Die Anti-Gaga
Die Skandinavierin Susanne Sundfør hat für „The Brothel“ einen Preis verdient. Sie will ihn allerdings gar nicht haben.
In den zerklüfteten Gefilden Norwegens ist sie zu Hause, an der Grenzlinie zwischen Meer und Gebirge. Eine Umgebung, die auf so wundersame Weise homogen wirkt wie Susanne Aartun Sundførs neues Album. „The Brothel“ ist das neue klangliche Wunderwerk aus Skandinavien: ein Wetterleuchten, das Feen und Fabelwesen genauso für einen Moment aus der Dunkelheit ins Licht rückt wie die musikalische Grandezza von Kate Bush und Joni Mitchell.
Sundførs Erinnerungen an ihre Kindheit im Küstenstädtchen Haugesund zeugen von der richtigen musikalischen Erziehung. Zuerst waren es Cat Stevens und die Beatles, die ihre Aufmerksamkeit weckten. „Wenn wir in die Berge fuhren, nahm mein Vater ein Mixtape auf, das wir im Auto hörten. Die meisten Lieder waren von ‚Tea For The Tillerman‘ und dem ‚White Album'“, so Sundfør. „Als ich anfing, Musik zu machen, habe ich oft englische Popsongs nachgeahmt. Das Genre, in dem ich Lieder schreibe, ist dieser Sprache einfach verpflichtet. Ich kann mich darin am besten ausdrücken. Norwegisch hat dagegen etwas Stakkatoartiges, das nicht unbedingt gefühlvoll klingt“, erklärt Sundfør. Die nationalen Debatten um eine Leitkultur haben sie dabei nicht interessiert. „Ich halte sie für ziemlich überholt, wenn man bedenkt, in was für einer globalisierten Welt wir leben.“
Sundfør wusste früh, was sie wollte, schrieb sich an der Uni in Bergen für Englisch und Kunst ein, lernte Klavier spielen, entdeckte Keith Jarrett und Radiohead und widmete sich schließlich ganz der Musik. Dass sie auch einer heimischen Klangtradition verpflichtet ist, hört man auf „The Brothel“ immer da, wo Streicher und Elektronik in den Hintergrund rücken. Fächert Sundfør ihre stimmliche Bandbreite auf, klingt es, als sänge sie einen protestantischen Choral. „Ich mag Hymnen und christliche Gesänge, ihre Harmonien sind wunderschön und geheimnisvoll. Es gibt einen norwegischen Gesang, genannt Kauking, der mich sehr fasziniert. Man dürfte hören, dass ich diese Technik geübt habe.“
Für die Aufnahmen konnte sie Lars Horntveth von Jaga Jazzist als Produzenten gewinnen. „Gemeinsam haben wir aus meinem anfänglichen Gekritzel ein komplettes Bild gemacht.“ Wie viele ihrer Kollegen trägt Sundfør Schicht um Schicht auf und mischt klassisches Songwriting mit den technischen Modernismen der Zeit. „Auch in Norwegen arbeiten immer mehr Songwriter mit elektronischen Mitteln. Ich finde das ziemlich cool, weil sich das Genre so in eine neue Ära transformieren lässt. Seit den 70er-Jahren hat sich auf dem Gebiet ja nicht gerade viel getan.“
Ein gutes Beispiel dieser Veränderung, so Sundfør, sei Lady Gaga, die Musik, Fashion und Kunst zu einem Gesamtprodukt verbinde. Angst vor Provokation hat auch die heute 25-jährige Norwegerin nicht: In ihrer Heimat löste sie 2008 einen Kulturstreit aus, als sie bei der Verleihung des Spellemannpris die explizit weiblichen Preiskategorien kritisierte: „Zuallererst bin ich doch Künstler und erst an zweiter Stelle eine Frau.“ Die wiederholte Nominierung zur besten Künstlerin für „The Brothel“ nahm sie erst gar nicht an. Eine grelle Feministin wie Lady Gaga will Susanne Sundfør trotzdem nicht sein, das muss sie auch nicht. Eher schon ist sie die skandinavische Joni Mitchell. Max Gösche