Die berühmte Unbekannte
Radikale Rollen brachten ihr den Ruf der Extrem-Künstlerin ein – sie ist die beste Schauspielerin ihrer Generation.
Am Ende des Gesprächs rafft sie einige Tüten und Beutel zusammen und fragt: „Sie haben nicht zufällig so einen Van, in dem Sie hinten ein Fahrrad mitnehmen können?“ Lavinia Wilson war mittags mit dem Fahrrad zu dem Hotel gefahren, in dem die Fotos inszeniert wurden. Sie hatte geduldig alle Posen eingenommen und beim Smalltalk mit dem Fotografen und Herumstehenden beiläufig Sätze eingeworfen wie „Die Existenzialisten waren ja todesaffin“. Aus dem Lichthof hörte man den beruhigenden Singsang von Mantras – offenbar waren Mönche in dem gemütlich-altertümlichen Hotel abgestiegen.
Dann, als die Aufnahmen gemacht waren, hatte Lavinia Wilson einen kleinen Hunger. An der Rezeption fragte der Concierge dröhnend: „Gehörnse zu den Foto-Aufnahmen? Da drüben issen neuet Lokal, könnense mal sajen, wie’s is.“ Lavinia ließ sich nicht anmerken, ob diese Wurschtigkeit sie ärgert. Sie ist kein Filmstar, obwohl sie seit zehn Jahren regelmäßig große Rollen in Fernseh- und Kinofilmen spielt. Als sie ihr Rad über die Straße schob, antwortete sie auf das Kompliment, bei den Fotos habe sie so bewundernswert klaglos und routiniert mitgespielt: Was einem denn übrig bleibe, wenn man als Objekt behandelt werde? Sie sagte das ohne Vorwurf, ohne Zynismus. Dabei schob sie ihr Fahrrad und wirkte wie ein patentes, selbstbewusstes Mädchen. Sie ist 31 Jahre alt.
Zum ersten Mal fiel Lavinia Wilson im Jahr 2004 spektakulär auf. Da spielte sie in dem Fernsehfilm „Allein“ eine Bibliothekarin (ein Klischee!), eine Borderline-Persönlichkeit, wie man heute sagt, die ihre Aggressionen mit Drogen, Sex und erratischem Verhalten abreagiert und Liebe nicht ertragen kann. Zu Richy Müller, ihrem Liebhaber, sagt sie: „Wir ficken nur.“ Lavinia Wilson ist auf eine Weise nackt, die nicht an Koketterie denken lässt. Wichtig sei, dass man sich in seinem Körper wohl fühle. „Was entscheidend ist: dass man sich bei seinem Partner aufgehoben fühlt. Viel mehr Scham oder Peinlichkeit empfinde ich, wenn ich merke, dass ich schlecht spiele. Für meinen Körper kann ich nichts – der ist so, wie er eben ist. Ich finde ihn ganz okay. Man muss das alles mit ein bisschen Humor sehen.“ Richy Müller, schon damals ein Routinier, streckt sich in dem Film breitbeinig auf dem Bett aus. „Mit Richy Müller war es sehr unkompliziert. Er ist sehr schlau. Und er hat mir bei dem Film die Plattform gegeben. Ich hatte damals noch nicht so viel gemacht, und er war wer, spielte aber in dem Film einfach den, Arsch‘. Das zeugt von Größe. Und er hat es auch mit Humor genommen.“
Anders als als ähnlich begabte Elevinnen wie Stefanie Stappenbeck oder Julia Jentsch mied Lavinia Wilson das Theater und spielte sehr früh extreme Rollen in Filmen. Mit 20 gab sie sich freizügig in „Julietta“, einem heute historisch wirkenden Film über das Berlin der Jahrtausendwende und die Love Parade. „Ich versuche, pragmatisch mit der Nacktheit umzugehen. Natürlich ist es so, dass ich es gut finde, wenn ich mich nicht ausziehen muss. Ich bin nicht exhibitionistisch veranlagt. Aber es wird halt oft verlangt, und wenn es eine tolle Rolle ist, dann sage ich nicht ab, weil ich darin nackig sein muss. Wobei ich die Regel habe: Kino ja, Fernsehen nein – die Leute sollen wenigstens dafür zahlen.“ Ihr Partner in „Julietta“ war Barnaby Metschurat, mit dem sie heute zusammenlebt. Das Baustellen-Berlin, das der Film eingefangen hat, gibt es jetzt nicht mehr. An die unverkünstelte Liebeskomödie erinnert Lavinia sich gern: „Der Style geht natürlich gar nicht, diese rote Hose – aber trotz der MTV-Ästhetik, der Poppigkeit hat der Film ziemlich genau die Zeit getroffen.“
Lavinia Wilson stand schon als Kind vor der Kamera. Die Mutter, eine Politologin, arbeitete in München als Aufnahmeleiterin beim Film. Sie lernte eine Casting-Agentin kennen, die Komparsen suchte: „Dann wurde ein Foto von mir gemacht, und die Regisseurin Sherry Hormann sah das. So habe ich jedesmal in den großen Ferien in Filmen gespielt. Ich fand es toll, jemand anders zu sein und im Mittelpunkt zu stehen.“
Sie besuchte bis zur fünften Klasse ein englisches Gymnasium, wechselte dann zu einer deutschen Schule: Dass sie Abitur machen würde, sei immer klar gewesen. Ihre Leistungen waren medioker, erst in der Oberstufe wurde ihr Ehrgeiz geweckt. Ein „Mädchen-Mädchen“ sei sie gewesen: „Ein Pferde-Mädchen. Wir hatten im Allgäu einen Bauernhof für die Ferien.“
Ihr Vater ist ein Anthropologe aus Florida, der beim amerikanischen Militär unterrichtete, bis die Truppen Deutschland verließen. 15 Jahre war er nicht in der Heimat. Kürzlich fand Lavinia per Facebook einen Onkel und eine Tante wieder – und einen Cousin, der sich gerade bei der Armee verpflichtet hatte. „Er ist Anfang 20 und wohnt in Louisiana – offenbar will er so Geld verdienen. Eben schrieb er, dass er bald in den Irak oder nach Afghanistan versetzt würde. Es ist ein komisches Gefühl, dass die Welt aus den Nachrichten nun in meinen Bereich eingebrochen ist.“
Lavinia spielte 1999 – noch als Schülerin – in „Zimmer mit Frühstück“ von Michael Verhoeven neben Senta Berger und in den „Vier Meerjungfrauen“, von denen ein zweiter Teil gedreht wurde. Nach dem Abitur verließ sie München, um sich den Traum von der Freiheit zu erfüllen: „Zwei, drei Jahre sind wir mit einem Bus in Spanien herumgefahren; zum Drehen bin ich immer nach Deutschland gereist. Und ich war ein halbes Jahr in New York und habe dort eine Schauspielschule besucht – na ja, es war eine Ausrede, um einen Grund für den Aufenthalt zu haben. Für mein Spielen hat mir das nicht wirklich geholfen. Eine Woche vor dem 11. September 2001 bin ich zurückgekommen.“
Nur einmal, 2005, spielte sie in einer großen Produktion: der Science-Fiction-Plotte „Aeon Flux“ mit Charlize Theron. Ein paar Tage stand sie am Set herum und wurde kaum beachtet – seitdem hat sie keine forcierten Ambitionen mehr, in internationalen Filmen mitzuwirken. Natürlich schaut sie Serien auf DVD, gerade „The Wire“. „Es gibt in der amerikanischen Film- und Fernsehbranche die großartigsten Sachen, die man sich für Deutschland wünschen würde, aber auch den unterirdischsten Schrott. Dennoch, ich liebe Amerika.“
Lavinia Wilson ist auf neurotische, undurchschaubare Frauen abonniert, aber sie ist nicht traurig deshalb: Beinahe ist es ein Alleinstellungsmerkmal. „Wenn man schon eine Schublade haben muss, dann ist, geheimnisvoll mit Anspruch‘ noch die beste Schublade“, sagt sie ohne Bedauern.
Schon für „Allein“ erhielt sie den Max-Ophüls-Preis als beste Nachwuchsdarstellerin. 2010 bekam sie für ihre Darstellung einer Sekretärin in „Frau Böhm sagt Nein“ den Grimme-Preis, wie sie bei Gelegenheit freudig und trotzdem uneitel anmerkt. Dieser leise Fernsehfilm der ARD, in dem Wilson wieder mit Senta Berger agiert, weist sie endgültig als eine der großen Schauspielerinnen ihrer Generation aus, denn es ist nichts Grelles, nichts Schaustellerisches, nichts Geheimnisvolles an ihrer Rolle. Lavinia Wilson ist kaum zu erkennen, sie trägt die Haare kurz und ist in Grau gekleidet. „Es gibt bei einer Rolle immer einen Teil, den man selbst mitbringt – wenn ich eine Figur spielen muss, die neurotisch ist, dann muss ich in ihr etwas finden, das zeigt, weshalb sie so ist. Spannend sind Figuren, bei denen es nicht ganz zusammenpasst.“ Die Sekretärin mit Kind passt nicht zu ihr, aber umso erstaunlicher ist ihre Anverwandlung, und das weiß sie auch selbst: „Zweimal schon habe ich Mütter gespielt. Das hat auch gut funktioniert. Wenn Mutter das Warme ist, an das man sich herankuscheln will, am dicken Busen ablegen – dann passt das sicher nicht.“
Die Rätselhafte, die Abgründige, die Femme fatale ohne Absicht – sie kann das anstrengungslos spielen, und Berichterstatter erzählen von ihrem taxierenden Blick, ihrer Aufmerksamkeit, ihrer Intelligenz. Kürzlich war sie in „Lisas Fluch“ als eine Frau mit telepathischen Fähigkeiten zu sehen, das hat sie sehr gern gespielt. Noch immer studiert Lavinia Philosophie an der Fern-Uni Hagen, weil sie an sich selbst hohe Ansprüche stellt. In der Schule hatte sie Altgriechisch und lange auch Latein. Spricht man von Kant, ergänzt sie gleich, dass von Hegel wohl das letzte umfassende System stamme, ohne dass die Plauderei dadurch gestört würde. Lavinia Wilson eignet auch etwas sehr Seltenes: Sie stellt dem Gegenüber spontan Fragen, weil sie neugierig ist. So erkundigt sie sich nach der für sie rätselhaften Leidenschaft der Deutschen für Krimi-Reihen wie „Tatort“ (in der sie immerhin zweimal auftrat) – der Gedanke an ein Ritual oder die versammelte Kleinfamilie vor dem Bildschirm gehört spürbar nicht zu ihren Vorstellungen vom Leben.
Nun muss sie mit dem Fahrrad aufbrechen. Einen Kleinbus hat der Reporter leider nicht.
Aber sie wird es zweifellos nach Hause schaffen.