Die 100 größten Musiker aller Zeiten: Die Essays über Platz 5 – 1

Die Liste der 100 Musiker, die 2011 aktualisiert wurde, ist ein Beitrag zur Rock-Historie. Die Essays über die 100 Besten stammen aus prominenter Feder, es sind Huldigungen aus der Fan-Perspektive.

Rund 50 Jahre nachdem Elvis in den Sun-Studios „that’s all Right“ einspielte, hat der ROLLING STONE das erste halbe Jahrhundert des Rock’n’Roll im großen Stil gefeiert. 2004 baten wir ein Gremium aus 55 Musikern, Autoren und Plattenfirmen-Managern, die einflussreichsten Musiker dieser Ära auszuwählen. Die Liste der 100 Musiker, die 2011 aktualisiert wurde, ist ein Beitrag zur Rock-Historie. Sie umfasst die Beatles ebenso wie Eminem. Sie reicht vom Rock-Pionier Chuck Berry bis zum Blues-Mann Howlin’ Wolf.

Die Essays über die 100 Besten stammen aus prominenter Feder: Ezra Koenig von Vampire Weekend zollt dem Rapper Jay-Z Tribut. Britney Spears verneigt sich vor „Godmother“ Madonna. Rock’n’Roll hat eine glorreiche Vergangenheit.

Lesen Sie hier, die Plätze Fünf bis Eins.

Chuck Berry PortraitCIRCA 1958: Rock and roll musician Chuck Berry poses for a portrait holding his Gibson hollowbody electric guitar in circa 1958. (Photo by Michael Ochs Archives/Getty Images)PC5. Chuck Berry

Von Joe Perry

Wie viele Gitarristen meiner Generation entdeckte ich Chuck Berry durch die Beatles und die Rolling Stones. Damals war ich hin und weg, als ich sie diese Hardcore-Rock’n’Roll-Nummern wie „Roll Over Beethoven“ und „Around And Around“ spielen hörte. Auf den Plattencovern las ich unter den Songtiteln den Namen „Chuck Berry“. Und hatte zum Glück – ebenfalls wie viele Jungs meiner Generation – einen Freund mit einem älteren Bruder, der die Originalplatten besaß: „Wenn euch die Stones gefallen, dann hört euch erst mal das hier an!“ Ich hörte „Chuck Berry Is On Top“ und bin wirklich ausgeflippt. Dieses Kribbeln im Bauch, diese Aufregung, die Gänsehaut im Nacken – das gab mir Berry mehr als jeder andere.

Die Stones kamen gleich danach, weil sie eine der wenigen Bands waren, die Berrys Sachen spielen konnten und dabei wirklich klangen, als wüssten sie, worum’s geht. Die hatten die richtige Kombination aus Technik und dieser Punkattitüde: „Rotzen wir’s hin!“ Sie hatten ihre Hausaufgaben gemacht, aber sie kriegten auch das Feeling, den Rhythmus hin, der in Chuck Berrys Musik so wichtig war.

Dabei geht’s gar nicht so sehr um das, was er gespielt hat – eher um das, was er nicht spielte. Seine Musik ist sehr ökonomisch. Seine Leadgitarre trieb den Rhythmus an, sie lag nicht oben drüber. Die Sparsamkeit seiner Licks und seiner Leads – das trieb den Song vorwärts. Und er baute seine Soli immer so auf, dass ein nettes kleines Statement den Song woandershin lenkte, so- dass man bereit war für die nächste Strophe.

Als Texter ist Chuck Berry der Hemingway des Rock’n’Roll. Er kommt direkt zum Punkt. Er erzählt eine Geschichte in kurzen Sätzen. In deinem Kopf entsteht ein Gesamtbild von dem, was passiert, und zwar sehr rasch, durch wohlgewählte Worte. Berry war auch ziemlich clever: Er wusste, wenn er den Mainstream knacken wollte, musste er den weißen Teenagern gefallen. Das gelang ihm. In diesen Songs geht’s ausschließlich um Teenager. Ich schätze mal, er wusste, dass er in den R&B-Charts mit eigenwilligeren Sachen auch erfolgreich gewesen wäre, aber wollte da halt raus und den ganz großen Erfolg schaffen.

Er feierte auch den Rock’n’Roll – den Lifestyle wie die Musik – in Songs wie „Johnny B. Goode“ und „School Days“. Wie da einer eine Gitarre klingen lässt wie eine Glocke. Wenn man die Worte „Rock’n’Roll“ in einen Songtext packt, muss man immer vorsichtig sein, aber er machte das perfekt. „Johnny B. Goode“ ist bestimmt einer der meistgecoverten Songs überhaupt. Barbands, Garagenrockbands – alle spielen ihn. Und so viele spielen ihn schlecht. Der Song macht zwar unheimlich Spaß, aber man kann ihn auch leicht ruinieren. Aber auch in meinem Fall war das wohl der erste Chuck-Berry-Song, den ich gelernt hab. Er trifft einen einfach auf allen Ebenen: Text, Melodie, Tempo, Riff.

Es ist lustig – mein Sohn Roman kam heute vom Gitarrenunterricht zurück, und als ich fragte: „Welchen Song habt ihr heute gelernt?“, sagte er: „Wir lernen ,Johnny B. Goode‘“. Da steckt der ganze Appeal von Chuck Berry drin. Wenn man heute ein junger Gitarrist ist, dann sieht man sich mit diesen ganzen Meistern konfrontiert: Eric Clapton, Eddie Van Halen, Jimmy Page. Aber deine Gitarre nach Chuck Berry klingen zu lassen, das kriegst du in kürzester Zeit hin.

Das andere ist: Chuck Berry war ein Showman. Spielte die Gitarre hinter dem Kopf und zwischen den Beinen, spazierte in seinem Entengang, dem Duckwalk …, aber wenn man die Augen schließt, hört man, dass sein Spiel nicht darunter litt. Bei ihm sah das alles so leicht und natürlich aus.

„Chuck Berry Is On Top“ höre ich mir heute noch an. Abgesehen von ein, zwei Stücken wie „Blues For Hawaiians“ rockt das ganze Ding einfach tierisch. Drum liebe ich die Platte – und aus dem gleichen Grund zum Beispiel auch die Platten von AC/DC. Die hören einfach nicht auf. Das war auch noch eine seiner Qualitäten: Er blieb in diesem Groove. Er hätte ja auch ein paar Songs Marke „Johnny B. Goode“ machen und sich dann anderem zuwenden können. Aber er blieb bei genau diesem Groove und machte ihn sich zu eigen. Ich habe auch ein paar Compilations, und da höre ich seinen direkten Einfluss auf mich. Wie er phrasiert oder dieser double-time-stop, wenn man zwei Saiten gleichzeitig zieht und so dieser typische Rock’n’Roll-Sound entsteht.

Was die breite Öffentlichkeit betrifft, ist Berry so was wie ein Artefakt aus grauer Vorzeit. Dabei werden seine Songs immer gecovert werden. Wenn Bands ihre Hausaufgaben machen, müssen sie Chuck Berry hören. Wenn du Rock’n’Roll spielen willst, dann musst du hier anfangen.

The Rolling StonesDMH0033Z_02.tifJPN4. The Rolling Stones

Von Steven Van Zandt

Die Rolling Stones sind mein Leben. wenn sie nicht gewesen wären, wäre ich tatsächlich ein „Soprano“ geworden. Das erste Mal sah ich sie im Fernsehen. Das war 1964. Die Beatles waren damals perfekt: die Haare, die Harmonien, die Anzüge. Sie verbeugten sich synchron. Ihre Musik war ungeheuer raffiniert. Die ganze Sache war aufregend und fremdartig, aber auch sehr weit weg in ihrer Perfektion. Die Stones waren auch fremdartig und aufregend, aber bei ihnen lautete die Botschaft: „Vielleicht kannst du das auch.“

Die Haare waren schlampiger. Die Harmonien ein bisschen daneben. Und lächeln taten sie überhaupt nicht, glaube ich. Sie gaben sich wie R&B-Traditionalisten: „Wir sind nicht im Showbusiness. Wir machen keine Popmusik.“

Und der Sex in Mick Jaggers Stimme war erwachsen. Das war kein Pop-Sex – Händchen halten, Flaschendrehen spielen. Das war the real thing. Jagger hatte dieses beiläufige Ich-erzähl-euch-mal-was, das R&B-Sänger und Blueser auszeichnet, halb singen, halb sprechen, die Noten nicht ganz halten. Als das Popradio anfing, Jaggers Stimme zu akzeptieren, war das ein Wendepunkt im Rock’n’Roll. Er hat die Tür für alle anderen aufgemacht. Plötzlich wirkten Leute wie Eric Burdon und Van Morrison nicht mehr so merkwürdig. Nicht einmal Bob Dylan.

Das war etwas ganz Neues: ein Weißer, der sich auf der Bühne wie ein Schwarzer aufführte. Was wir mit schwarzen Performern verbinden, geht zurück auf die Kirche – sich dem Spirit hinzugeben und sich durch ihn bewegen zu lassen, alle gesellschaftlich diktierten Hemmungen und Peinlichkeiten über Bord zu werfen. Es zuzulassen, dass man sich nicht mehr unter Kontrolle hat. Das war es, was Mick Jagger rüberbrachte. Natürlich waren hier und da ein paar Tanzschritte von James Brown und Tina Turner dabei. Aber James Brown war extrem choreografiert. Diese seltsamen Verrenkungen, die Mick Jagger machte, das war der Spirit. Iggy Pop und Jim Morrison haben das dann noch eine Stufe weiter geführt, aber ursprünglich stammt es von Jagger.

Am Anfang war es Brian Jones’ Band. Er gab ihr ihren Namen. Er managte sie, organisierte Konzerte und beschwerte sich bei den Zeitungen, wenn die was Schlechtes schrieben. Das coole Image und die Aggressivität – das kam auch von ihm. Und die Tradition. Er verwendete das Blues-Pseudonym Elmo Lewis und spielte Bottleneck-Gitarre. Auf Alben wie „December’s Children“ und „Aftermath“ spielte er dann eine Menge anderer Instrumente: Laute, Cembalo, Sitar. Er war ungeheuer kreativ und einflussreich.

Aber auch Keith Richards nimmt man für viel zu selbstverständlich. Der ewige Rhythmusknecht. Dabei spielt er großartige Soli: „Heart Of Stone“, „It’s All Over Now“. Und dann die Riffe: „Satisfaction“, natürlich, und „The Last Time“, das die Stones selbst für ihren ersten richtig guten Song hielten. „Honky Tonk Women“ ist nur ein einziger Akkord. Dann fing er an, seine Gitarre anders zu stimmen: zum Beispiel mit dem G-Tuning und der fünfsaitigen Version davon. Es gibt Akkordfolgen, die zu diesen Stimmungen passen – nennen wir es den „Gimme Shelter“-Effekt –, bei denen du eine einzelne Note hinzufügst, und alles wird gleichzeitig melodischer und rhythmischer. In der E Street Band spiele ich ständig Rhythmusgitarre im Richards-Stil. Jeder, der Rockgitarre spielt, tut das.

Bill Wyman und Charlie Watts wussten besser als jedes andere Bass/Drum-Gespann im Rock’n’Roll, wie man swingt. Heutzutage ist das ja nicht mehr cool, aber damals war Rock’n’Roll etwas, zu dem man tanzte. Man kann sich vorstellen, was das für einen Spaß gemacht haben muss, in London, im Station Hotel, 1962 oder 63: Das Publikum total aus dem Häuschen, die Stones dito, alles wie in einem Bluesclub an der Southside in Chicago. Man hört das in der Musik.

Heute gibt es ganze Generationen junger Leute, die die Stones nur noch als Ikonen kennen, keinen Bezug mehr zu ihrer Musik haben. Denen würde ich die ersten vier Alben schicken, in der amerikanischen Version: „England’s Newest Hitmakers“, „12×5“, „Now!“ und „Out Of Our Heads“. Die nächste Lektion wäre dann die zweite große Phase: „Beggars Banquet“, „Let It Bleed“, „Sticky Fingers“ und „Exile On Main Street“. Zusammengenommen ist das für mich die wahnsinnigste Serie von Rockalben in der Geschichte – entstanden in dreieinhalb Jahren. Die Stones spielen heute in mancher Hinsicht besser als in den 60ern. Damals waren sie ziemlich schlampig, was mir persönlich gefällt. Technisch gesehen sind sie besser denn je. Das Problem ist, ihre Power kommt von den ersten zwölf Alben. Seit 1972 gab es nur noch eine Handvoll guter Songs. Aber wenn sie tolle Alben machen und live so spielen würden, wie sie es heute tun – mein Gott, wäre das überhaupt auszuhalten?

Elvis Presley, American singer and actor, 1950s.Elvis Presley, American singer and actor, 1950s. Elvis (1935-1977) playing the guitar. (Photo by Ann Ronan Pictures/Print Collector/Getty Images)IM3. Elvis Presley

Von Bono

Aus Tupelo, Mississippi, aus Memphis, Tennessee, kam dieser Weiberheld mit seinem glänzenden Anzug und den geschminkten Augen, ein junger weißer Trucker-Dandy, der bestimmt Prügel riskierte dafür, dass er so schwarz tat und so schwul. Wir sprechen nicht von New York, nicht mal von New Orleans, dies war Memphis, Memphis in den 50ern. Das war Punkrock. Das war Revolte. Elvis veränderte alles – musikalisch, sexuell, politisch.

Elvis war alles auf einmal, es ist alles da, in seiner geschmeidigen Stimme, seinem biegsamen Körper. Und so wie er sich wandelte, wandelte sich auch die Welt: Er war eine 50er-Ikone, zu allem fähig, was die 60er vermochten.

Und plötzlich war’s vorbei. In den 70ern verwandelte er sich vom Rockstar in einen Ringkämpfer, aber interessanterweise wurde er, je tiefer er fiel, für seine Fans nur umso gottgleicher. Bei seinen letzten Auftritten war seine Stimme noch mächtiger als sein Bauch, da weint man echte Tränen angesichts des Musikmessias, der sein Herz ausschüttet und das Kasino zur Kirche macht. Elvis ist der Prototyp des Rock’n’Roll: das Rauschhafte – wie im Gospel. Der Dreck des Deltas, des Blues. Sexuelle Befreiung. Kontroverse. Die Weltsicht der Leute verändern. Bei Elvis ist alles da.

Als ich 1968 das Comeback-Special sah, war ich gerade mal acht, noch nicht urteilsfähig – vielleicht ein Vorteil. Ich konnte die diversen Elvisse noch nicht verschiedenen Kategorien zuordnen oder mich in ihren Widersprüchen zurechtfinden. Es war nur einfach so ziemlich alles da, was ich von Bass, Gitarre, Schlagzeug verlange: ein Performer, den die Distanz zum Publikum nervt; eine Bühnenfigur, die das Weitwinkelobjektiv des Ruhms in ein Prisma verwandelt; eine Sexualität, die nur noch von seinem Dürsten nach Instruktionen Gottes übertroffen wurde.

Am schwersten zu erklären jedoch: der elastisch spastische Tanz – die Hüften, die von Europa bis Afrika schwingen, was, sag ich mal, Amerika auf den Punkt bringt. Für einen irischen Jungen mochte die Stimme den Sex-Appeal der USA erklären, aber wie er tanzte, das demonstrierte die brodelnde Energie dieser neuen Welt; wie sie überkochen und uns alle verbrühen würde mit neuen Ideen, neuen Auffassungen von Rasse, Religion, Mode, Love und Peace. Diese Ideen waren viel größer als der Mann, der ihnen den Weg ebnen sollte, Ideen, die den Mann später verwirren würden, ratlos machen, ihn, der die steife Oberlippe der Angelsachsen für immer kräuselte. Er war „Elvis the Pelvis“, das Becken, die Hüfte, eine Hand an der Blues-Elektrode, die andere am Gospel, was die Essenz des Rock’n’Roll ist, Elektroschocktherapie für eine Generation, Jungen wie Mädchen, Schwarze wie Weiße.

Ich traf mich kürzlich mit Coretta Scott King, John Lewis und einigen anderen Führern der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, und sie erinnerten mich an die kulturelle Apartheid, der sich der Rock’n’Roll damals gegenübersah. Ich glaube, der Berg, den sie zu besteigen hatten, wäre noch viel steiler gewesen ohne die Pfade, die die schwarze Musik durch die weiße Popkultur gebahnt hatte. Die Beatles, die Rolling Stones oder Creedence Clearwater Revival hatten den Blues allesamt durch Elvis entdeckt. Er tat längst, was die Bürgerrechtler forderten: Er riss Mauern nieder. Heute betrachtet man ihn nicht als politischen Künstler, aber das ist Politik: die Art und Weise verändern, wie Menschen die Welt sehen.

In den 80ern gingen U2 nach Memphis ins Sun Studio, Schauplatz des Rock’n’Roll-Urknalls. Wir arbeiteten mit Elvis’ Toningenieur Cowboy Jack Clement. Er machte das Studio noch mal auf, damit wir in denselben vier Wänden ein paar Tracks aufnehmen konnten, in denen Elvis „Mystery Train“ eingesungen hatte. Jack fand das alte Röhrenmikrofon, in das der King geheult hatte, und das Hallgerät war auch dasselbe. Der Raum war der reinste Tunnel, aber der Sound darin hatte so eine gewisse Klarheit. Man hört ihn auf den Sun-Platten, und das sind mir die wichtigsten. Der King wusste da noch nicht, dass er der King ist. Es ist gespenstische, getriebene Musik. Elvis weiß nicht, wohin der Zug mit ihm fährt, und deshalb wollen wir Passagiere sein.

Manche Kommentatoren sagen, es war die Armee. Andere glauben, Hollywood oder Las Vegas hätten ihn gebrochen. Ich denke, es waren viel eher seine Ehe oder seine Mutter. Vielleicht war es einfach der fette Arsch des Ruhms, der auf ihm saß. Ich halte die Vegas-Periode trotzdem für unterschätzt. Zu der Zeit hatte Elvis ganz klar die Kontrolle über sein Leben verloren, und da ist dieses unglaubliche Pathos. Die große Opernstimme der späteren Jahre. Warum nur wollen wir unsere Idole immer an ihrem selbst gezimmerten Kreuz sterben sehen? Andererseits: Elvis verschlang Amerika, bevor es ihn verschlang.

Photo of Bob DylanUNSPECIFIED – CIRCA 1970: Photo of Bob Dylan Photo by Michael Ochs Archives/Getty ImagesIM2. Bob Dylan

Von Robbie Robertson

Bob und ich kamen aus entgegengesetzten Richtungen. Als ich ihn zum ersten Mal hörte, spielte ich schon Rock’n’Roll in einer Band. Von Folk hatte ich wenig Ahnung. Und was er als Songwriter geleistet hatte, war mir noch überhaupt nicht klar. Ich weiß noch, wie mir jemand „Oxford Town“ aus „The Freewheelin’ Bob Dylan“ vorspielte, und ich dachte: „Irgendwas passiert da.“ Ich fand seine Stimme interessant.

Aber so richtig verstanden habe ich das erst, als wir zusammen spielten. Als Sänger hat er große Kraft, und er ist ein hervorragender musikalischer Schauspieler, mit vielen Charakteren in seiner Stimme. Ich konnte das Politische in seinen frühen Songs hören. Das ist etwas ungemein Aufwühlendes, wenn jemand mit solcher Kraft singt und dabei wirklich was zu sagen hat. Aber besonders fiel mir auf, wie sehr ihn die Straße beeinflusst hatte: aus Minnesota aufzubrechen, zu touren und nach New York zu kommen. Da steckte so eine Härte, eine toughness in der Art, wie er seine Songs und seine Figuren anging. Das war eine Rebellion gegen die Reinheit der Folkmusik. In Songs wie „Like A Rolling Stone“ oder „Ballad Of A Thin Man“, da wird nicht um den heißen Brei herumgeredet. Da rebellierte der Rebell gegen die Rebellion.

Ich merkte schnell, dass die Leute, mit denen Bob sich umgab, keine Musiker waren. Es waren Dichter. Allen Ginsberg etwa. Bobs Texte waren vor allem von literarischen Vorbildern beeinflusst, und so kam es, dass er Bilder verwendete, die es in der Tin-Pan-Alley-Tradition und auch im Rock’n’Roll nicht gab. Ich sah ihn bei diesen akustischen Auftritten 1965 und 1966 „Desolation Row“ und „Mr. Tambourine Man“ singen und konnte gar nicht fassen, wie viel dieser einzelne Mann nur mit einer Gitarre und einer Mundharmonika um den Hals rüberbringen konnte.

Als er und ich 1966 nach Nashville gingen, um an „Blonde On Blonde“ zu arbeiten, da sah ich das erste Mal einen Songwriter auf einer Schreibmaschine schreiben. Wir waren im Studio, er musste noch ein paar Texte zu den Songs, die wir aufnehmen wollten, überarbeiten, und ich hörte immer seine Schreibmaschine – klick, klick, klick, drrinngg – in einem Affentempo. Er schrieb diese ganzen Sachen so schnell – es gab so viel zu sagen. Und während einer Session veränderte er dann noch vieles. Das war noch so was, was er mir früh beibrachte. Die Hawks waren Bandmusiker. Wir wollten wissen, wo ein Song langgeht, was die Akkorde waren, wann die Bridge kommt. Bob dagegen hatte es nie so mit dem Proben. Er hatte ja immer allein gespielt. Und wenn wir dann einen Song mit ihm einstudierten und fragten: „Wie hören wir auf? Wie geht der Schluss?“, da sagte er nur: „Na ja, wenn’s zu Ende ist, ist es zu Ende. Wir hören einfach auf.“ Also lernten wir, permanent auf alles gefasst zu sein. Wir dachten: „Okay, hier kann jeden Moment was ganz anderes passieren – und ich bin bereit.“

Das Wichtigste aber, was ich für mein eigenes Songwriting von Bob lernte, ist, dass man die traditionellen Regeln ruhig brechen kann: Wie lang ein Song sein darf, wie viel Fantasie beim Erzählen der Geschichte erlaubt ist. Es war toll, dass da jemand die Zäune eingerissen hatte, dass es unbegrenzte Möglichkeiten gab. Übrigens muss man, wenn man so schreibt wie er und so viele Ideen in so einprägsame Melodien packt, als Sänger sehr gut phrasieren. Seine Art der Gesangsphrasierung war wirklich speziell. Er konnte seine Figuren und Bilder auf eine Art rüberbringen, die überhaupt nicht bemüht oder gekünstelt wirkte, sodass es sich musikalisch gut anfühlte und man einfach mitgehen konnte, ohne das Ganze je infrage zu stellen. Und er hatte oft eine Attitüde in der Stimme, die für eine bestimmte Platte genau passte. Ich weiß noch, wie er mir „Nashville Skyline“ vorspielte und wie ich staunte, was er da wieder für einen Charakter aus dem Hut gezaubert hatte.

Ich glaube, Bob liebt die Herausforderung. Er sucht immer nach Ideen, nach etwas, was ihn weitermachen lässt. Die Songs, die er heute schreibt, sind keinen Deut schlechter als die alten. Es steckt so eine wunderbare Ehrlichkeit darin. Wir verbrachten in den 70ern viel Zeit zusammen. Wir lebten beide in Malibu und wussten jeder vom anderen, wie dessen Alltag aus sah. Und ich weiß, dass „Blood On The Tracks“ reflektiert, was damals in seinem Leben passierte. Wenn er Songs schreibt, dann erzählt er mir Sachen über sich, er hält einen Spiegel hoch – und ich sehe alles ganz deutlich, so wie ich’s nie zuvor gesehen habe.

Bob ist auf jeden Fall ein sehr guter Gradmesser für jeden jungen Sänger und Songwriter. Wer glaubt, er habe gerade was richtig Gutes geschrieben, der sollte sich einen von Bobs Songs anhören. An ihm wird man gute Sachen immer messen können. Viel mehr kann man nicht erreichen.

Happy Hearts Club19th May 1967: The Beatles celebrate the completion of their new album, ‚Sgt Pepper’s Lonely Hearts Club Band‘, at a press conference held at the west London home of their manager Brian Epstein. The LP is released on June 1st. (Photo by John Pratt/Keystone/Getty Images)IM1. The Beatles

Von Elvis Costello

Mit neun hörte ich zum ersten Mal von ihnen. Ich verbrachte meine Ferien meistens an der Merseyside, und ein Mädchen dort zeigte mir ein unscharfes Pressefoto, auf dessen Rückseite ihre Namen gekritzelt waren. Das war 1962 oder ’63. Die Aufnahme war schlecht ausgeleuchtet, und ihr Look stimmte noch nicht ganz: Ringo hatte sein Haar ein bisschen zurückgekämmt, als wäre er von der Beatles-Frisur noch nicht recht überzeugt. Mir war das egal – das war die Band für mich. Und meine Erlebnisse – ein neues Foto von ihnen zu entdecken, Geld für Singles und EPs zu sparen, eine Meldung über sie in den Nachrichten mitzukriegen – wiederholten sich millionenfach rund um den Globus. In diesem Ausmaß hatte es so was noch nie gegeben. Aber es waren keineswegs nur die Zahlen – Michael Jackson kann bis zum Jüngsten Tag Platten verkaufen, aber er wird den Menschen nie so viel bedeuten wie die Beatles.

Jede Platte, die erschien, war ein Schock. Anders als wilde R&B-Evangelisten, wie die Rolling Stones, klangen die Beatles schlicht unvergleichlich. Sie hatten Buddy Holly, die Everly Brothers und Chuck Berry aufgesogen, aber sie schrieben auch eigene Songs. Das hatte es bis dahin kaum gegeben; durch sie wurde es zur Norm. John Lennon und Paul McCartney waren Ausnahme-Songwriter; McCartney war und ist als Musiker ein echter Virtuose; George Harrison war zwar nie die Sorte Gitarrist, die einem blendende Soli um die Ohren haut, aber man kann die Melodien fast aller seiner Breaks singen. Und sie passten immer perfekt ins jeweilige Arrangement. Ringo Starr trommelte mit einem einzigartigen Feeling, das bisher noch keiner kopieren konnte, auch wenn es viele gute Schlagzeuger versucht haben. Und das Wichtigste: John und Paul waren fantastische Sänger. Lennon, McCartney und Harrison schrieben Songs auf einem beeindruckend hohen Niveau. Die veröffentlichten Songs wie „Ask Me Why“ oder „ Things We Said Today“ als B-Seiten, das muss man sich mal vorstellen. Und so fantastische Singles, wie „Paperback Writer“ mit einer flipside wie „Rain“ oder „Penny Lane“ mit „Strawberry Fields Forever“ kamen wirklich nur als Singles raus, die Songs erschienen auf keiner LP. Diese Platten waren echte Ereignisse, nicht nur Teaser fürs kommende Album. Dann wurden sie richtig erwachsen.

Erst schlichte Lovesongs, dann Erwachsenengeschichten wie „Norwegian Wood“ – über die sauren Seiten der Liebe –, dann größere Themen, die man in Poptexten nicht erwartete. Sie waren auch so ziemlich die erste Popband, die sich mit der akustischen Dimension ihrer Aufnahmen auseinandersetzte. Hervorragende Toningenieure in den „ Abbey Road“-Studios wie Geoff Emerick dachten sich Methoden aus, die wir heute ganz normal finden, wenn’s um die Umsetzung musikalischer Ideen geht. Vorher gab es keine Rockmusiker, die ganz bewusst ein Arrangement aus dem Gleichgewicht kippten – zum Beispiel durch leisen Gesang zu einem lauten Playback wie in „ Strawberry Fields Forever“. Man kann gar nicht überschätzen, welche Freiheiten das den Nachkommenden eröffnete, von Motown bis Hendrix.

Meine Lieblingsalben sind ganz klar „Rubber Soul“ und „Revolver“. Auf beiden hört man Referenzen an andere Musik – R&B, Dylan, Psychedelia –, aber nie vordergründig und nie so, dass die Platten deswegen zeitgebunden klängen. Man musste „Revolver“ nur in die Hand nehmen und wusste, das ist etwas Besonderes. Müsste ich einen Lieblingssong aus diesen Alben wählen, dann wäre es „And Your Bird Can Sing“… nein, „Girl“… nein, „For No One“ … und so weiter und so weiter. Die Songs auf ihrem Trennungsalbum „Let It Be“ sind teils unausgegoren, teils großartig. Ich denke, Ehrgeiz und menschliche Fehler kriechen irgendwann in jede Band, aber die Beatles haben bis zuletzt ein paar unglaubliche Performances hinbekommen. Ich weiß noch, wie ich mir in einem Kino am Leicester Square 1970 „Let It Be“ ansah. Hinterher war mir ganz melancholisch zumute.

Ich hab einige Songs mit Paul McCartney zusammen geschrieben und zweimal mit ihm live gespielt. 1999, kurz nach Linda Mc-Cartneys Tod, fand das „Concert For Linda“ statt. Bei den Proben gab Paul das nächste Stück „All My Loving“ vor. Ich sagte: „ Soll ich beim zweiten Durchgang die Chorstimme singen?“ Und er sagte: „Ja, probier’s einfach mal.“ Es wurde eine sehr rockige Version. Im Konzert selbst lief es dann ganz anders. Sobald er die ersten Zeilen sang – „Close your eyes, and I’ll kiss you“ –, reagierte das Publikum so heftig, dass man die Musik fast nicht mehr hörte. Vielleicht verstand ich in dem Moment, warum die Beatles damals aufhören mussten, live zu spielen. Die Songs waren nicht mehr ihre. Sie gehörten allen.

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