Post ID: 578101
ASMB No Ads Value:
Home › Allgemein
Die 40 besten Songs von R.E.M.
Fabeln, Hymnen, Zauberlieder. ROLLING STONE hat gewählt: die 40 größten R.E.M.-Songs. Von Birgit Fuß, Max Gösche, Torsten Groß, Joachim Hentschel, Rüdiger Knopf und Arne Willander.
Die 40 besten Songs von R.E.M.
Foto:
Anton Corbijn.
All rights reserved.
40. I’ll Take The Rain („Reveal“, 2001). Dieser kontemplative Herbst- und Wintersong sollte das Sommeralbum „Reveal“ beschließen, am Ende bekam „Beachball“ den Vorzug. Dabei hätte „I’ll Take The Rain“ den Hörer mit einer wunderbar ermutigenden Umarmung in die Kälte verabschiedet.
Die akustische Gitarre taucht in sanftes Keyboard-Flirren ein, der Bass pocht, und über allem verspricht der Sänger, es zu nehmen, wie es kommt, wenn es denn anders nicht geht.
39. Perfect Circle („Murmur“, 1983). Der Zauber des Anfangs liegt hier darin, dass Bill Berry und Mike Mills gleichzeitig zwei unterschiedliche Klaviere spielen. Die Melodie hatte Berry auf dem Keyboard entworfen, das Thema stammt allerdings von Peter Buck, der sich von Stipe einen Text über Jugendfreunde wünschte.
Mit wenigen Worten evoziert der Sänger ein Gefühl von Geborgenheit – das jedoch schon in der ersten Zeile aufgekündigt wird: „Put your hair back, we get to leave …“ Was bleibt, ist Sehnsucht.
Copyright: Richard E. Aaron/Redferns
38. Disturbance At The Heron House („Document“, 1987). Damals nannte Stipe „Disturbance“ den „politischsten Song, den ich je geschrieben habe“. Tatsächlich klangen R.E.M. selten so resigniert wie bei dieser Orwell-artigen Fabel. Die Revolution der Tiere beginnt verheißungsvoll – und dann geht doch wieder alles schief: „When feeding time has come and gone/ They’ll lose their heart and head for home/ Try to tell us something we don’t know.“
Wenn Stipe und Mills am Ende gemeinsam „everyone allowed“ singen, wirkt das wie blanker Hohn – ein Sarkasmus, den sich R.E.M. nicht oft erlaubten. Die Melodie klingt außerdem ein bisschen wie „Gardening At Night“ in langsam, aber das macht ja nichts.
Copyright: Richard E. Aaron/Redferns
37. Wolves, Lower („Chronic Town EP“, 1982). Wie sehr wünscht man sich, dabei gewesen zu sein. Die „Chronic Town“-EP schon im August 1982 aus dem Stapel gezogen zu haben und vom Sound von „Wolves, Lower“ bezirzt und verstört worden zu sein. Wölfe stehen vor der Tür, Jangle-Punk, die Band klingt ungeduldig. Der Song musste zweimal produziert werden. Beim ersten Mal wurde er zu schnell.
36. World Leader Pretend („Green“, 1988). Das erste – und weitere zehn Jahre lang einzige – Lied, zu dem R.E.M. den Text im Booklet abdrucken ließen. Es geht hier nicht um Machtfantasien, sondern um den Wunsch, wieder mit der Außenwelt in Kontakt zu treten – die Mauern (eine weitere Lieblingsmetapher von Stipe) einzureißen und die Freiheit zu nutzen: „This is my world/ And I am world leader pretend/ This is my life/ And this is my time… / I raised the walls, and I will be the one to knock it down!“
Nach der ersten Gesangsaufnahme weigerte sich Stipe zum Leidwesen von Produzent Scott Litt, eine weitere zu machen. Er hatte schon alles in den Song gelegt, was er zu geben hatte. Mills war zunächst enttäuscht, dass seine Melodie mit diesem schwierigen Text wohl kein Pop-Hit werden würde, fand dann aber doch, dass das Ergebnis gut war – „nur anders“. Wie immer eben.
Copyright: Paul Bergen/Redferns
35. The Outsiders („Around The Sun“, 2004). Die USA in einem fragwürdigen Krieg, eine Regierung mit skrupellos partikularen Interessen – und ein noch wie benommen schweigendes Volk.
„The outsiders are gathering, a new day is born“ und „I am not afraid“ schleudern Michael Stipe und Gast-Rapper Q-Tip (A Tribe Called Quest) Präsident Bush am Ende seiner ersten Amtszeit entgegen. Der Song lebt mit softem TripHop-Puls, langsam, unaggressiv, aber zugleich unbeirrbar und unaufhaltsam, zärtlich und entschlossen.
Copyright: Anton Corbijn
34. E-Bow The Letter („New Adventures In Hi-Fi, 1996). Die Band, gerade von Warner mit einem bis dahin beispiellosen 80-Millionen-Dollar-Vertrag ausgestattet, bestand auf die seltsam elegische Folk-Ballade als erste Single aus „New Adventures“. In Charts-Kategorien gedacht, fiel die vom Cello-artigen Gitarrendröhnen des E-Bogens, eines eher obskuren Artrock-Requisits, eingeleitete Nummer dann durch.
Dennoch bereitete sie dem Album prächtig den Boden. Patti Smith, Stipes und Bucks Heldin, gab dem Song mit ihren gelassenen und geerdeten Vocals besondere emotionale Intensität.
Copyright: Kevin Winter/Getty Images
33. King Of Comedy („Monster“, 1994). Der am meisten unterschätzte Song auf dem am meisten unterschätzten Album. Kopfhörer auf und sich einfach einlassen auf dieses grimmig geifernde Biest. Der Sänger klingt technoid wie nie zuvor, Mills bedient einen Bass-Synthesizer, und ansonsten haben die Maschinen klar die Macht. „Yes, I’m Fucking With You“ sollte die Nummer zuerst heißen.
Mit beißendem Sarkasmus wehrt sich „Spaßvogel“ Stipe gegen die zugemutete Verbindlichkeit sexueller Identitäten („I’m straight, I’m queer, I’m bi“) und mediale Aneignungen („I’m not commodity“). Peter Buck mag „King“ nicht.
32. Life And How To Live It („Fables Of The Reconstruction“, 1985). Auf den frühen R.E.M.-Alben tummeln sich die wunderbarsten Weirdos, wie sie in klassischen Südstaaten-Geschichten gern vorkommen. Neben „Old Man Kensey“, „Wendell Gee“ und „Oddfellows Local 151“ ist Brivs Mekis einer der erstaunlichsten Charaktere im R.E.M.-Universum:
Der offensichtlich schizophrene Schriftsteller aus Georgia hatte sein Haus in zwei unterschiedliche, jeweils komplett ausgestattete Hälften aufgeteilt, sodass er je nach Stimmung in der wohnen konnte, die ihm gerade gefiel. Nach Mekis’ Tod fand man in seinem Haus tatsächlich ein wirres Manuskript mit dem Titel „Life: How To Live“.
Copyright: Ebet Roberts/Redferns
31. Radio Free Europe („Murmur“, 1983). Am 10.6.1983 gaben R.E.M. ihr TV-Debüt bei Letterman. „Murmur“ hatte für Aufregung gesorgt, führte landauf, landab die Bestenlisten an – ein Traumstart. Und nun also ein Auftritt in der wichtigsten TV-Show des Landes mit der ersten R.E.M.-Single überhaupt, „Radio Free Europe“:
Stipe als wuscheliger Lockenkopf, selbstvergessen und mit geschlossenen Augen, während Buck und Mills mit ihren staksigen Ausfallschritten durchaus noch als schlacksige New-Wave-Coverboys durchgegangen wären. Die Band wirkte kraftvoll, bis in die Fingerspitzen motiviert – und ziemlich aufgeregt. Dass der Text wenig Sinn ergibt, hat Stipe später selbst zugegeben. Very American underground.
30. Daysleeper („Up“, 1998). n der Verarbeitung von Schlaf- und Traumerlebnissen war Stipe schon immer ein Meister. Das Video zu „Daysleeper“ ist ein einziges rapid eye movement. Heute schwer vorstellbar, war der Song 1998 sogar ein kleiner Hit. Viel las man damals über writer’s block, dem Trio fiel angeblich nichts mehr ein.
Buck und Mills experimentierten in ihrer Not mit teils ungewöhnlichen Arrangements. So ist „Daysleeper“ ein aus ingeniösen Versatzstücken bestehendes Kleinod, das trotzdem als homogener Song funktioniert. Das Verschachtelte, Verkantete spiegelt sich in Stipes Lyrik – und er singt er mit hingebungsvoller Schläfrigkeit, ohne jeden Manierismus.
Copyright: gettyimages
29. Leaving New York („Around The Sun“, 2004). „Leaving New York, never easy“: einer der zarteren Momente des „deutlich“ gewordenen Stipe. Drei Jahre nach dem Anschlag auf das Word Trade Center denkt er an all die Abschiede aus der Stadt, die den Jugendlichen aus Athens einst rettete, indem sie ihm Patti Smith und Tom Verlaine, die Ramones und Robert Mapplethorpe brachte.
Die ersten Zeilen gehören zu Stipes erstaunlichsten Sentenzen: It’s quiet now/ And what it brings/ Is everything/ Comes calling back/ A brilliant night/ I’m still awake.“ Als Single hatte „Leaving New York“ nicht den verdienten Erfolg, und „Around The Sun“ – ein zauberisches Werk voll blühender Melodien und blutender Empathie – wird noch immer unterschätzt.
Copyright: Sam Levi/WireImage
Let Me In („Monster“, 1994). Man mag nicht darüber nachdenken, was hätte entstehen können. Kurt Cobain, größter Bewunderer von R.E.M., hatte mit Stipe ein gemeinsames, eher akustisches Musik-Projekt in Planung, bevor er sich im April 1994 die Pumpgun in den Mund schob. Dieser Schuss löschte alles aus.
Copyright: Warner
„Monster“, R.E.M.s krachendes Album über Tod und Vergänglichkeit, war zu diesem Zeitpunkt fast fertig. „Let Me In“ ist Stipes Tribut an seinen Freund, ein bedrückender, dröhnender Monolith. Nur eine schwer hallende Gitarre, Tamburin, etwas Keys und diese heulende Stimme.
27. Living Well Is The Best Revenge („Accelerate“, 2008). Das schnelle, kurze, wütende „Accelerate“ beginnt standesgemäß mit einem wuchtigen Rocksong, dessen Titel sich R.E.M. von dem britischen Dichter George Herbert ausgeliehen haben. Angeblich hat es genau 25 Minuten gedauert, bis das Stück aufgenommen war. Peter Buck drischt auf seine Gitarre ein, Bill Rieflin trommelt wie ein Wilder, Stipe spuckt seinen Frust heraus: „It’s only when your poison spins into the life you’d hoped to live/ That suddenly you wake up in a shaking panic – wow!”
Aber nein, Aufgeben ist auch hier keine Option. Das können all die „sad and lost apostles“ machen, der Hauptdarsteller nicht. Er bleibt der Held in seinem Leben, weil er weiß, dass er seine Gegenspieler so am besten ärgern kann: einfach ignorieren und sich trotzdem ein schönes Leben machen. The future’s ours.
26. Leave („New Adventures In Hi-Fi“, 1996). Der montröse Song und das Herz von „New Adventures In Hi-Fi“ – wahrlich ein Abenteuer. Nach „E-Bow The Letter“ spielen Orgel und akustische Gitarre ein Präludium, dann ertönen irre Sirenen, die eher nach Computerspiel denn nach Feuerwehr oder Polizei klingen, und Bucks elektrische Gitarre dräut. „Nothing could bring me closer/ Nothing could bring me
nearer“, singt Stipe.
„Where do I go when the land touches sea? There is my trust in what I believe.“ In alarmistischer, paranoider Schönheit manifestiert sich Stipes Credo, nach dem er sich an die Dinge am liebsten auf seine Weise erinnert und seiner Vorstellungskraft traut. „I’ll dream my dream/ I lost myself in nothing/ The heartache calling me/ Memory, leave, leave, leave.“ Am Ende, sagt Stipe, werden wir sogar aus der Erinnerung treten müssen, denn sie ist es, die uns in Abhängigkeit hält. „I’ve waited for the calling to leave.“ Eine schmerzende Katharsis.
Copyright: Anton Corbijn
25. Suspicion („Up“, 1998). Krise? Welche Krise? Im Studio herrschte wohl eisiges Schweigen, und trotzdem wurden die in Einzelsessions, mit Drum-Maschinen und prähistorischen Analog-Synthies aufgenommenen „Up“-Lieder am Ende keine seelenlosen, sterilen Etüden.
Zum Beispiel „Suspicion“. Die watteweichen Beats und die schwebenden elektronischen Sounds in Dauerschleife machen aus der unterschwellig bedrohlichen Obsessionsstory ein hypnotisches musikalisches Mantra. „,Everybody Hurts‘ mit einem Steifen“, urteilt Stipe.
24. Monty Got A Raw Deal („Automatic For The People“, 1992). Das schönste Lied, das je über einen Schauspieler geschrieben wurde, erzählt an keiner Stelle die Geschichte von Montgomery Clift, der Marlon Brando und James Dean voranging, 1946 bei „Red River“ dem mächtigen John Wayne die Stirn bot und dessen rechte Gesichtshälfte bei einem Autounfall 1957 fast entstellt wurde, woraufhin er dem Alkohol verfiel, kaum noch Rollen bekam und 1966 im Alter von 46 Jahren starb. Clift war hypersensibel und homosexuell, ein Freund von Elizabeth Taylor, mit der er in „Ein Platz an der Sonne“ (1951) eine denkwürdige und tödliche Liebschaft einging.
Copyright: Ebet Roberts/Redferns
Buck spielt auf der Gitarre eingangs ein Memento mori, bevor Stipes Gesang einsetzt: „Monty this seems strange to me/ The movies had that movie thing/ But nonsense has a welcome ring/ And heroes don’t come easy.“ Dann setzen Akkordeon und Schlagzeug ein, die Geheimwaffen auf „Automatic For The People“. Selten gewürdigt, aber ebenbürtig „Kathleen“ von Townes Van Zandt und „River Man“ von Nick Drake.
23. Star Me Kitten („Automatic For The People“, 1992). Unter den dunkel glänzenden Kleinoden von „Automatic For The People“ ist dieses kurze Stück ohne Refrain ein enigmatisches Juwel. Zu einer der traumwandlerischsten Weihnachtsmelodien von Buck und Mills wispert Stipe mit allergrößter Vorsicht und Zärtlichkeit einen verschlüsselten Text: „I’ve changed the locks/ And you can’t have one/ You, you know the other two.“ Metapher für das Verenden der Liebe sind die Bremsen des Autos:
Copyright: WMG
„The brakes have worn so thin that you could hear, I hear them screeching through the door from our driveway.“ Haben wir den Verstand verloren? Wird das jemals enden? Schließlich resigniert der Erzähler: „No gasoline/ Just fuck me kitten/ You are wild and I’m in your possession/ Nothing’s free, so fuck me kitten.“ Mancher, der sich Dichter nennt, hat im Leben nicht etwas so Geniales geschrieben.
Copyright: Chris Walter/WireImage
22. Belong („Out Of Time“, 1991). Eine beiläufige Szene, hinter der Gewaltiges stecken muss: Die Frau schlägt ihre Zeitung zu, macht das Radio aus. Bleibt ruhig, aber man spürt, wie sie bebt. Sie nimmt ihr Kind auf den Arm, geht zum Fenster, öffnet es. Nicht, um zu springen, betonte Stipe später: Es gehe um Krieg und Freiheit in „Belong“.
Copyright: Ebet Roberts/Redferns
Und obwohl das ein odd one ist, mit nur zwei Akkorden, einem Beatnik-Gedichtvortrag und einem dreistimmigen Refrain ohne Worte, wird eine zutiefst spannende Geschichte daraus. Der komische Klang der Stimme kommt daher, dass Stipe die Strophen auf einem Walkman in der Garage ihrer Mietunterkunft aufnahm. Im Studio klang’s viel zu eindeutig.
21. The Great Beyond („Man On The Moon“, OST, 1999). Neben „Wolves, Lower“ das einzige Stück in unseren Top 40, das nicht von einem regulären Studio-Album stammt. Es erschien 1999 auf dem Soundtrack zu „Man On The Moon“, Milos Formans Film über den Komiker Andy Kaufman – der seinen Titel wiederum dem R.E.M.-Lied entlieh.
„The Great Beyond“ ist einer von diesen R.E.M.-Songs, die sich steigern und steigern und fast unerträglich eingängig werden, bis man sie nie wieder aus dem Ohr bekommt. „Das Unmögliche versuchen“, darum geht es, sagt Stipe – und R.E.M. haben das ja mehr als einmal getan.
20. Driver 8 („Fables Of The Reconstruction“, 1985). Das klassische Motiv der Züge kommt bei R.E.M. mehr als einmal vor. Bei „Driver 8“ symbolisieren sie wieder einmal die Sehnsucht: „We can reach our destination, but we’re still ways away.“ Man sieht einfache Leute auf ihren Verandas sitzen und dem Southern-Crescent-Zug in der Entfernung lauschen, die große Welt ist da draußen, aber wird man jemals losfahren?
Ein Thema, das auf „Fables“ auch bei „Can’t Get There From Here“ und „Maps And Legends“ eine Rolle spielt. Laut Buck das Lied, das mit seinen Akkordfolgen, Melodien und Harmonien damals „quintessential R.E.M.“ war.
Copyright: PRNewsFoto/EMI Music Catalog Marketing
19. Electrolite („New Adventures In Hi-Fi“, 1996). Es dürfte ein Treppenwitz sein, den sich Labelchefs erzählen, wenn sie mal wieder der Meinung sind, eine Band sei nicht massenkompatibel genug: „Electrolite“ ist der charttauglichste Song auf „New Adventures In Hi-Fi“ – und es ist tatsächlich der letzte auf diesem Album, Nummer 14. Nichtsdestotrotz ist er zu einem echten Klassiker gereift. Das klimpernde Piano, Berrys wattenes Schlagwerk, die schwerelosen Geigenharmonien –
Das zeigt Buck und Mills noch einmal auf dem Höhepunkt ihrer kompositorischen Fähigkeiten. Und Stipe pflegt sein so unnachahmliches melodisches Raunen in wunderbaren Versen. Wer könnte jemals solche Zeilen singen: „Twentieth century go to sleep/ Really deep/ We won’t blink“? Die Antwort kennen auch die schärfsten Kritiker.
Copyright: Warner
18. Catapult („Murmur“, 1983). Vielleicht ist „Catapult“ der allerwichtigste R.E.M.-Song überhaupt. Ihr Label IRS wollte bei seinem neuen Act auf Nummer sicher gehen und engagierte den Pop-Produzenten Stephen Hague. Der diagnostizierte rhythmische Unsicherheiten und jagte die Band zur Therapie immer wieder mit Metronom durch „Catapult“, bis vor allem Drummer Berry völlig entnervt war. Die Folge:
Copyright: Ebet Roberts/Redferns
R.E.M. meuterten, forderten und bekamen „Chronic Town“-Mixer Mitch Easter – und durften die Nummern von „Murmur“ im geheimnisvoll-düsteren Folkrock-Sound aufnehmen, der ihren Ruhm begründen sollte. Ohne klickende Fessel wurde „Catapult“ ein energisch vorgetragener und druckvoll pulsender Track mit wuchtigem Bass und Beat, dem die Ambition der Band anzuhören ist.
Copyright: jt Getty Images
17. Everybody Hurts („Automatic For The People“, 1992). Spätestens für diesen Song hat Stipe die versponnene Lyrik der Frühphase abgelegt, um sich voll und ganz und unironisch der existenziellen Seelenpein zu widmen, der Ausweglosigkeit aus dem Alltag, den Widrigkeiten, mit denen wir alle zu kämpfen haben, und in letzter Konsequenz den Suizidgedanken.
Seine Botschaft ist so universell wie zeitlos: „When you’re sure you’ve had enough of this life, well hang on/ Don’t let yourself go, ’cause everybody cries and everybody hurts sometimes.“ Und wenn dann das Schlagzeug einsetzt und die Streicher anschwellen – wer fühlt sich dann nicht für einen Moment erhaben?
16. These Days („Life’s Rich Pageant“, 1986). Eine der ersten unverschämt eingängigen R.E.M.-Hymnen auf dem Album, das Buck später einmal „die Bryan-Adams-Platte von R.E.M.“ nannte. Ein ungerechtes Urteil, denn auf „Lifes Rich Pageant“ war bei allem Pop nichts billig oder anbiedernd, und „These Days“ ist das beste Beispiel dafür.
Ein paar Zeilen daraus fassen zusammen, was R.E.M. bis heute ausmacht, auch wenn Stipe das „we“ vielleicht universeller angelegt hatte: „We are young despite the years/ We are concern/ We are hope despite the times.“
Copyright: Paul Bergen/Redferns
15. At My Most Beautiful („Up“, 1998). Eine sonderbare Mischung aus Resignation und Hoffnung durchtränkt diesen außergewöhnlichen Lovesong. Das schleppende Piano, das scheppernde Tamburin, die zögerlichen Beats, der leise Gesang, das sehnsüchtige „Dip-dip-dip-dip“ des Beach-Boys-Chorus’ – all das klingt wie ein einziges ausgedehntes Seufzen, wie widerwilliger Abschied nach langer Gegenwehr.
14. Fall On Me („Life’s Rich Pageant“, 1986). Nein, kein Hit, es reichte lediglich für US-Platz 94. Dabei besteht die berauschende Hymne selbst den direkten Vergleich mit „Losing“ oder „Everybody Hurts“. Knapp drei Minuten pure Schönheit sind das, beseelt vom Sixties-Gefühl der Byrds und der Mamas & Papas. Und wenn sich Stipes Stimme zum Refrain emporschraubt, wenn Mills seine Gegengesänge sanft einklinkt, dann möchte man den Atem anhalten.
Nun, thematisch wäre das nicht nötig, in der nach vielen tief reichenden Metamorphosen aufgenommenen Fassung handelt der Song nun nicht mehr von saurem Regen, sondern indifferent von Unterdrückung und einem Kerl, der Federn und Gewichte vom Schiefen Turm von Pisa schmeißt. Aber in allem Ungefähren entwickelt der Song eine Mut machende Kraft wie kaum ein zweiter.
Copyright: Larry Cutchall/Getty Images
13. Maps And Legends („Fables Of The Reconstruction“, 1985). Die dicht und müde schimmernden Gitarren verleihen dem Song etwas Einlullendes, Schweres. Stipe besuchte damals in Athens gerne Senioren, führte Gespräche, ließ sich bewirten. Ein ehemaliger Erdkundelehrer, der ihm bei den Altennachmittagen oft auf der Orgel vorspielte, soll der Hauptdarsteller des Liedes sein –
Copyright: Paul Natkin/WireImage
das der Sänger auf der Bühne aber auch anderen Zeitgenossen widmete. Auf der abenteuerlichen „Fables“-Platte ein eher konventionelles Stück, umso größer der Ohrwurm. Und umso dramatischer der Backgroundgesang von Mills, der wie ein ganzer Kirchenchor klingt.
Copyright: Ebet Roberts/Redferns
12. Country Feedback („Out Of Time“, 1991). Die Vorsätze, die Stipe für „Out Of Time“ hatte, setzte er bei „Country Feedback“ vorbildlich um: 1. Liebeslieder schreiben. 2. Nichts Politisches. 3. Singular statt Plural. „Durch das ,we‘ klang immer alles so hymnisch“, befand er. Hier erzählt er nun aus der Pespektive eines verzweifelten Liebhabers, der nicht fassen kann, wie alles so schiefgehen konnte: „We’ve been through fake-a-breakdown/ Self hurt, Plastics, collections/ Self help, self pain, EST, psychics, fuck all/ I was central/ I had control/ I lost my head …“
Copyright: Anton Corbijn
Wenn er immer wieder „it’s crazy what you could’ve had“ singt und die Stimme vor Verzweilfung fast kippt, zerreißt es einem das Herz. „Country Feedback“ war lange Zeit Stipes liebster R.E.M.-Song, und er ist auch ein klassisches Beispiel für R.E.M.-Pragmatismus: Im Studio hieß das Stück immer nur „Country Feedback“, weil man keinen passenden Titel fand. Am Ende blieb es dann einfach dabei.
Copyright: Fox
11. Walk Unafraid („Up“, 1998). Fast stakkatoartig erzählt Stipe die Geschichte eines Außenseiters, der sich nicht geschlagen geben will: „Everyone walks the same/ Expecting me to step/ The narrow path they’ve laid/ They claim to/ Walk unafraid/ I’ll be clumsy instead/ Hold my love me or leave me high …“ Da fanden sich natürlich viele R.E.M.-Fans wieder, denn dies ist ja die Band für die Nerds – für die, deren Frisuren immer schlecht saßen, die in der Schule ausgelacht wurden und doch wussten, dass sie sich nicht zu schämen brauchen.
Copyright: Anton Corbijn
Celebrate the contradiction! R.E.M. gaben den Uncoolen eine Stimme. Sie hatten nur ihr Talent und keine weiteren Rockstarqualitäten, und doch titelte der US-Rolling Stone im Jahre 1989: „America’s hippest band“! Die offizielle Bestätigung, dass man es auch ohne Oberflächlichkeiten schaffen kann.
Copyright: sg/cfh Getty Images
10. (Don’t Go Back To) Rockville („Reckoning“, 1984). Auf der Dauertour nach „Murmur“ schwitzte R.E.M.s musikalischer backbone Buck, Mills und Berry neue Songs förmlich aus. „Rockville“, 1980 als Postpunk-Knaller fabriziert, geriet nur deshalb auf „Reckoning“, weil Band-Anwalt Bertis Downs die Nummer so mochte.
Text und Musik stammen von Mills, der so Lynda Stipes Freundin Ingrid Schorr überreden wollte, Athens doch nicht zu verlassen. Im Studio bremste die Band ihren alten Heuler ein und versetzte ihn mit einer Portion Countryfolk.
9. It’s The End Of The World As We Know It (And I Feel Fine) („Document“, 1987). Ist es nicht die ultimative Hedonismuskritik mit hedonistischen Mitteln? Ein bisschen Nonsens, ein bisschen Poe-
sie, ein bisschen Kunst, ein bisschen Punk, dargeboten in diesem irrwitzigen Sprechgesang. Die Trommel kündet einen Marsch an, „that’s great, it starts with an earthquake, birds and snakes, an aeroplane, Lenny Bruce is not afraid”, tönt Stipe.
Man kann versuchen, seine kryptische Phrasierung zu entschlüsseln, man kann den Endzeitszenarien viel Bedeutungsschwere beimessen – oder man kann sich einfach der durchgeknallten Partystimmung hingeben. Inzwischen der Rausschmeißer bei R.E.M.-Konzerten.
Copyright: Michael Ochs Archives/Getty Images
8. You Are The Everything („Green“, 1988). „Sometimes I feel like I can’t even sing/ I’m very scared for this world, I’m very scared for me/ Eviscerate your memory/ Here’s a scene …“ Und dann entwirft Michael Stipe eine Szene, die so gut wie jeder nachvollziehen kann: wie man als Kind auf dem Autorücksitz hockt, aus dem Fenster guckt und denkt, dass einem die Welt absolut nichts anhaben kann – so auch später zu Hause:
„Late spring and you’re drifting off to sleep/ With your teeth in your mouth.“ Hat jemand mal gezählt, wie oft Zähne in Stipes Songtexten vorkommen? Nicht ganz so prominent wie Schwerkraft und Mond oder Furcht und Hoffnung, aber doch erstaunlich häufig – und hier als Zeichen dafür, das alles in Ordnung ist: Zähne noch da, Tod weit weg.
Copyright: Michael Ochs Archives/Getty Images
7. Talk About The Passion („Murmur“, 1983). Über Leidenschaft zu sprechen, wirkt ja meist eher leidenschaftslos. Nicht so hier: Die eindringliche Hingabe, mit der Stipe über Hunger und Armut singt, wirkt in jeder Sekunde wahrhaftig: „Empty prayer, empty mouths, Talk about the passion/ Not everyone can carry the weight of the world.“ Natürlich gehört der Textdichter durchaus zu jenen, die das Gewicht der Welt bisweilen schultern können
5. So. Central Rain („I’m Sorry) („Reckoning“, 1984). Georgia lag unter einer Gewitterglocke, als Peter Buck vom Tourstopp in L.A. aus zu Hause anrufen wollte – die Leitung war tot, schöne Metapher für die Einsamkeit des Unterwegsseins. Das davon inspirierte Stück brachte R.E.M. so nahe an eine Hit-taugliche Single, wie es der Zufall damals selten wollte:
Die raffinierte, psycho-folkige Strophe mündet in einen ungeheuer eingängigen Refrain, dessen Slogan für die 7-inch zum Songtitel hinzugefügt wurde, zur leichteren Identifizierung. Wenige Konsumenten merkten es: „So. Central Rain“ kam nur bis Platz 85 der Charts. Fürs Video sang Stipe den Song übrigens neu ein. Er wollte nicht zum Playback mimen.
Copyright: gd Getty Images
4. Drive („Automatic For The People“, 1992). Die Single, die das größte Album von R.E.M. eröffnet. Im Jahr nach „Smells Like Teen Spirit“ setzten sie dem Stück von Nirvana eine majestätische Hymne der jugendlichen Orientierungslosigkeit entgegen, von Bucks zirpender Gitarre, dem irisierenden Akkordeon und flirrenden Streichern getragen. Die Anfangszeilen gehören sogar unter Stipes vielen merkwürdigen Formulierungen zum Kryptischsten und Amüsantesten: „Smack, crack, bushwacked/ Tie another one to the racks, baby.“
Dann gönnt er der nächsten Generation eine Bestandsaufnahme von wunderbarem Zynismus: „Hey, kid, rock and roll/ Nobody tells you what do do, baby.“ Der Vers wird dann in „Nobody tells you where to go“ abgewandelt. Der sardonische Witz der elegischen Ballade scheint auch in den anderen Strophen auf: „Maybe you did, maybe you walk/ Maybe you rock around the clock/ Tick-tock. Tick-tock.“ Ein Meisterstück des Defätismus und des Surrealismus.
Copyright: sg/jr Getty Images
3. Man On The Moon („Automatic For The People“, 1992). Waren die Amis wirklich auf dem Mond? Ein ganz großer, wüstenpanoramahafter Song über Täuschung, Spiel, Imitation. Die Steel Guitar klingt wie weit entfernt, gibt dem Stück die unwirkliche Note, während Stipe feierlich durch die Weltgeschichte blättert: Petrus, Moses, Darwin. Und Elvis, dessen Stimme er sich ausleiht:
„Hey, baby!“ Als er klein war, sah der Sänger den Komödianten Andy Kaufman, wie er im TV auf einem Kinderplattenspieler das „Mighty Mouse“-Lied laufen ließ. Diesem frühen Rock’n’Roll-Moment zollt Stipe hier Tribut: Andy, der lustige Rebell, ist gerade beschäftigt. Er ringt mit Bären. So konkret und rätselhaft zugleich waren R.E.M. selten.
Copyright: ca/pr Getty Images
2. Losing My Religion („Out Of Time“, 1991). In den 90er-Jahren der wohl am häufigsten von todtraurigen Teenagern an Lagerfeuern missbrauchte Song. Heute hört man ihn in jedem Kaufhaus, in jedem Supermarkt, sogar am Pissoir in der Stammkneipe. Doch beweist all das nur die Unzerstörbarkeit dieser meisterlichen Miniatur. Den Unterschied zum gewöhnlichen Mainstream macht natürlich Stipes gebetsmühlenartiges Lamento: „That’s me in the corner/ That’s me/ in the spotlight/ Losing my religion“.
Dazu erklingt Bucks unverkennbares Mandolinen-Picking. „Losing My Religion“ ist vieles: perfekter Popsong, sehnsuchtsvolle Ballade und unverstelltes Manifest. So formvollendete vier Minuten sind R.E.M. danach nicht wieder gelungen.
1. Find The River („Automatic For The People“, 1992). Das letzte Stück auf „Automatic“, die Fortsetzung von „Nightswimming“ – und ein Abgesang auf die Kindheit. Stipe beginnt die Reise sanft mit „Hey now, little speedyhead“, die große Stadt wartet. Es sind die letzten Momente der Unschuld, die hier beschrieben werden – ein Sujet, aus dem später ein ganzes Album wurde („Reveal“). Der Sommer als kleine Ewigkeit, die doch enden muss. Die fließende Melodie, der aufmunternde Background-Gesang von Mike Mills – „Find The River“ ist so elegisch wie mitreißend.
Keine Ahnung, was ein „bayberry moon“ ist, auch der Gang durch den Duftgarten – „bergamot and vetiver“, später dann „ginger, lemon, indigo/ Coriander stem and rose of hay“ – ist ein Rätsel, aber das Finale versteht jeder, der weiß, wie sich ein Aufbruch anfühlt: „Strength and courage override/ The privileged and weary eyes/ Of river poet search nai-
vete/ Pick up here and chase the ride/ The river empties to the tide/ All of this is coming your way.“ Es gibt kein tröstlicheres Lied.
Copyright: sg/co Getty Images
Empfehlungen der Redaktion
Abonniere unseren NewsletterVerpasse keine Updates