreichsten der deutsche Emigrant Rudolph Dirks, dessen „Katzenjammer Kids“ zum langlebigsten, heute immer noch laufenden Comic-Strip avancierten.
New Yorker Verleger wie Joseph Pulitzer oder William Randolph Hearst nutzten das neue Offset-Druckverfahren und buhlten nun mit einer mehrseitigen farbigen Sonntagsbeilage um das urbane Massenpublikum. Die Seiten hatten vom Start weg Erfolg und mussten regelmäßig mit Illustrationen gefüllt werden. Auf der Suche nach neuen Talenten stieß Pulitzer auf Richard Felton Outcaults Arbeiten in dem kleinen Humorblatt „Truth“. Er überließ dem Künstler eine ganze farbige Sonntagsseite in der „New York World“, die der nun mit einer satirischen Serie um eine Horde Straßenkinder füllte, die im ebenso deftigen wie deformierten Unterschichtsslang die New Yorker Hinterhof-Verhältnisse kommentierte. „Hogan’s Alley“, nach dem imaginären Schauplatz des Geschehens. Als Titelheld figuriert ein offenbar wegen seiner Läuse kahl geschorenes Kleinkind im gelben Nachthemd, auf dem – anstelle von Sprechblasen – seine kruden Dialoge geschrieben standen. Wimmelbilder waren das, wilde Bild-Text-Melangen, aber eigentlich immer noch eher Cartoons. Aber dann warb Pulitzers Konkurrent Hearst den Zeichner ab. Als „The Yellow Kid“ erschien dessen Seite nun im „New York Journal“, und nach ein paar Monaten, am 25. Oktober 1896, gab Outcault die Einzelbild-Anlage auf und teilte die Seite in Panels auf: „The Yellow Kid and his New Phonograph“ ist eine inhaltlich unbedeutende Eigenwerbung für das „Sunday Journal“, aber eine formale Revolution – der erste echte Comic. Outcaults „Yellow Kid“ blieb ein Publikumsliebling, im Jahr darauf sprangen ihm die „Katzenjammer Kids“ bei, das rief weitere Nachahmer auf den Plan. Der Strip setzte sich durch und drängte bald alle anderen Illustrationsformen an den Rand.
Die Nachfrage auf dem US-Zeitungsmarkt nach den bunten Bildgeschichten war so groß, dass mit ihnen sehr viel Geld zu verdienen war. Die Comic-Syndikate, die bis heute den Vertrieb von Zeitungscomics regeln, gründeten sich. Währenddessen loteten die Zeichner die Möglichkeiten ihres Genres aus, die Strips wurden artifizieller. Mit „Little Nemo in Slumberland“ schuf Winsor McCay nicht nur den ersten Fortsetzungscomic, er erschloss dem jungen Genre auch ein neues Sujet. Freuds „Traumdeutung“ war fünf Jahre zuvor erschienen, und was McCay hier Sonntag für Sonntag zu Papier brachte, waren bebilderte Träume. Die literarische Bedeutung dieser Serie, die schon auf die erst knapp 60 Jahre danach entstandenen surrealen Bildwelten des Franzosen Moebius weist, ist erst später erkannt worden. Ihre Beliebtheit beim großen Publikum war eher gering.
Das Massenpublikum verlangte nach härterem Stoff. Um die Leserschaft nicht völlig an die Pulp-Magazine zu verlieren, holte man die Kolportage einfach in die Strips hinein. Gleichzeitig versuchte man sich auch an eigenständigen Comic-Heften. Die Rechnung ging auf. 1938 hatten sich die comic books auf dem Markt durchgesetzt. Am besten lief die harte, realistisch gezeichnete, durchaus gewalttätige Abenteuer- und Action-Abteilung, die von Jerry Siegel und Joe Shuster noch im gleichen Jahr um eine richtungweisende Subkategorie ergänzt wurde. Die erste dreizehnseitige Folge von „Superman“ verkaufte sich über eine Million Mal. Schon im Jahr darauf bekam „der Stählerne“ sein eigenes Heft. Das Superhero-Genre war geboren, das die folgenden Jahre prägen sollte.
CHRONOLOGIE AM ANFANG WAR DAS BILD
Die Liste der Superhelden ist lang: Batman, Green Lantern, Wonder Woman, Spirit, Namor the Sub-Mariner. Unmittelbar vor Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, 1941, kam noch ein Recke hinzu – Captain America. Genau zur rechten Zeit. Die Vereinigten Staaten würden es bald mit ganz realen Superschurken zu tun bekommen und bedurften zur moralischen Rechtfertigung und Stärkung des eigenen Selbstvertrauens eines exemplarischen, gewissermaßen uramerikanischen Helden. An einer so erfolgreichen und langlebigen Figur wie Captain America zeigt sich besonders evident, wie unmittelbar Comics auf den jeweiligen Zeitgeist reagierten und sich von ihm vereinnahmen ließen. Der Nazijäger der 30er/40er-Jahre transformierte sich während der antikommunistischen McCarthy-Ära zum „Commie Smasher“, machte in den 60er-Jahren einen weiteren Gesinnungswandel zum moderaten Liberalen durch, durfte Anfang der 70er-Jahre sogar Kritik am Vietnamkrieg üben und warf schließlich ein paar Mal ganz die Brocken hin, weil er sich mit seinem Land nicht mehr recht identifizieren konnte.
Ab den Fünfzigern sanken die Auflagenzahlen kontinuierlich, nicht zuletzt wegen der zunehmenden Konkurrenz durch das Fernsehen. Bald nach dem Ende des Krieges hatten die Superhelden erst mal ausgedient, wurden durch kurzlebige Monster-, Science-Fiction- und Romantik-Comics ersetzt. Mit den Verkaufszahlen sank auch ihre Reputation. Das Verdikt der Trivialität und Infantilität hielt sich lange, was nicht zuletzt daran lag, dass die großen Superhelden-Fabriken DC und Marvel Comics und Walt Disneys sprechende Tiere den Markt beherrschten und sich ihre Leserschaft vornehmlich unter Kindern und Jugendlichen suchten. In Deutschland noch sekundiert von Rolf Kauka („Fix & Foxi“) und Hansrudi Wäscher, der mit seinen „Piccolo“-Heften um Sigurd, Tibor, Falk und Akim „in der tristen Nachkriegszeit Licht in die Herzen der Kinder brachte“. Das änderte sich erst wieder langsam in den 60er-Jahren, als die Underground-Zeichner, vorneweg Robert Crumb, den Comic als gegenkulturelle Spielwiese für sich entdeckten und ihn zu einem ganz und gar nicht jugendfreien, eben wieder zu dem Erwachsenenmedium ummodelten, das er schon einmal gewesen war. Ausgehend von dieser ästhetischen Aufwertung, noch dazu unterstützt durch die Aufmerksamkeit der Pop-Art, veränderte sich auch allmählich die Reputation des Comics. Der französische Literaturwissenschaftler Francis Lacassin gestand dem Comic sogar als „Neunte Kunst“ einen Platz im Kanon der bildenden Künste zu. Trotzdem bedurfte es zur vollen Rehabilitation des Comics einer Namensänderung. Will Eisner, der Comic-Pionier, der schon in den Dreißigern an der Entwicklung der comic books maßgeblich beteiligt war und danach mit seiner „Spirit“-Serie zu Ruhm gelangte, untertitelte Ende der 70er-Jahre eine Sammlung thematisch zusammengehöriger Comic-Kurzgeschichten mit der Gattungsbezeichnung „Graphic Novel“. Das Buch „Ein Vertrag mit Gott“ erschien in einem literarischen Verlag, und es überschritt quantitativ ebenso wie qualitativ das standardisierte Heft- oder Albumformat. Eisner erzählt hier in vier Einzelgeschichten unaufgeregt und warmherzig vom Alltag einiger jüdischer Familien im New York Ende der 30er Jahre. Eine Milieustudie, die nicht nur den Lebensraum eines Mietshauses, sondern auch die bedrückende Stimmung in jenen Jahren einfängt.
Schon früher hatte es Versuche gegeben, die gängigen Formate zu sprengen. Aber erst in den 80er-Jahren, vielleicht auch angespornt durch die suggestive, eben literarische Weihen versprechende Bezeichnung Graphic Novel, ging eine größere Anzahl innovativer Zeichner das Risiko ein, die eingespielten Absatzwege zu verlassen. Am erfolgreichsten war damit Art Spiegelman, der in „Maus“ die Geschichtes seines Vaters verarbeitet, der als jüdischer Häftling Auschwitz überlebt hat. Spiegelman konnten auch die bildungsherrlichen Comic-Verächter nicht ignorieren, spätestens dann nicht mehr, als er 1992 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde. Seitdem hat sich der an kein Format gebundene, mit literarischer Prätention geschriebene Comic etabliert. Und Autoren wie Chris Ware, Craig Thompson, Chester Brown, Daniel Clowes, Joe Sacco, Alison Bechdel, Alan Moore, Frank Miller, Neil Gaiman, Marjane Satrapi etc. haben bewiesen, dass Francis Lacassin mit seiner Einschätzung zur Stellung des Comic recht hatte.
DIE 10 WICHTIGSTEN COMICS DES HERBSTES
Julia & Roem Enki Bilal Ehapa, 24,99 Euro
Die Originalzeichnungen des 1951 in Belgrad geborenen Bilal erzielen auf dem Kunstmarkt regelmäßig Rekorderlöse. In seinem neuesten Werk „Julia & Roem“ – der Titel legt es nahe – hat Shakespeare ein Wörtchen mitzureden. Die Welt ist nicht nur sprichwörtlich aus den Fugen, nach dem sogenannten „Blutsturz“, einem verheerenden Wutanfall der Natur, wurde sie in ihren Grundfesten erschüttert. Als Romeo in diesem postapokalyptischen Szenario auf Julia trifft, scheint der weitere Verlauf der Handlung vorherbestimmt. Doch ein ehemaliger multikonfessioneller Militärgeistlicher, der im Ferrari durch die unwirtliche Gegend braust, kennt die Geschichte und macht sich daran, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Wer hätte sich insgeheim nicht gewünscht, die berühmteste Liebesgeschichte der Weltliteratur ginge anders aus? AM
Geister Geschichten Jeff Lemire Edition 52, 18 Euro
Der Neko-Case-Song „I Wish I Was The Moon“ bildete die Initialzündung für Jeff Lemires „Geister Geschichten“. Es handelt sich dabei um den zweiten Band der herausragenden Graphic-Novel-Trilogie „Essex County“. Der kanadische Comicautor erzählt darin auf eindrückliche Weise von Einsamkeit, Liebe und Verrat, vom Altern, vom Starrsinn und den Gespenstern der Vergangenheit, die einen zeitlebens nicht loslassen wollen. Im Zentrum des Geschehens steht der hochbetagte Suffkopp Lou, der sich wehmütig daran erinnert, wie er zu Beginn der 50-Jahre mit seinem vom Land kommenden Bruder Vince das kriselnde Eishockeyteam der Toronto Grizzlies wieder auf die Gewinnerstraße brachte. Unglücklicherweise hat Vince seine Freundin Beth im Schlepptau, die Lou von Anfang an attraktiv findet. AM
B. Traven Golo Avant, 24,95 Euro
Was die Residents in der Popmusik sind, ist B. Traven in der Literatur: ein berühmter Unbekannter. Über 30 Identitäten soll der anarchistische Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller gehabt haben, weswegen sich die biografische Forschung an seiner Vita bis heute die Zähne ausbeißt. Bekannt wurde er vor allem mit seinen Romanen „Das Totenschiff“ und „Der Schatz der Sierra Madre“, den John Huston verfilmte. Dass Traven unter dem Namen Ret Marut eine nicht unwesentliche Rolle in der Zeit der Münchner Räterepublik spielte, konnten zeitgenössische Leser und Kinogänger freilich kaum ahnen. Der französische Comic-Autor Golo widmet Traven nun eine schillernde, notgedrungen manchmal etwas textlastige Graphic Novel, die einiges Licht ins Dunkel bringt. Sie ist kunstvoll, äußerst lehrreich und spannend zugleich. AM
Fünftausend Kilometer … Manuele Fior Avant, 19,95
An diesem Werk führt für den Connaisseur der Comic-Kunst im Jahr 2011 kein Weg vorbei. Der 36-jährige italienische Comiczeichner Fior, den es über die Stationen Berlin und Oslo inzwischen nach Paris verschlagen hat, erzählt mit stimmungsvoller und nuancenreicher Aquarell-Kolorierung vom Kennen-, Lieben- und Trennenlernen eines jungen Paares in den Farben eines verblassten Sommers. Eine gemeinsame Zukunft scheint dem introvertierten Piero und der schönen Lucia nicht vergönnt. Aus der anfänglichen Nähe der beiden wird alsbald eine nahezu unüberbrückbare Distanz. Der Leser leidet mit ihnen, geht mit ihnen auf Reisen, freut sich über flüchtige Momente des Glücks und kommt aus dem Staunen kaum noch heraus ob der Souveränität der künstlerischen Ausdrucksmittel. AM
Habibi Craig Thompson Edition Moderne, 39 Euro
Ein Comicmärchen im Bibelformat. Thompson erzählt die Geschichte zweier Sklavenkinder, des schwarzen Zam und seiner älteren Beschützerin Dodola, die sich im fiktiven Wanatolien durchschlagen müssen. Sie flüchten gemeinsam in die Wüste, wo Dodola die beiden eine Weile durchbringt, indem sie vorbeiziehenden Karawanen ihren Körper verkauft. Dann wird sie jedoch von den Häschern des Sultans gefangen genommen und in dessen Harem gesteckt, ein vieljähriges Martyrium beginnt. Zam, der mitansehen musste, was Männer seiner Dodola angetan haben, tritt in der Zwischenzeit einer Eunuchensekte bei und läst sich kastrieren. Auch er wird schließlich eingefangen und an den Hof des Sultans verkauft, wo er als Haremsdiener arbeitet und endlich seiner großen Liebe wiederbegegnet. Am Ende gelingt ihnen die Flucht. Eingewebt in dieses mäandernde, in der Chronologie springende Märchen sind immer wieder den großen orientalischen Dichtungen (Koran, Bibel, „Tausendundeine Nacht“ etc.) entnommene Binnengeschichten und Meditationen, die bestimmte Handlungsmotive und Plotstationen variieren und vor allem transzendieren sollen. Thompson sucht Anschluss an die Tradition, er versucht die verschiedenen Quellen noch einmal ganz harmonisch zusammenfließen zu lassen. Er zeigt, was im modernen Comic zurzeit möglich ist. FS
Gaza Joe Sacco Edition Moderne, 34 Euro
Sacco nutzt den Comic erneut virtuos als Medium einer Kriegsreportage. Er unternimmt mehrere Reisen in den Gaza-Streifen, in die Städte Chan Yunis und Rafah, wo israelische Soldaten im Jahr 1956 zwei der Öffentlichkeit kaum bekannte Massaker an der palästinensischen Zivilbevölkerung verübten. Er trifft Augenzeugen und zeichnet ihre Erinnerungen nach. Die historische Erzählebene wird jedoch durchbrochen von den aktuellen Ereignissen in Gaza: den nächtlichen Helikopter-Strafaktionen, den allgegenwärtigen Repressalien und nicht zuletzt der existenziellen Not infolge der schlechten Versorgungslage. Man ist als Leser gezwungen, die beiden Phasen des Konflikts zu vergleichen, um zu dem traurigen Schluss zu kommen, dass sich eigentlich nichts geändert hat. Sacco ist unbestechlich, hört auch die israelische Seite, stellt den Krieg in all seiner Komplexität dar. Die Bilder schaffen Übersicht, wo die Worte eher den Blick verstellen. Saccos Methode birgt eine Gefahr. Er zeigt eine historische Realität, die es nur in seiner Vorstellung gibt. Aber auch dafür hat er eine ästhetisch schlüssige Lösung. Indem er immer wieder die historische Erzählebene unterbricht, um die gegenwärtige Interviewsituation einzublenden, nimmt er den Wahrheitsanspruch seiner Zeichnungen zurück, weist sie als das aus, was sie sind: sich einfühlende Imaginationen des Reporters. FS
Der alltägliche Kampf Manu Larcenet Reprodukt, 19 Euro
Marco ist ein junger Fotograf mit den üblichen Problemen. Mit seiner Freundin läuft es genauso wenig reibungslos wie mit seinem Job, und seine Eltern werden auch nicht jünger. Sein Vater ist an Alzheimer erkrankt, und die Werft, auf der dieser einst arbeitete, liegt in den letzten Zügen. An ein eigenes Kind mag Marco angesichts der Grausamkeit der heutigen Welt zunächst gar nicht denken. Doch das Leben hat ja, wie man weiß, immer wieder Überraschungen parat und so kommt es für Marco natürlich anders als geplant. Der 42-jährige Manu Larcenet hat mit seiner ersten Comic-Reihe („Der alltägliche Kampf“ erschien zunächst in vier Einzelbänden) ein kleines Wunder vollbracht. In seiner Erzählung aus dem Alltag geht es stets ums Ganze – um Liebe und Trauer, um den gesellschaftlichen Wandel, ums Erwachsenwerden, ums Verantwortungübernehmen, die Sinnsuche und das individuelle Glück. Dass der französische Zeichner dabei nie pathetisch wird und auf die Tränendrüse drückt oder gar bedeutungsschwanger daherkommt, macht dieses schwerelose Werk so einzigartig. Aus vielen kleinen Geschichten mit mal wehmütigem, mal trotzigem oder humorvollem Tonfall wird ganz große Comic-Kunst. AM
Existenzen Yoshihiro Tatsumi Carlsen, 19,90
Dieser Band versammelt 13 Kurzgeschichten vom Altmeister, der bereits in den späten 50er-Jahren den japanischen Comic aus den Fesseln von Kolportage und Komik befreite und ihn öffnete für die sozialen Realitäten. In diesen am Rand der Reportage operierenden Erzählungen wird nicht gelächelt, seine Protagonisten – Arbeitslose, Penner, kleine und große Verbrecher und nicht zuletzt die psychisch Versehrten – leiden an den Verhältnissen, einer zu schnell gewachsenen Industrienation. Nichts Menschliches ist dem Autor fremd. Hier wird unglücklich geliebt, wenn überhaupt, noch öfter und durchaus explizit gevögelt, gemeuchelt. Wie im Film noir und den Pulp-Storys, die zu den frühen Einflüssen Tatsumis gehören, versteckt sich die Moral hinter einer kaltschnäuzigen Attitüde, die den Humanisten aber nie verbergen kann. Ein paar Mal gleiten die Geschichten ins Surreale ab – der letzte Ausweg der geknechteten Kreatur. So marode und unfertig wie seine Antihelden ist auch Tatsumis Strich. Während er beim Set durchaus ins Detail geht, bleiben die Gesichter der Figuren unausgeführt. Das ist sicherlich auch ökonomischen Rücksichten geschuldet, Tatsumi hatte schlicht keine Zeit für Opulenz (seine Sammelbände liefen eher mäßig), erscheint aber konsequent. Es sind nicht die Menschen an sich, sondern die sozialen Umstände, die den Unterschied machen. FS
Asterios Polyp David Mazzucchelli Eichborn, 29,95
David Mazzucchelli startete Anfang der Achtziger bei Marvel und feierte erste Erfolge an der Seite von Texter Denny O’Neil, dann wurde er Leib-und-Magen-Zeichner von Frank Miller. Ende des Jahrzehnts zog er sich zurück von den kommerziellen Superheldencomics und begann im Selbstverlag mit der Form zu experimentieren. Seine Paul-Auster-Adaption „City Of Glass“ von 1994 etablierte ihn schließlich im anspruchsvollen Comic-Sektor. Dann dauerte es noch einmal 15 Jahre bis zu seiner Graphic Novel „Asterios Polyp“. Bereits 2009 in den USA erschienen, liegt sie nun in der akribischen Übersetzung von Thomas Pletzinger vor. Mazzucchelli erzählt in Text (den er erstmals selbst schrieb) und Bild die Geschichte des Architekturprofessors Asterios Polyp, der nur auf den ersten Blick ein glückliches und erfülltes Leben führt. Nachdem seine Frau ihn verlässt, und sein New Yorker Apartment niederbrennt, flüchtet er mit dem Greyhound-Bus so weit sein Geld ihn bringt, um in einem Kaff im Nirgendwo als Automechaniker zu arbeiten. Es ist ein großes Vergnügen, all die kulturellen Codes und Anspielungen zu entziffern, während man diesem traurigen arroganten Mann auf seiner Suche nach Liebe, dem Sinn des Lebens und den perfekten Proportionen folgt. Ein vielschichtiges, geistreich umgesetztes Meisterwerk in der Tradition von John Updike und Philip Roth. MB
Lebensbilder Will Eisner Carlsen, 36 Euro
Der dritte Band der sehr schönen, kompetenten Werkausgabe des Eisner’schen Spätwerks enthält die mehr oder minder autobiografischen Geschichten dieses großen Künstlers und erfolgreichen Geschäftsmannes. Er habe das Comic-Heft nicht erfunden, sei aber bei seiner Geburt dabei gewesen, lautet eines seiner Bonmots. Und in „Der Träumer“ erinnert der Mann, der schon in den Vierzigern den Siegeszug der Graphic Novel prognostizierte, sich noch einmal an die Anfänge, die im nostalgisch temperierten Rückblick fast selbst die Aura einer Heldensaga bekommen. Der schlecht bezahlte Illustrator macht sich notgedrungen selbstständig, baut ein eigenes Studio auf, das es ihm ermöglicht, durch konsequente Arbeitsteilung die steigende Nachfrage der Branche stets pünktlich und auf hohem Niveau zu erfüllen. Die Comic-Fließbandproduktion der moderne Studios nimmt hier ihren Anfang. Im Zentrum dieses Bandes stehen jedoch zwei längere Graphic Novels, in denen er historisch ausgreifend die eigene Familiengeschichte („Zum Herzen des Sturms“) und die seiner Frau rekapituliert („So läuft das Spiel“). Ein vielfältiges Panorama jüdischer Lebenswelten Anfang des 20. Jahrhunderts ist hier entstanden und zugleich eine kleine Geschichte des Antisemitismus jener Jahre. FS