Die besten Konzeptalben aller Zeiten: Nine Inch Nails – „The Downward Spiral“
Das Leben, ein Horrorfilm: Nine Inch Nails vertonten auf „The Downward Spiral“ menschliche Abgründe und Albträume aus der Schule, der Gosse, der Krankenstation, den Südstaaten.

Bei Konzerten hatte ich in den vergangenen 30 Jahren nur selten Angst. Liegt vielleicht daran, dass mir Death Metal und Hardcore-Punk eher fremd sind. Meistens stören nur ein paar Besoffene, oder das Gedrängel nervt, aber richtige Angst? Die kroch nur einmal in mich hinein, ziemlich unerwartet, im Juni 1994. Da spielten Nine Inch Nails im Hamburger Docks, ihr Album „The Downward Spiral“ war drei Monate zuvor erschienen, und klar, fröhliches Mitschunkeln erwartete keiner. Aber auch nicht diese Wucht. Trent Reznor, erstaunlich klein und damals noch sehr dünn, machte an sich keinen furchterregenden Eindruck, doch gerade weil er oft ganz sanft sang, fast flüsterte, wirkte der infernalische Industrial Metal umso stärker. Alles war reine Verzweiflung, Qual, Wut. Am Ende traute ich mich kaum, das Gebäude zu verlassen. Die Welt da draußen kam mir so böse vor, wie ein einziger Höllenschlund. (War dann allerdings doch nur die Reeperbahn.)
Zweite Chancen gibt es nicht
Natürlich hatte Reznor viel Pink Floyd, Bowie, Joy Division und Bauhaus gehört, bei der Produktion halfen Flood und Alan Moulder, aber das hier war noch mal etwas Neues, in dieser kompromisslosen Negativität. Krach, Elektronik, verzerrte Sounds fliegen einem um die Ohren, Reznor flüstert und schreit, und manchmal taucht plötzlich eine traumhafte Melodie auf, die das folgende Gemetzel umso fürchterlicher erscheinen lässt. „Closer“, das anfängt wie der beste Depeche-Mode-Song, den sich Depeche Mode nie getraut haben, enthält die berüchtigten Zeilen „I want to fuck you like an animal“, doch später, in „I Do Not Want This“, entscheidet sich Reznor für einen größeren Ansatz: „I want to know everything/ I want to be everywhere/ I want to fuck everyone in the world/ I want to do something that matters.“ Hoffnungsschimmer? Wird mit dem Vergewaltigungsdrama „Big Man With A Gun“ sofort wieder zerstört. Immerhin endet „Hurt“ mit der Vorstellung, dass das Leben besser sein könnte – aber eine zweite Chance gibt es nicht.
Seine Zielvorgabe für „The Downward Spiral“ formulierte Reznor so: „Kann ich zehn Schritte über den blutigsten Horrorfilm hinausgehen – so, dass es verstörend ist, nicht cheesy?“ Die Antwort gab er gleich selbst: „Ich weiß, dass ich das kann.“
Zum 50. Jubiläum von Simon & Garfunkels „Bookends“ hat die ROLLING-STONE-Redaktion 50 (+1 mit „Bookends“) Konzeptalben zusammengestellt, die man unbedingt hören muss. Für Redakteurin Birgit Fuß ist „The Downward Spiral“ von Nine Inch Nails eines davon. Weitere 49 finden Sie in der April-Ausgabe des ROLLING STONE!