DIE 30 BRUCE-MOMENTE
BORNINTHEU.S.A.
Das Cover, dem in den 80er Jahren keines das Wasser reichen konnte.
Es war zweifellos der Hintern des Jahrzehnts: Springsteen wählte aus Dutzenden von Annie-Leibovitz-Fotos das Cover-Motiv für „Born In The U.SA.“ selbst aus – er fand, „es hatte was“. Im Hintergrund die Stripes (ohne Stars), die muskulösen Arme, das rote Käppi lässig in der Gesäßtasche der abgewetzten Blue Jeans – und eine interessante Pose zwischen Selbstbewusstsein und Wasserlassen. Ja, das hatte was.
DIE UR-FASSUNG
Das Ende des „Born In The U.S.A.“- Missverständnisses.
Die Paukenhiebe am Anfang, die Synthesizer-Fanfare und Springsteens scheinbar hymnischer Stimm-Ton trugen dazu bei, dass „Born In The U.S.A.“ sein am meisten missverstandener Song wurde. Was Bootleg-Hörer längst wussten, wurde den anderen 1998 mit der „Tracks“-CD-Box schmerzhaft klar: In der als Demo schon für „Nebraska“ aufgenommenen Ur-Version wird die Umnachtung des Kriegsheimkehrers (Vietnam wird im Text genannt, wo in der End-Version vom „foreign land“ die Rede ist) hörbar. Hier ist das Lied in Moll, die akustische Gitarre kämpft gegen das Echo – „Born In The U.S.A.“ zu sein, ist ein Fluch.
DE MUSTERUNG
“ Wait till the army gets you : Bruce entgeht Vietnam.
Eine der drei großen Geschichten auf „Live 1975-85“ ist die Episode, die Bruce vor „The River“ erzählt Federicis Orgel spielt eine wehmütige Melodie, die akustische Gitarre nimmt das Motiv auf, und Bruce erzählt von den langen Haaren, die er als 18-Jähriger trug. Vom Streit mit seinem Vater. Den Anrufen bei seiner Freundin aus der Telefonzelle („Talkin‘ for hours at a time“). Wenn er nach Hause kommt, sitzt Vater im Dunkeln und fragt, was Bruce denn mit sich anfangen wolle. Dann passiert ein Motorradunfall, und man schneidet Bruces Haare ab. Vater sagt:
„When the army gets you, they make a man out of you.“ Bruce wird gemustert und nicht genommen. Nach Tagen kehrt er heim und berichtet dem Vater: „They didn’t take me.“ – „And he said ,That’s good‘.“ Nun beginnt „The River“.
GROWIN’IP
Die herrliche Erzählung mitten in „Growin‘ Up“ auf „Live 1975-85“
Die Familie ist im Publikum – und Bruce holt zum Rundumschlag aus. Seit Jahren wolle man ihn nun heimholen und doch noch aufs College schicken: „Hey mom, give it up!“ Und dann über seine jungen Jahre: „When I was growing up, there were two things that were unpopulär in my house: One was me and the other one was my guitar…“ Sein Vater versuchte, ihn mit einem Trick davon abzuhalten: Er heizte jedes Mal bis zur Schmerzgrenze ein, um seinen Sohn aus dem Zimmer zu vertreiben und hatte natürlich keine Ahnung von Bruces Leidenschaft: „Never Fender guitar, Gibson guitar – it was always a goddamn guitar. Everytime he stuck his head into my room, that’s all I’d hear: Turn down that goddamn guitar!“ Er spurte nicht, zum Glück.
THE BIG MAN
Wie Bruce und Steve einem riesigen Saxofonisten begegnen Dave Marsh erzählt diese Story in seiner Springsteen-Biografie nach, die immer noch das beste Buch über Bruce ist und das schönste Buch über Rock’n’Roll. Bruce und Steve spielen jeden Abend in einer Band für 13,75 Dollar, erzählt also Bruce. Eines Morgens, gegen vier Uhr, machen sie sich auf den Heimweg. Plötzlich hören sie ein verdächtiges Geräusch und ducken sich in einen Türeingang. Es
stürmt, Nebel wabert, eine Figur erscheint „And it was dressed all in white.“ (Clarence Clemons springt aus dem Bühnenhintergrund und bewegt sich mit wedelnden Armen auf die beiden zu.) Der Riese lehnt das angebotene Kleingeld ab. Bruce zieht daraufhin seine Sneakers aus. Doch das Gespenst streckt seine Hand aus, und die beiden Männer nähern sich, und dann: „Sparks fly on E street..“
DER SCHIEFE SPIEGEL
Springsteen und Landau werden mit „Born To Run“ nicht fertig
Einen der wenigen Einblicke in die Entstehung des Meisterwerks lieferte Bruce mit der Erwähnung eines Apartments an der New Yorker West Side. Immer, wenn er nachts vom Studio nach Hause kam, hing der Spiegel wieder schief, und die Freundin fragte: „Ist es fertig?“ Aber es war nicht fertig. Bruce arbeitete schließlich am letzten Cut, „She’s The One“. Er und Landau stritten über das Arrangement, Bruce am Piano, Jon in seinem Kabuff. Um sechs Uhr morgens drehte Landau durch und verschwand plötzlich in die Nacht „Couldn’t take it.“
CARS & GIRLS
Der Künstler als Streichholzmann: Prefab Sprout singen über Springsteen
Von allen Bruce-Parodien ist der Song „Cars And Girls“ von Prefab Sprout (1988) eine der charmantesten: „Brucie dreams life’s a highway“, singt Paddy McAloon, und kommt im Refrain zur Konklusion: „Some things hurt more much more than cars and girls.“ Der kaum differenzierende Vorwurf, Springsteens Songs beschäftigten sich nur mit diesen zwei Themen, war nach dem Erfolg von „Born In The U.S.A.“ erst richtig laut geworden. Er habe nur sagen wollen, dass Springsteens Metaphern den Schmerz der Welt nicht fassen könnten, sagte McAloon, der auch Songs über Elvis und Sinatra machte.
TWEETEB & THE MONKEY MAN
Der alte Dylan erweist dem ehemals neuen seine Referenz
Anfang der 70er Jahre wurde Springsteen wie so viele andere Songschreiber seiner Generation als „der neue Dylan“ gepriesen. Auf dem ersten Traveling Wilburys-Album macht Bob Dylan sich den Spaß, das Verhältms umzukehren, und mimt als Lucky Wilbury quasi den „neuen Springsteen“. „Tweeter And The Monkeyman“ hat alles, was die typische Springsteen-Story braucht: Vietnam, New Jersey, Autos, Highways und Jung-Verheiratete. Dazu werden im Text mindestens fünf Bruce-Songs genannt.
BERN SPIELT BRUCE
Der Stimmenimitator Dan Bern würdigt Bruce, Bob und Woody
Dan Berns Traum in „Talking Woody, Bob, Bruce 8C Dan“: So wie Bob Dylan, als er Anfang der 60er Jahre nach New York kam, vor dem Bett des schwerkranken Guthrie wachte und ihm musikalisch seinen Tribut zollte, will er es auch mit Springsteen tun. Das einzige Problem dabei: Springsteen ist kerngesund glaubt er jedenfalls.
Nachdem Springsteen Bern aus seiner Villa wirft, wendet der sich an The Artist Formly Known As Prince.
SIE SANGEN FÜR DIE WELT
Aber Springsteen allein rettete „We Are The World“ vor dem Einschlafen
Die Briten hatten den Beitrag schon abgeliefert. In der Nacht der „American Music Awards“ am 28. Oktober 1985 nahmen die US-Künstler in Los Angeles ihren Wohltätigkeits-Song für die Hungernden in Afrika auf, eine Schnulze von Lionel Ritchie und Michael Jackson. Schon Strophe zwei war mit Gesangszeilen von Dionne Warwick, Willie Nelson und AI Jarreau ein Einnicker, aber dann riss der Himmel auf, dann kam Springsteen und sang den Refrain so unfreundlich hinterntretend, wie es bei diesem Text ging: „We are the world, we are die children…“ Beim „Live Aid“-Konzert wartete man vergebens auf ihn.
LANDAUS ZUKUNFT
Wie ein begeisterter Kritiker mit einem Satz (fast) alles änderte
Jon Landau fühlte sich nicht wohl an jenem Abend. Doch ein Freund überredete ihn, zu einem Konzert von Bruce Springsteen in Boston mitzukommen. Landau hatte über „E Street Shuffle“ geschrieben – und eben jene Rezension las Bruce am Aushang des Clubs. Landau stellte sich vor. Nach dem Gig – es war die Nacht zu seinem 27. Geburtstag schrieb Landau in seiner Kolumne für „Real Paper : „I saw my rock and roll past flash before my eyes. I saw rock and roll future and its name is Bruce Springsteen.“ Es war der 24. Mai 1974.
WOODY GUTHRIE
Bruce verortet sich mit Landaus Hilfe in der amerikanischen Folk-Tradition Springsteen-Manager Landau hatte ein Problem: Einerseits wollte er seinen Schützling endlich an die Spitze der Charts bringen, andererseits sollte das nicht nach Ausverkauf aussehen. Mit der ersten, von Steve Van Zandt produzierten Single des „The River“-Albums, „Hungry Heart“, war zumindest der Schritt in Richtung höherer Verkaufszahlen getan. Nun sollte Springsteen sich mit Landaus Unterstützung zu einem sozial und politisch engagierten amerikanischen Großkünstler entwickeln. Angestachelt von einem Artikel in der »New York Times“, gab Landau Springsteen „Woody Guthrie: A Life“ von Joe Klein zu lesen. Wenig später tauchte Guthries „This Land Is Your Land“ in Springsteens Live-Programm auf, und er wies jeweils vor dem Song auf das Joe-Klein-Buch hin. Dann folgte „Nebraska“.
BOB
Bruce führt sein Idol Bob Dylan in die „Rock n ‚Roll Hall Of Fame“ ein
Als Springsteen 1988 Bob Dylan in die „Rock’n’Roll Of Fame“ einführte, gab er sich nicht nur der Bewunderung für den Songschreiber-Übervater hin, sondern verriet auch eine ganze Menge über sich selbst:
„Als ich noch Kid war, erregte und ängstigte mich Bobs Stimme, ich fühlte mich fast unverantwortlich unschuldig – und tue das immer noch -, wenn sie bis in den kleinen Kosmos hinunterreichte, den ein 15-jähriges High School-Kid aus New Jersey damals in sich hatte. Dylan war revolutionär. Bob befreite den Geist wie Elvis den Körper.“
In diesen Worten steckte alles, was Springsteens Kunst ausmacht: die manchmal kindliche Naivität, die Heimat, die Poesie und die, wenn auch kraftvollere und weniger sexuell aufgeladene, Körperlichkeit Elvis Presleys.
BORN TO RUN
Eine einfache Geschichte, die alles sagt über das Leben und die Liebe
Die Stadt: „It’s a death trap, it’s a suicide rap“. Die Frau: „Wendy, let me in, I wanna be your friend, I wanna guard your dreams and visions.“ Der Mann: Hat ein Motorrad, das sie wegfährt aus der Misere, wenn sie nur will. Wie Springsteen diese einfache Geschichte erzählt, macht einen jedes Mal fertig. Diese Verzweiflung, das Aufbäumen gegen die Norm, der Wille zum Aufbruch – nicht, um irgendwo anzukommen, nur, um wegzukommen. Wenn Springsteen, nachdem er beim ewigen Kuss mit Wendy sterben will, „1,2,3,4“ anzählt – dann kann kein normaler Mensch mehr stillstehen. Und danach kommt ja erst die letzte Strophe, die alles sagt über das Leben und die Liebe. Die Straße voller gebrochener Helden, keine Schlupflöcher zu finden. „Together Wendy we’ll live with the sadness/I’ll love you with all the madness in my soul“ Irgendwann werden sie den Platz an der Sonne finden, „but till then tramps like us/ Baby we were born to run.“ Man denkt, besser ginge es nicht, aber es gibt ja noch „Thunder Road“.
BACKSTREETS
„Remember all the movies, Jerry“: der absolute Sruce-Song
Nicht nur der Schriftsteller George P. Pelacanos erinnert sich daran, wie er diesen Song immer wieder hörte und die Worte sich einbrannten. „Born To Run“ , Seite eins, Song vier. Das Piano-Motiv klimpert süß, wenn Bruce anhebt: „One soft invested summer/Me and Terry became friends/Trying in vain to breathe/The fire we was born in.“ Gleich eine grammatikalische Merkwürdigkeit und völlig enigmatisch. Sie schworen, sie wollten ewig leben und tanzten in der Dunkelheit, doch dann geschah der Bruch: „And I hated you when you went away.“ Der Sommer war vorbei: „And after all this time/ To find out we’re just like all the rest.“ Am Ende brüllt Bruce immer wieder „Hiding on die backstreets“.
„WE NEED YOU!“
Eine Post-9/11’Begegung auf dem Strand-Parkplatz und „The Rising“
Wenige Tage nach dem 11. September 2001 muss Springsteens vielzitierter writer’s block noch intakt gewesen sein. Er fuhr gerade aus einem Strand-Parkplatz des Küstenstädtchens Sea Bright/New Jersey heraus, als neben ihm ein Fahrer anhielt, das Fenster herunterkurbelte, drei Worte rief und wieder Gas gab: „We need you!“ Springsteen selbst hat dazu nur gesagt, er habe sich gefreut, dass seine Musik den Leuten so wichtig sei; aber natürlich muss das der Augenblick gewesen sein, dem wir die Songs „Empty Sky“, „Into The Fire“ und den größten Rest von „The Rising“ verdanken. Wie könnte er anders, wenn er gebraucht wird?
11 ON FIRE. Die WERKSTATT
Die rätselhafte moralische Schule eines komischen 80er-Video-Clips
Das Stück hat einen leicht pädophilen Unterton („Hey, little girl, is your daddy home?“), der Video-Clip zu „I’m On Fire“ skizziert Springsteen als Malocher mit unerschütterlicher Moral. Der Automechaniker gleitet unter dem Wagen hervor und erhält von der scharfen Eigentümerin die Aufforderung, ihr den „Schlitten“ doch später vorbeizubringen. Nachts vor dem Haus ringt er lange mit sich, wirft dann aber nur die Schlüssel in den Briefkasten und geht allein ab ins Dunkel. Wieso eigentlich? Ist er verheiratet? Oder sie? Will er lieber ein ehrbares Mädchen und keine Schnepfe? Vielleicht wollte sie ihm bloß ein Mineralwasser anbieten und Trinkgeld geben. Selten hat ein Video seinem Song so diametral widersprochen.
NO SURRENDER
Die perfekte Entschuldigung für alle Schulschwänzer
Unter den vielen wunderbaren, zu allerlei Gelegenheiten zitierfahigen Zeilen aus Springsteen-Songs gibt es eine, die jeder Teenager lieben muss. Sie stammt aus „No Surrender“ und spricht allen aus dem Herzen, die schon mal am Nutzen von Algebra und Latein zweifelten also der ganzen Welt: „We learned more froma three minute record than we ever learned in schooL“ Bruce selbst verließ die Highschool dann konsequenterweise so schnell wie nur möglich.
DANCINGINTHEDARK
Wie der Boss einmal beim Tanzen Jennifer Aniston entdeckte
Das Lied ist allseits eher unbeliebt, das Video dazu albern. Aber eins gibt dem Clip zu „Dancing In The Dark“ fast eine historische Dimension: Er beinhaltet einen der ersten Auftritte von Jennifer Aniston, heute dank „Friends“ und Liebe zu Brad Pitt längst Liebling der Boulevard-Presse. Damals kannte sie kaum einer – und viele denken immer noch, es sei einfach ein weiblicher Fan im so schlichten wie unkleidsamen Bruce-Outfit (weißes Shirt und BlueJeans),
den der Boss da zum Tanz auf die Bühne zieht. Inzwischen hat Aniston eine bessere Frisur und größere Rollen, aber „U.S.A“ liebt sie immer noch.
MARY QUEEN OF ARKANSAS
Take 1: Springsteen singt vor und bekommt einen Plattenvertrag
Der legendäre Talent-Scout Albert Hammond hatte den zerlumpten Sänger eingeladen. Bruce spielte, wie man auf „Tracks“ samt offiziöser Ansage in den Columbia-Studios hört, das reichlich quälerische „Mary Queen Of Arkansas“, das Hammond natürlich umgehend an seine alte Entdeckung Bob Dylan erinnerte. Fortan hielt man bei Columbia Springsteen für einen Folkie. „Mary Queen Of Arkansas“ eröffnet auch „Asbury Park“ und wurde später, bei einer Umfrage unter Fans, zum am wenigsten geschätzten Springsteen-Song gewählt
BOBBYJEAN
„Just to say goodbye“ : der magischste aller Abschieds-Songs
Das Lied war nicht einmal Single, obwohl es der perfekte Song auf „U.S.A.“ ist, aber Bruce spielt es noch immer bei Konzerten. Zu Federicis Fanfaren, dem Glockenspiel und irrem Piano-Zeug von Bittan im Hintergrund gedenkt Bruce einer großen Liebe: „We liked die same music, we liked die same Bands, we liked the same clothes/ And we told each other that we were the wildest.“ Nun stellt sich der Protagonist vor, sie könnte ihn im Radio hören, und nur einmal möchte er sie noch anrufen. Steve Van Zandt, wie manche glauben, ist wohl kaum gemeint.
DIE TELECASTER
Bruce behandelt die Gitarren-Ikone wie einen Kumpel von der Schicht
Er hielt sie nie wie eine Geliebte in den Armen (ein beliebtes Gitarristen-Klischee), er trägt sie mehr wie ein Werkzeug, das mit einem versteckten Karabiner am Gürtel festgemacht ist. Die umgebaute Telecaster Esquire machte Springsteen auf dem Cover von „Born To Run“ sogar zur eigentlichen Titelheldin, ein Verweis auch auf die Rock ’n’Roll-Geschichte: Es war die erste E-Gitarre mit festem Holzkörper, die Leo Fender Ende der Vierziger für die Massenproduktion konstruierte. Viele denken beim Anblick der Naturmaserung und des schwarzen Schlagbretts vielleicht an Keith Richards. Noch mehr denken unweigerlich an Bruce.
DREAMS
Während der Arbeiten zu „Human Touch“ sucht Bruce die Inspiration
Man hört dem 92er Album „Human Touch“, dem ersten seit fast fünf Jahren, die Anstrengung an. Ohne die E Street Band kämpfte er sich mit Studiomusikern durch für seine Verhältnisse mittelmäßige Songs. Ihm schien einfach nichts mehr einzufallen. Als er 1991 angestrengt an dem Album arbeitete, fiel ihm Bob Dylans Raritäten-Sammlung „The Bootleg Series Vol. 1-3“ in die Hände, und er hörte das „Oh, Mercy!“-Outtake „Series Of Dreams“. Inspiriert von dem Bilderreichtum des Textes schrieb er „Living Proof“, und auf einmal flössen die Songs wieder. Das Ergebnis: das zeitgleich mit „Human Touch“ erschienene, bessere „Lucky Town“.
THUNDER ROAD
Ein Kino-Plakat: Springsteens mythischer Aufbruch mit Mary
Der große Hermeneutiker Roel Bentz van den Berg interpretiert dieses wahrlich nicht nebulöse Stück in seinem Buch „Die Luftgitarre“. Er betont, dass Springsteen den Titel entlehnte, nachdem er das Plakat für den Film „Thunder Road“ in einem Kino-Foyer gesehen hatte. Worum es geht, war natürlich gar nicht von Belang. Der Film ist auch nicht mal so gut wie nur zwei Zeilen aus dem unglaublichen Song. Nehmen wir gleich die ersten: „The screen door slams/ Mary’s dress waves.“ Reine Poesie. Später heißt es: „Your graduation gown lies in rags at their feet.“ Rettet mehr Leben als Lassie.
„IT’S BOSS TIME!“
Den Spitznamen hat er zwar nie gemocht, aber jetzt ironisiert er ihn
Im letzten Jahr, beim Konzert in Berlin, führte Springsteen während des nicht enden wollenden „Ramrod“ mit Van Zandt ein Schauspiel auf, wie man es früher nur bei „Tenth Avenue Freeze-Out“ gesehen hatte. Als nach Polonäse, Rutsche, Ringelpiez (siehe „Der Steuermann“) die Halle tobte und die Orgel noch immer schunkelte, blickte Bruce theatralisch auf eine imaginäre Uhr und rief ins Publikum, wie spät es sei. Trotz Verwirrung wiederholte er den Vorgang, lachte und schäkerte: „What time is it?“ Dann schaute er zu Steve hinüber, stoisch ein paar Meter neben ihm stehend. „What time is it, Steve?“ Van Zandt, nicht erst seit den „Sopranos“ ein begnadeter Kasper, fragte wiederum das Publikum und legte dazu demonstrativ die Hand ans Ohr. „I can’t hear you!“ Wer den Zweck der Übung noch immer nicht
verstanden hatte, bekam es nun erklärt, als Steve losbrüllte: „It’s boss time!“ Und das war es allerdings auch.
TRIBUTE TO HEROES
Alle wollen helfen, aber nur einer erweist sich auch noch als Prophet
Der gute Zweck heiligt viele Mittel, aber er entschuldigt nicht, dass Fred Durst plötzlich zu singen versucht. An einem Abend der gepflegten Durchschnittlichkeit und des fast unerträglichen Pathos schaffte Springsteen es wieder mal, genau das Richtige zu tun. Er sang, leise und unprätentiös, „City Of Ruins“ – einen Song, den er vor dem WTC-Anschlag geschrieben hatte. Und bewies, dass manche Propheten auch im eigenen Lande etwas gelten.
DER STEUERMANN
Bruce gebietet auf der Bühne über ein Repertoire von Posen und Stunts
Der Tanz mit Jennifer Aniston, so gekünstelt das ganze Video ist, enthält eine innere Wahrheit: Nicht nur wäre derlei (damals) jederzeit möglich gewesen – Bruce verfugt auch über ein Arsenal jederzeit abrufbarer und erprobter Posen, Gesten und Clownerien. Der Brucologe unterscheidet zwischen Rutsche (am Bühnenrand), Hangeln am Mikrofonständer („Der Steuermann“), Watscheln mit Gitarre auf dem Rücken („Der Wandersmann“), Fäusteln an den Bühnenrändem und natürlich Großer Polonäse, mit allen Band-Mitgliedern, die halbwegs mobil sind. Mindestens.
WENDY, MARY, SANDY
Keiner kennt so viele schöne Frauennamen wie er
Protagonisten der meisten Springsteen-Songs mögen Männer sein, die Dreh- und Angelpunkte der Geschichten sind fast immer Frauen. Und welch herrliche Namen Bruce sich im Laufe der Jahre für sie ausgedacht hat: Sandy (4th of July, Asbury Park“), Wendy („Born To Run“), „Rosalita“, Candy („Candy’s Room“), „Sherry Darling“, „Bobby Jean“, Gloria („Gloria’s Eyes“) – und immer wieder Mary („Mary Queen Of Arkansas“, „Thunder Road“, „Mary’s Place“). Man glaubt sie alle zu kennen. Sie tragen Bänder in den Haaren, sie stecken in der Kleinstadt fest, sie warten auf den Mann mit dem schmutzigen Auto, der sie mitnimmt ins Glück. Wer nicht einsteigt, ist selbst schuld.
NO NUKES
Bruce wird 30 – und verliert ein wenig die Contenance
An einem Abend der „No Nukes“-Konzerte im Madison Square Garden wurde Bruce 30 Jahre alt. „I guess I can’t trust myself now“, rief er. Außerdem hatte er eine Wut auf die Fotografin (und Ex-Freundin!) Lynn Goldsmith, die sich nicht an Abmachungen gehalten hatte (wir verdanken ihr einige der schönsten Bruce-Fotos). Bruce sprang von der Bühne und trug die Überraschte vors Mikrofon, wo er sie höhnisch vorstellte, woraufhin sie durch den Hinterausgang hinauskomplimentiert wurde. „Some nights… I just don’t know“, so Bruce später. Der Abend brachte allerdings auch die wohl definitive Fassung von „The River“.
MELISSA
Auch als Jesus-Ersatz macht Springsteen eine gute Figur
In Amerika binden Eltern ihren Kleinen gern Armbändern mit dem Akronym „WWJD“ um – als Warnung, nichts Verbotenes zu tun: „What would Jesus do?“ heißt die Zauberformel für ein anständiges Leben. Wenn Melissa Etheridge partout nicht mehr weiter weiß, stellt sie sich eine ähnliche Frage – und angeblich hat sie das schon vor den schlimmsten Karriere-Fehlern bewahrt. Ihre Maxime: „What would Bruce do?“