Die alten Helden
Gegen die allgemeine Vergesslichkeit in der Popmusik und das Primat der Jugend setzen Merle Haggard, Bob Dylan, Paul McCartney und Mick Jagger das musikalische Gedächtnis
In diesem Jahr wurde Chuck Berry, beinahe unbemerkt, 75 Jahre alt. Der Mann, der dem Rock’n’Roll mindestens auf die Beine half, wenn er ihn nicht zur Welt brachte, feierte wahrscheinlich im kleinen Kreis. Doch der kregle Greis steht noch immer auf der Bühne, eine wandelnde „Rock’n’Roll Hall Of Fame“. Nicht auszuschließen, dass Berrys Freundinnen noch immer weiß und ein paar Jahrzehnte jünger sind als der Schwerenöter. Die Kapitänsmütze steht ihm gut.
Während man als Kind lernt, das Alter zu ehren, herrscht in der Popmusik scheinbar naturgemäß der Geist der Jugend. Wie heuchlerisch das Getue ist, wurde nach dem Tod von George Harrison sinnfällig: Plötzlich erinnerten sich auch jüngere Semester wehmütig der Fab Four und der Sechziger, die sie gar nicht erlebt hatten. Einer der in solchen Todesfällen omnipräsenten Opas von der Hamburger Reeperbahn („Star Club“ und so) dagegen hatte den Mut, der Wahrheit in die Fratze zu sehen: „Die Einschläge kommen näher.“
Marketingfuzzis und Medienjungspunde, selbst nicht mehr jugendlich, adorieren den kaufkräftigen, hippen, coolen Konsumenten, der eben noch Drum’n’Bass, jetzt schon 2step hört und gleich die Nu Divas. Der souverän auf Trends surft, das Fähnchen im Winde und immer auf der Höhe der Zeit. Doch der junge Mensch ist schwer auszuforschen. Er investiert wenig Geld in Musik, brennt sich seinen Kram selbst und hört nur das Zeug, das in seinen Zirkeln alle hören. Der junge Mensch ist wendewütig und halsstarrig zugleich. Seiner Ahnungslosigkeit läuft die Industrie nach.
Der Erwachsene dagegen gibt zwar ebenfalls kaum Geld für Musik aus, aber er brennt sich auch nicht gern seinen Kram. Er kann sich noch daran erinnern, dass es früher Vinyl-Schallplatten gab, denen Textblätter beilagen; manche LPs waren aufklappbar, über die Jahre hat er die Leidenschaft seiner Jugend verloren, eine Familie gegründet, ein Haus gekauft, die Platten in den Keller gestellt. Gibt es ein neues Album von Dylan, Jagger oder Sting, erwacht kurzzeitig sein Interesse. Aufgeregter jedoch ist er, wenn alte Platten von Dylan, Jagger oder Sting in neuer überspielung und Ausstattung erscheinen. Es gibt Musikiournalisten, die auf dieser Sentimentalität ihr Haus gebaut haben. Eine Karriere aus Erinnerungen.
Aber natürlich ist alle Popmusik zunächst und zuletzt Erinnerung. Das „Jetzt!“, das sie uns zuruft im Moment ihrer Entstehung, wird nach kürzester Zeit zu „Weißt du noch?“. Die Liebe zur Popmusik ist die Liebe zum Gewesenen, zum Egoismus außerdem. Nur Männer häufen Platten sonder Zahl in ihren Wohnungen, kennen die Diskografie auswendig, sortieren und chronologisieren nach allen Regeln der Kunst. Sagt die Frau „Sie spielen unser Lied“, weiß der Mann: „Das ist der letzte Song von,Blonde On Blonde'“.
Ein Freund von mir, der wirklich sehr viele Schallplatten besitzt (ich meine: SEHR viele), beleidigte vor einigen Jahren immer wieder den leider toten Kurt Cobain. Ihm gefiel die Idiolatrie nicht,obwohl er seit Jahrzehnten die Rolling Stones an Gottes Stelle anbetet. Als ich wütend wurde und seine Helden attackierte, befand er weise, Diskrimierung qua Alter sei hässlich. Darin hatte er natürlich Recht, und in diesem Jahr feierten wir zehn Jahre „Nevermind‘ Das Geschwätz von der „Zeitlosigkeit“ gilt indes nicht einmal bei vermeintlich überzeitlichen Phänomenen wie den Beatles: Nicht erst Lennons Tod verortete ihre Historie für immer in den Sechzigern, Fortsetzung ausgeschlossen. Niemand wird den Unterschied zwischen „I Want To Hold Your Hand“ und „Revolution No. 9“ für marginal halten. Und „Free As A Bird“ war vor allem deshalb so armselig, weil es nicht nur keine Magie, sondern weil es keine Chemie hatte. Der Vogel schaler Nostalgie flatterte am Ende der Video-Anthologie der Beatles aus dem Fenster, und während Lennons billiges Klavier und die schlichte Melodie ergreifend echt waren, täuschte der Rest das Vergangene vor.
Wenn wir in diesem Jahr nicht zu taub waren, so hörten wir Bob Dylans „Love And Theft“ als grandioses Manifest einer Musik, die es nicht mehr gibt, Merle Haggards „Roots Volume als Hommage an Songschreiber, die nicht mehr leben, und Mick Jaggers “ Goddess In The Doorway „als das laute Klappern eines Mannes, der die Dämmerung fürchtet. Wir hörten “ 10 New Songs“von Leonard Cohen als Versuch einer späten Inspiration, die dem großen Spiritualisten missglückt ist. Wir hörten Paul McCartneys „Drivng Rain“ als geglücktes Dokument einer Revitalisierung gegen alle Unbilden. Wir sahen Neil Young und Bruce Springsteen, zuletzt beim „Tribute To Heroes“, und gerührt waren wir nicht der Feierlichkeit des Anlasses wegen, sondern weil diese Männer so viel Würde haben und Gedächtnis.
übrigens: Der fabelhafte alte Zyniker GRAHAM PARKER hat mal wieder eine vorzügliche Platte gemacht. Nur dass Sie es wissen.