Die besten neuen Serien 2015 – Kategorie: Politik & Drama
In den vergangenen fünf Jahren ist die Serienproduktion explodiert, auch dank der neuen Streamingdienste. Längst sind die größten Regisseure und Schauspieler im TV zu sehen, und die Zuschauer haben die Qual der Wahl. ROLLING STONE hilft – und stellt die besten aktuellen Serien vor.
WEISSENSEE
Annette Hess hat ein Problem: zu viel Vorstellungskraft. „Manchmal verstecke ich mich hinter meinem Schreibtisch, wenn der Postbote klingelt“, sagt sie. Denn würde sie die Tür öffnen, könnte wieder ihre Fantasie mit ihr durchgehen, könnte das Leben des Postboten vor ihrem inneren Auge ablaufen, so wie sie es sich vorstellt. Was sie nur vom Arbeiten abhalten würde. Dabei ist das Erfinden von Biografien und Figuren ihr Job. Aber dafür braucht sie Ruhe. Deshalb wohnt sie in der niedersächsischen Provinz, wo bis auf Familie und Postbote kaum jemand sie ablenkt.
Hess, 1967 in Hannover geboren, studierte zunächst Malerei und Innenarchitektur, dann ab 1994 an der Universität der Künste in Berlin Szenisches Schreiben. Sie sammelte mit der Arztserie „In aller Freundschaft“ erste Drehbucherfahrungen – „Ich war jung und brauchte das Geld.“ – und lieferte 2004 die Vorlage für den Kinofilm „Was nützt die Liebe in Gedanken“ mit Daniel Brühl. Der TV-Zweiteiler „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ verschaffte Hess nicht nur Anerkennung als Drehbuchautorin, sondern zeigte auch ihre Leidenschaft für DDR-Themen, die sie mit der Idee für die Dramaserie „Weissensee“, die 2010 startete und jüngst in der dritten Staffel ihren Höhepunkt fand, weiter vertiefte. „Ich war schon immer fernsehverrückt“, erklärt sie.
Als Zehnjährige bekniete sie ihre Eltern um einen eigenen Fernseher für ihr Kinderzimmer. Als sie ihn schließlich bekam, schaute sie vor allem DDR-Fernsehen. Als sie von ihrer Mutter erfuhr, dass eine Mauer die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik trennte, befeuerte das trotz der Ungeheuerlichkeit ihre Neugier. Noch heute sieht sie sich gern alte Folgen von „Polizeiruf 110“ und „Der Staatsanwalt hat das Wort“ an und schwärmt von den schlichten Erzählstoffen im DDR-Fernsehen, von verregneten Novemberbildern und Trabbis, die über Kopfsteinpflaster knattern. „Ich finde das poetisch“, sagt Hess. „Mich interessieren vor allem innere Konflikte: Ein Mann kommt aus dem Knast und will ein neues Leben anfangen. Und am nächsten Tag klingelt ein Freund und fragt, ob er mit ihm ein Bier trinken kommt. Dieses Klingeln finde ich spannender als Storys über Drogenkartelle.“
Es ist genau dieser Drang, den leisen Tönen nachzuspüren, ein Stück Alltag zu erzählen, der „Weissensee“ über das Gros der deutschen TV-Produktionen hebt. Wo andernorts vergeblich nach Coolness gefahndet wird und man sich in Sendergremien die Köpfe darüber zerbricht, wie man Menschen vor die Bildschirme kriegt, die „Breaking Bad“ schauen, findet „Weissensee“ mit erstaunlich wenigen Klischees ein großes Publikum. Da braucht es die ewigen US-Vergleiche gar nicht. Weil hier deutsch-deutsche Historie als individuelles Schicksal ohne billige Überhöhungen gezeigt wird. Weil das Zerbrechen von Liebe in einer Diktatur mitreißend inszeniert ist. Weil man viel erfährt über eine Vergangenheit, die fortwirkt, auch wenn man nach 1989 das Licht der Welt erblickt hat. Weil man Zeuge wird, wie ein Staat, der seine Bürger unter permanente Überwachung stellt und ihnen mit Repressalien droht, systematisch jede Form von privatem Glück zerstört, manchmal in Gestalt des eigenen Bruders, manchmal in Gestalt des besten Freundes. Und weil die Besetzung mit Florian Lukas, Hannah Herzsprung, Katrin Sass, Uwe Kockisch, Jörg Hartmann, Anna Loos und Lisa Wagner das alles wunderbar umsetzt.
Am Beispiel der Familie Kupfer hat Hess ein Gesellschaftsporträt der DDR entfaltet, zu dem die brutalen Machenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit ebenso gehören wie die Künstler- und Widerstandsszene. Bei den Recherchen arbeitete sie eng mit der Gauck-Behörde zusammen, die ihr umfassende Akteneinsicht gewährte, natürlich mit geschwärzten Namen. Sie las Stasi-Lehrliteratur („Wie zersetze ich einen Häftling?“) und versuchte sogar, in Internetforen Kontakt zu ehemaligen Stasimitarbeitern aufzunehmen, was die zu erwartenden Anfeindungen nach sich zog.
Entscheidender als die Faktentreue ist jedoch die Glaubwürdigkeit der Figuren. Im Verlauf der drei Staffeln von „Weissensee“ habe sie sich immer wieder selbst überraschen wollen, sagt Hess. Kaputte Typen wie Gerd Wiesler (Ulrich Mühe) in „Das Leben der Anderen“ seien ihr zu langweilig. „Viel interessanter ist doch jemand, der Leute verhört und quält und abends zu seiner Familie nach Hause geht.“ Gegen gängige Schwarz-Weiß-Gut-Böse-Muster wappnet Hess sich mit der von ihr so genannten Maisfeldmethode: ein Verweis auf die berühmte „Maisfeldszene“ in Alfred Hitchcocks „Der unsichtbare Dritte“, in der Cary Grant am helllichten Tag von einem Flugzeug gejagt wird. Hitchcock brach so mit der Tradition, für eine bedrohliche Szene ein besonders düsteres Ambiente zu erschaffen. Was man daraus lernen kann, bringt Hess auf den Punkt: „Immer die erste Idee, die man hat, ansehen und die dann nicht nehmen.“ Ein paar mehr Maisfeldmethoden würden der deutschen Filmlandschaft sicher nicht schaden. Von Max Gösche.
Das Erste, seit 2010, 3 Staffeln, auch auf DVD