Die 100 größten Musiker aller Zeiten: Die Essays Platz 30 bis 21
ROLLING STONE präsentiert: Die 100 größten Musiker und Bands aller Zeiten. Essays u.a. von Chris Martin, Moby, Eddie Vedder, The Edge.
Rund 50 Jahre nachdem Elvis in den Sun-Studios „That’s All Right“ einspielte, hat der ROLLING STONE das erste halbe Jahrhundert des Rock’n’Roll im großen Stil gefeiert. 2004 baten wir ein Gremium aus 55 Musikern, Autoren und Plattenfirmen-Managern, die einflussreichsten Musiker dieser Ära auszuwählen. Die Liste der 100 Musiker, die 2011 aktualisiert wurde, ist ein Beitrag zur Rock-Historie. Sie umfasst die Beatles ebenso wie Eminem. Sie reicht vom Rock-Pionier Chuck Berry bis zum Blues-Mann Howlin’ Wolf.
Die Essays über die 100 Besten stammen aus prominenter Feder: Ezra Koenig von Vampire Weekend zollt dem Rapper Jay-Z Tribut. Britney Spears verneigt sich vor „Godmother“ Madonna. Rock’n’Roll hat eine glorreiche Vergangenheit.
Lesen Sie hier, die Plätze 30 bis 21.
Nirvana Nevermind Krist Novoselic, Dave Grohl und Kurt Cobain auf einem Promotionfoto, kurz vor der Veröffentlichung von „Nevermind“ im September 1991. Nirvana Nevermind Universal 30. Nirvana
Von Vernon Reid
Bei mir waren Nirvana eine klassische Plattenladen-Entdeckung. So was passiert einem ja immer seltener. Ich war im Rocks In Your Head in New York und fragte die Frau hinter dem Tresen: „Was gibt’s denn Neues?“ Sie legte „Smells Like Teen Spirit“ auf. Ich dachte: „Wow. Da hat’s jemand geschafft, Metallica und R.E.M. zu kombinieren.“ Der Begriff „Grunge“ war mir fremd, und ich wusste nicht, dass das ein Phänomen werden würde. Ich wusste nur, dass ich was Wichtiges hörte. Richtig große Musik. Mein Lieblingslied auf „Nevermind“ war „Lithium“. Kurt Cobain sprach etwas in der Kultur an, was noch keiner vor ihm so ausgedrückt hatte: leidenschaftliche Ambivalenz. „I’m so ugly, but that’s okay/ ’Cause so are you.“ Er brachte auf den Punkt, welche extremen Gefühle es auslösen konnte, keine Gefühle zu haben.
Cobain lenkte die Musik auf ganz neue Wege. Menschen, bei denen man zusehen kann, wie die Achse der Musikgeschichte sich um sie dreht, gibt es nur sehr selten. Hendrix war maßgeblich, Prince war maßgeblich, Cobain auch. Obendrein war er ein hervorragender Gitarrist. Ich hab das mal zu einem Joe-Satriani-Fan gesagt, und den machte das richtig wütend. Aber man kann Cobain nicht gleichzeitig für einen großen Songwriter und einen nur durchschnittlichen Gitarristen halten – weil er ohne die Gitarre diese Songs nicht geschrieben hätte. Sein Spiel durch den Big-Muff-Verzerrer, das kannst du nicht abziehen,das war essenziell für seine Musik, und seine geänderten Tunings waren unglaublich einflussreich.
Denke ich an Nirvana, dann denke ich auch an die Bad Brains, die Sex Pistols. Alle diese Bands waren radikal undeigenwillig und abseitig, aber ihre Songs sind unglaublich melodisch. Auf „Mistaken Identity“, meinem ersten Soloalbum nach der Auflösung von Living Colour, gibt es ein Stück, das heißt „Saint Cobain“. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem ich von seinem Selbstmord erfuhr. Ein so immenser Erfolg, wie ihn Nirvana erlebten, wirkt traumatisch.
Und noch etwas ist ihm passiert, was in meinen Augen eine Schande war: Wegen des Erfolgs von Nirvana musste er sich immer gegen den Vorwurf verteidigen, er hätte sich verkauft, und diesen Anschein von makelloser Reinheit wieder herstellen. Wenn’s um einen Smaragd oder einen Diamanten geht, da kann man von Reinheit reden. Aber bei Menschen – das haut nicht hin. Das ist gefährlich. Denkt doch mal: künstlerische Reinheit. Rassische Reinheit. Obwohl ich glaube, dass Cobain auf gewisse Art und Weise tatsächlich perfekt war: Er war perfekt fehlerhaft.
who_jpg.jpg 29. The Who
Von Eddie Vedder
The Who begannen als Spektael und dann wurden sie spektakulär. Anfangs wollte die Band einfach alles kurz und klein schlagen; später, auf Alben wie „Tommy“ und „Quadrophenia“, verbanden sie diese rohe Energie mit Präzision und mit dem Ehrgeiz, groß angelegte musikalische Experimente durchzuziehen. Sie fragten sich: Was sind die Grenzen des Rock’n’Roll? Hat Musik wirklich die Kraft zu verändern,wie Menschen fühlen? Pete Townshend erkannte eine spirituelle Qualität in der Musik.
Sie waren eine unglaublich gute Band, deren Hauptsongwriter nun mal auf der Suche nach Harmonie und Sinn in seinem Leben war. Auf diese Reise nahm er die Zuhörer mit, er inspirierte andere dazu, ihren eigenen Weg zu suchen – und stand gleichzeitig im Guiness-Buch der Rekorde. Die lauteste Band der Welt.
Ich maße mir einmal an, für alle Who-Fans zu sprechen, wenn ich sage, dass es mein Leben unermesslich bereichert hat, ihr Fan zu sein. Und beunruhigt hat es mich auch: Sie traten jede Tür des Rock’n’Roll ein und hinterließen uns anderen nur Trümmer – da blieb nicht mehr viel, was wir als etwas Eigenes beanspruchen konnten. Sie gaben sich am Anfang arrogant, auch als sie noch, wie Pete selbst sagt, „eigentlich eine ganz gewöhnliche Band“ waren. Sie wurden dann immer besser, aber die Attitüde blieb. Diesen Faden nahmen viel später dann die Punks wieder auf.
The Who wollten lauter sein, also ließen sie Jim Marshall den 100-Watt-Verstärker entwickeln. Das reichte immer noch nicht, also stapelten sie die Dinger. Es heißt, das erste Gitarrenfeedback, das es auf Platte gab, finde sich in „Anyway, Anyhow, Anywhere“ von 1965. The Who erzählten Geschichten innerhalb der Grenzen eines Songs, und im Verlauf eines Albums sprengten sie diese Grenzen. Konnte man eine noch größere Geschichte erzählen? Was war überhaupt möglich? Und wie konnte man sie einem großen Publikum vermitteln – als es noch keine Videowände gab? Die Instrumente zertrümmern? Keith Moon sagte in einem Interview, sie wollten das Publikum bei den Eiern packen. Pete verwies dagegen lieber auf die autodestruktive Kunstbewegung in Deutschland – Skulpturen, die schnell zusammenbrachen, explodierende Installationen: Genauso sei auch das, was The Who machten, Kunst.
Ich war ungefähr neun, als ein Babysitter bei mir zu Hause „Who’s Next“ auflegte. Die Eltern waren weg. Die Fensterscheiben klirrten. Die Regale wackelten. Rock’n’Roll. Ab da erkundete ich eine Musik, die Seele hatte, in der Rebellion steckte, Aggression, Leidenschaft. Zerstörung. Das alles war Who-Musik. Da gab’s die Mittsechziger Maximum-R&B-Periode: Miniopern, Woodstock, Soloalben. Man stelle sich vor, wie das ist, wenn man als Kind „Live At Leeds“ begegnet, dieser Lokomotive von einer Platte. „Hi, ich heiße Eddie, ich bin zehn Jahre alt, und ich lass mich grade komplett wegblasen.“ The Who auf Platte waren dynamisch. Roger Daltrey sang verletzlich, aber ohne Schwäche, Zweifel oder Verwirrung. Es war kein Plädoyer für Mitleid. Ihr solltet euch unbedingt Rogers Gesang in „Lubie (Come Back Home)“, einem Bonus-Track auf dem ersten Album „My Generation“, anhören. Da läuft er zu Höchstform auf.
Sehr wahrscheinlich sind sie bis heute die beste Liveband. Selbst Listenfanatiker, Punklegende und Musikhistoriker Johnny Ramone war da mit mir einer Meinung. Man kann Keith Moon und sein Spiel nicht erklären. John Entwistle war ein Rätsel für sich, noch so eine virtuose Ausnahmeerscheinung. Roger verwandelte sein Mikro in eine Waffe, scheinbar zum Selbstschutz. Derweil stürzte sich Pete ins Getümmel und schwang seine 70er-Jahre-Les-Paul – und das ist eine verdammt schwere Gitarre.
Als Liveband erzeugten sie Bewegung, alles war in Fahrt, und das Ritual des Spielens schien sie zu befreien. Kürzlich sah ich Pete in Chicago Töne aus seiner Gitarre quetschen, wie ein Mechaniker Öl aus einem Lappen wringt. Ich sah zu, wie die Gitarre zum Leben erwachte, ein Lebewesen, das verprügelt und gewürgt wird. Als Pete sie ablegte, ich schwöre, sie wirkte erleichtert. Eine Stratocaster voller Schweiß.
John und Keith machten The Who zu dem, was sie waren. Roger war der Fels. Und Pete ist bis heute einer der wenigen Rockikonen, die viel mitgemacht und trotzdem überlebt haben. Er erkannte, dass man als Rock’n’Roll-Celebrity vom Publikum die Rolle verliehen bekommt, frei nach dem Motto: „Wir bezahlen dich, damit du uns unterhältst.“ Aber er stellte auch fest, dass die Meinung des Publikums umschlagen konnte in: „Wenn wir mit dir fertig sind, werden wir dich durch jemand anderes ersetzen. Für mich werden The Who immer unersetzlich bleiben.
The-Clash_the-Clash.jpg 28. The Clash
Von The Edge
Tausende Garagenbands in ganz Irland und Großbritannien sind nur wegen The Clash entstanden. Sie live zu sehen war für U2 und viele andere aus unserer Generation ein Ereignis, das unser Leben verändert hat. Man kann’s nicht anders beschreiben.
Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie ich The Clash das erste Mal sah. Das war im Oktober 1977 in Dublin. Sie tourten mit ihrem ersten Album und spielten in einem 1200 Leute fassenden Saal im Trinity College. Dublin hatte so was noch nie erlebt Der Auftritt schlug mächtig Wellen, und ich treffe heute noch Leute – DJs oder Musiker –, die im Musikbusiness sind, weil sie dieses Konzert gesehen haben.
U2 waren damals noch eine ganz junge Band. Und völlig von den Socken. Wir fragten uns: Warum machen wir Musik?
Worum zum Teufel geht’s dabei überhaupt? Die Mitglieder von The Clash waren ja wahrlich keine Weltklassemusiker, aber Krach schlagen, das konnten sie, das war unüberhörbar – die pure, körperliche Energie, die Wut, die Überzeugung. Sie waren in jeder Hinsicht ungehobelt, und sie machten keinen Hehl draus, dass es ihnen um viel mehr ging als um präzises Spiel und sauber gestimmte Instrumente. Das war nicht nur Entertainment Es ging um Leben und Tod. Durch sie konnten auch wir uns ernst nehmen. Ich glaube, wir wären kaum die Band geworden, die wir sind, hätten wir nicht dieses Konzert und diese Band erlebt. Sie zeigten uns, was man brauchte. Und es ging allein ums Herz.
Die sozialen und politischen Themen der Songs waren sehr inspirierend – für U2 jedenfalls. Es war ein Weckruf: Macht euch schlau, regt euch auf, werdet politisch und dann sprecht es aus, und zwar laut. Wobei interessant ist, dass die Clash-Mitglieder total unterschiedliche Typen waren. Paul Simonon kam von der Kunstschule und Joe Strummer aus einem Diplomatenhaushalt Aber man spürte deutlich, dass sie Waffenbrüder waren. Sie waren sich total einig, sie schimpften über Ungerechtigkeit, auf ein System, das sie einfach gründlich satt hatten. Und von dem sie fanden, es müsse weg.
Ein Jammer, dass es The Clash nicht länger gab. Ihre Musik ist zeitlos. Es steckt so viel Kampfgeist drin, so viel Seele, dass sie einfach nicht altert. Man hört sie heute noch in Green Day und No Doubt, Nirvana und den Pixies, und natürlich in U2. Bei The Clash hatte man nie das Gefühl, dass sie mal den Gang rausnahmen. Sie meinten es ernst. Das hört man.
100-Saenger-10.jpg Top 100 der besten Sänger Top 100 der besten Sänger Platz 10: Prince (c) Sony Music 27. Prince
Von Ahmir Thompson
Prince war in unserem streng christlichen Haushalt verpönt. Er lag irgendwo zwischen Richard Pryor – den wir auf gar keinen Fall hören durften – und ’nem Stapel Pornohefte. In der Junior Highschool steckten meine Eltern immer 30 oder 40 Dollar in einen Umschlag, dafür kaufte ich mir dann eine Karte, mit der ich den ganzen Monat in der Schule essen konnte. Im November 1982 nahm ich meine 36 Dollar und kaufte „1999“, „What Time Is It?“ von The Time und „Vanity 6“. Dafür hab ich den ganzen Monat gehungert.
„Little Red Corvette“ war einer der ersten „schwarzen“ Songs, die regelmäßig auf MTV gespielt wurden. Prince überschritt damals ständig solche Grenzen. In den ersten fünf Songs auf „Sign O’ The Times“ hüpft er leichtfüßig von James Brown über Joni Mitchell und Pink Floyd zu den Beatles und Curtis Mayfield, ohne dabei irgendwie seine Identität aufzugeben. Doch der wahre Höhepunkt war „Purple Rain“, nicht nur in Princes Karriere, sondern für das Lebensgefühl der Schwarzen oder die Art, wie man sie wahrnahm – in den 80ern überhaupt. Es war so wie bei Michael Jordans Meisterschaftsspielen 1997: Er war einfach absolut zielsicher, jeder Ball ging in den Korb.
„When Doves Cry“ ist einer der radikalsten Nummer-eins-Hits der letzten 20 Jahre, ein Song ohne Basslinie und fast ohne Musik. Heute schwärmen sehr viele Leute von den Neptunes: „Oh Mann, das ist total neu!“ Doch das ist es eben nicht. „When Doves Cry“ hat den Eine-Note- Funk der Neptunes vorweggenommen, ein Meisterwerk von einem Song mit Drum-Machine und sehr wenig Melodie. Jeder über 30, der sich „8 Mile“ anschaute, sagte als Erstes: „Oh, der Film gefiel mir schon in der Originalversion. Da hieß er jedoch ‚Purple Rain‘.“
Prince muss einer der Musiker mit den meisten Bootlegs in der Rockgeschichte sein – ich höre mir fast jede Woche ein Bootleg an, das „The Dream Factory“ heißt und aus dem später „Sign O’ The Times“ wurde. Seine Fähigkeit, spontan etwas Neues zu schaffen, ist umwerfend. Er setzt Ideen in Echtzeit um wie ein HipHop-Freestyler. Total überzeugend. Es muss mindestens 20 Gründe geben, warum Prince eigentlich der Urvater des HipHop ist – sein Genie, die Art, wie er Sex einsetzt, und die bewusste Provokation. Ich glaube, noch nie hat jemand so viel Sex benutzt, um den Fuß in die Tür zu kriegen und vom Mainstream akzeptiert zu werden. Was mag er wohl 1980 gedacht haben, als er in Unterhosen, Leg-Warmern und Stöckelschuhen auf der Bühne stand, ohne Nummer-eins-Hit? Das war ein Risiko. Jay-Z redet oft davon, dass er den Ghostwriter für andere macht. Prince ist berüchtigt für Ghostwriting. Und nicht nur das, er erfand verschiedene Alias- Persönlichkeiten für sich – auch etwas, das Rapper übernommen haben.
Als ich Prince 1996 traf, erwartete ich die Grashüpferstimme, mit der er immer bei Preisverleihungen spricht, aber er war total normal. Wie du und ich, nur dass er Prince ist. Wir haben ein paar Mal zusammen gespielt. Der tollste Moment war nach einem Konzert in New York, als er, ich und D’Angelo zusammen auf die Bühne stiegen und eine halbe Stunde oder so jammten.
Sein Schweigen in den letzten Jahren machte mir Sorgen. Es ist eine Schande, dass er den Kampf um Unabhängigkeit von den Labels – ein Kampf zwischen David und Goliath – alleine kämpfen musste. Doch bei seinem Auftritt mit Beyoncé bei den Grammys 2004 hat man deutlich gesehen, dass er nichts verlernt hat Er wirkte so jung und souverän wie immer. Falls ihn jemand schon ausgezählt haben sollte – dieser Typ hat definitiv noch Trümpfe im Ärmel!
ME-ART-PIC-1978-02-036-002 Ramones – Rocket To Russia Ramones – Rocket To Russia 26. The Ramones
Von Lenny Kaye
Jede Rock’n’Roll-Generation muss daran erinnert werden, warum sie zur Gitarre gegriffen hat, und vier Nicht-Brüder aus dem Stadtteil Queens hatten ein Rezept dafür, das fast schon zu perfekt war. Ihr Look – zerrissene Jeans, enges T-Shirt, hohe Turnschuhe, Topffrisur und schwarze Lederjacke – war eine Cartoonausgabe des toughen Rockmusikers. Als sie anfingen, spielten sie nur, was sie konnten. Das war nicht gerade viel, aber sie machten sich’s zum Vorteil.
Sie setzten auf Tempo statt Raffinesse, und mit ihren rotierenden drei Akkorden schlitterten sie Kopf voraus durch die schlichten Parolen ihrer Mitsing-Refrains. Sie stellten sich schamlos gegen die vertrackten Kopfgeburten des Progressive die langen Solos, die Tolkien-Texte, die symphonischen Synthesizer. Keine Experimente, kein Stilmix, oh nein, die Ramones waren rein und unverfälscht. Ihre Einzelkind -Geschwisterrivalität funktionierte wie eine Reality-TV-Show, Abspann nach einer halben Stunde, Gelächter aus Rock, der Konserve. Johnny war der ernste große Bruder, diszipliniert und soldatisch, Dee Dee war der Ramone, der mit einem rausging zur Ecke 53rd/3rd; Tommy war der Produzent, der die Schleichwege des Musikbusiness kannte – und der wusste, dass man einen tollen Song vom Schlagzeug her aufbaut. Und Joey war das Herz.
Die Ramones hatten ihr Ding so gut drauf, dass sie es in den zwei Jahrzehnten, nachdem sie 1975 ihr CBGB-Nest verlieflen, nur marginal veränderten. Sie waren leicht verständlich, leicht zu übersetzen. Als sie am Unabhängigkeitstag 1976 nach England kamen und die British Invasion in einem lustigen Zerrspiegel dankend erwiderten, da war die Form klar, Punkrock und Anarchie ineinander verstrickt, ein Frontalangriff auf die Here-we-go-again-Popsubkultur. Die Ramones glaubten immer an ihre musikalische Botschaft: Mach’s selber.
Wenn ich an einen echten Ramones-Moment zurückdenke, dann fällt mir ein Spätnachmittag im Mai in New England ein. Ich stehe backstage mit Johnny und wir reden über nichts anderes als Gitarren und die Red Sox. Plötzlich wird die Unterhaltung unterbrochen, und wir blicken uns nur um, ganz still inmitten des elektrischen Lärms, und sehen, wohin der Rock’n’Roll uns gebracht hat an diesem Nachmittag, an dem wir wieder mal die Musik spielen, die wir lieben.
fatsdomino.jpg Fats Domino Blueberry Hill Artwork Fats Domino Blueberry Hill Artwork Brisa 25. Fats Domino
Von Dr. John
Nach Lennon und McCartney waren Fats Domino und sein Partner Dave Bartholomew wohl das beste Songwriterteam der Rockgeschichte. Sie hatten immer eine einfache Melodie, ein paar gewitzte Changes und einen coolen Groove. Und immer ganz simple Lyrics, das ist am wichtigsten. Keine abgründigen Plots, nicht bei Fats Domino: „Yes, it’s me, and I’m in love again/ Had no lovin’ since you know when/ You know I love you, yes I do/ And I’m savin’ all my lovin’ just for you.“ Einfacher und direkter geht’s nicht.
Selbst wenn Fats Domino Songs von anderen sang, war das am Ende immer: Fats. Was vielen entgeht, und was er bei seinen bekanntesten Platten – etwa „Blueberry Hill“ – oft gemacht hat: Er konnte Rolls mit beiden Händen spielen. Es gab ein paar Leute, Allen Toussaint zum Beispiel, die konnten Fats aufs Haar kopieren – aber nicht diese Rolls. Wie auch bei Thelonious Monk: Da hört man auch immer, ob es Monk selbst ist oder jemand, der versucht,
so zu spielen wie Monk. Ich bin sicher: Als sie 1956 „Blueberry Hill“ aufnahmen, kannte keiner der Musiker die Harmonien zur Bridge des Songs. „The wind in the willow played love’s sweet melody/ But all of the vows you made were never to be.“ Auch Fats wusste die Akkorde nicht, und die Jungs in der Band dachten sich ein wunderbares Riff aus. Er spielte die falschen Akkorde, aber sie passten perfekt, und sie groovten. Das tat er ohnehin immer, mit noch so großen Songs anderer Leute: Er änderte einfach die Akkorde, wie’s ihm gefiel. Manchmal waren es nicht mal dieselben, die die Band spielte.
Auf manchen seiner frühen Aufnahmen ist der Bass kaum zu hören. Später doppelten sie die Basslinie mit der Gitarre, das ergab einen sehr typischen Sound. Und wurde später für Phil Spector zum Standard.
Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich für eine Session engagiert war und gebeten wurde, „wie Fats“ zu spielen. Unzählige Bands quer durch die Südstaaten mussten Songs von Fats Domino bringen. Jede. Überall. Dadurch verbreitete sich sein Einfluss natürlich auch. Fats ist old school to the max – er liebte es, vor Publikum zu spielen, die Leute zu gewinnen, er spielte lange Konzerte und schob das Klavier mit dem Bauch über die Bühne. Er wohnt immer noch im selben Haus, in dem er aufwuchs, natürlich inzwischen seinem Geschmack nach eingerichtet und umgebaut. Seiner Familie hat er nebenan ein wunderschönes Haus hingestellt. Diese Unschuld ist auch in seiner Musik.
Als die ganzen Payola-Skandale passierten und es für den Rock’n’Roll gar nicht gut aussah, gab Fats ein Interview. Er sagte: „Ich weiß gar nicht, woher plötzlich das Gerede kommt, wir hätten einen schlechten Einfluss auf die Teenager. Ich spiele doch nur die gleiche Musik, die ich immer schon gespielt habe.“ So war Fats. Er betrachtete das, was er tat, nicht als was Besonderes. He just did what Fats did.
GRAMMYS Music legend and lifetime achievement award winner Jerry Lee Lewis poses for photographers at the 47th Annual Grammy Awards on Sunday, Feb. 13, 2005, at the Staples Center in Los Angeles. (AP Photo/Reed Saxon) picture alliance 24. Jerry Lee Lewis
Von Moby
Ich wüsste zu gerne, wie viele Klaviere Jerry Lee Lewis in seinem Leben verbraucht hat. Wer immer in den Sun Studios dafür zuständig war, das Piano zu stimmen und zu reparieren, muss jedes Mal in Tränen ausgebrochen sein, wenn Jerry Lee zum Spielen kam. Ein Klavier hat ja so etwas Konservatives, Gesetztes, und es ist im Lauf der letzten 20 Jahre fast ganz aus dem Rock’n’Roll verschwunden. Aber wie er es spielte, das war so wahnsinnig perkussiv. Man hört, wie die Hämmer an die Saiten knallen. Er verwandelte sein Klavier in ein Orchester. Er hatte diese stabilen Basslinien und umwerfenden Soloparts, alles immer messerscharf im Timing.
Ob Jerry Lee Lewis, Little Richard oder Gene Vincent – diese Jungs versprühten Anarchie und Sex. Sie lassen sich völlig gehen auf ihren Platten, zumindest klingt’s so. Als hätten sie jede Hoffung auf kommerziellen Erfolg oder auch nur Anerkennung aufgegeben und wollten einfach nur noch verrückte Musik spielen und vögeln. Das ist es, was mich so fasziniert: Wie Jerry Lee sich der libidinösen Energie überließ, mehr als es je ein weißer Musiker getan hatte.
Sexy zu sein ist den meisten Künstlern heute einfach ein Mittel, Platten zu verkaufen. Jerry Lee sehe ich eher in der Tradition von Iggy & The Stooges oder Black Flag. Da war auch dieses Chaos ohne Konsequenzen. Ich höre Jerry Lee auch in „Whole Lotta Love“ von Led Zeppelin, in „Anarchy In The UK“ von den Sex Pistols oder „It Takes A Nation Of Millions To Hold Us Back“ von Public Enemy.
Hätte ich eine Tochter, ich würde sie nicht mit einem Musiker ausgehen lassen, weil die meisten von ihnen einfach strohdumm sind. Käme Jerry Lee Lewis zum Essen, würde ich sie buchstäblich wegsperren. Die Geschichte, wie er seine 13-jährige Cousine heiratete, ist unerträglich traurig. Er durfte sich nie auf den Thron setzen, der ihm zustand. Und das Klavier verschwand, weil es zu groß war. Das Schöne an der E-Gitarre ist ja, dass sie klein, tragbar und laut ist.
Wenn ihr Jerry Lee Lewis wirklich verstehen wollt, besorgt euch einen Auftritt von ihm auf Video und seht, wie er „Great Balls Of Fire“ spielt. Es ist purer, narkotischer, aufregender Rock’n’Roll. Kostbare Momente, die selten geworden sind.
RS-ART-PIC-2007-10-093-001 Bruce Springsteen – Magic Bruce Springsteen – Magic 23. Bruce Springsteen
Von Jackson Browne
Bruce Springsteen ist in vielerlei Hinsicht die Verkörperung des Rock’n’Roll. Er verbindet Hillbilly-Musik, Rockabilly, Blues und R&B, und seine Musik repräsentiert die ureigensten Werte des Rock’n’Roll: Leidenschaft, das Bedürfnis nach Freiheit und die Suche nach sich selbst. In allen seinen Songs findet man eine Bereitschaft, selbst die einfachsten Aspekte des Lebens auf eindringliche und dramatische Weise zu porträtieren. Das erste Mal habe ich ihn in einem kleinen Club gehört, dem Bitter End in New York, wo er einen Gastauftritt hatte.
Ich fragte ihn, woher er käme, und er grinste ein bisschen und meinte, aus New Jersey. Damals machte man Witze über New Jersey. Die Leute von dort galten als nicht besonders helle. Das nächste Mal sah ich ihn dann schon mit seiner Band, in der David Sancious spielte. So was hatte ich noch nie erlebt. Er spielte akustische Gitarre und tanzte über die Bühne, und die Gitarre war nirgendwo eingestöpselt. Für ihn war es nicht so wichtig, dass man jede Note hören konnte. Sein Zugang zur Musik war Drama. Ein Jahr später sah ich ihn in L.A. mit Max Weinberg, Clarence Clemons und Steve Van Zandt in der Band. Das war noch dramatischer – wie sie die Scheinwerfer einsetzten und alles auf die Bühne brachten. Als ich am zweiten Abend wiederkam, erwartete ich, noch einmal dasselbe zu sehen, aber es war komplett anders. Am tollsten war, dass sie selbst so viel Spaß hatten. Sie waren eine Bruderschaft, Außenseiter, die unglaubliche Kraft besaßen und eine Geschichte im Gepäck hatten, die erzählt werden musste.
Bruce hat sich nie davor gescheut, erwachsen zu werden. Er ist Familienvater mit Kindern und denselben Werten und Sorgen wie die amerikanische Arbeiterklasse. Das zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk, der Wunsch, diesen einen Menschen zu finden und zusammen mit ihm durchs Leben zu gehen. Hör dir „Rosalita“ an. Ihre Mutter mag ihn nicht, ihr Vater kann ihn nicht ausstehen, aber er ist gekommen, um sie zu holen. Oder „The River“ – für diejenigen von uns, die mit Heirat nicht viel am Hut haben, wird der Kampf um Liebe in einer vergänglichen Welt von diesen beiden Menschen symbolisiert, die da nachts in den Fluss springen. Bruces Songs sind voll von solchen Bildern.
Bruce hat alle möglichen Einflüsse, von Chuck Berry und Gary „U.S.“ Bonds bis Bob Dylan und Woody Guthrie. Es gibt aber auch Ähnlichkeiten mit Montgomery Clift, Marlon Brando und James Dean – Leute, deren leises Murmeln besser zu hören war und mehr aussagte als das Ge- schrei anderer Leute. Bruce besaß immer eine enorme thematische und emotionale Bandbreite und Lautstärke – auch seine leisesten Sachen sind leiser als alles, was man je gehört hat. Aber er hat immer ein Spektrum von fast heroischer Breite abgedeckt. Er ist einer der ganz wenigen Songwriter, die in der Lage waren, nach dem 11. September Worte zu finden. Sein Gefühl für Musik als heilende Kraft hat ihn nie verlassen: Er steht mit den Füßen auf beiden Seiten der Kluft zwischen schwarzem und weißem Gospel, Blues und Country, zwischen Rebellion und Erlösung.
u2-tour.jpg 22. U2
Von Chris Martin
Ich kaufe keine Wochenendtickets nach Irland und hänge vor ihren Gartenzäunen herum, aber U2 sind die einzige Band, deren Stücke ich alle auswendig kann. Den ersten Song auf „The Unforgettable Fire“, „A Sort Of Homecoming“, kann ich vorwärts und rückwärts singen, so bewegend, so brillant und wunderbar ist er.
Mein erstes U2-Album überhaupt war „Achtung Baby“. Das war 1991, und ich war 14 Jahre alt. Davor wusste ich nicht mal, was Alben waren. Von da an arbeitete ich mich zurück – alle sechs Monate kaufte ich ein neues U2-Album. Ihr Sound – der treibende Bass, das Schlagzeug darunter und diese ätherischen, effektgeladenen Gitarren, die am Himmel zu schweben schienen – war etwas, das man bis dahin noch nie gehört hatte. Sie sind vielleicht die einzige Band der Geschichte, die richtig gute Rock-Hymnen gemacht hat. Ganz sicher aber die beste.
Ich mag es, dass sie gute Freunde sind und jeder im Leben der anderen eine wichtige Rolle spielt. Ich mag es, dass sie so unterschiedliche Interessen haben – wenn Larry Mullen Jr. eine Woche tauchen gehen will, können die anderen nur Däumchen drehen. U2 schreiben – wie Coldplay – alle Songs auf ihren Alben der ganzen Band zu. Und sie sind die einzige Band, die es seit 30 Jahren in derselben Besetzung gibt, ohne große Zerwürfnisse oder Trennungen.
Es ist toll, dass die größte Band der Welt so viel Integrität und Leidenschaft besitzt. Unsere Gesellschaft geht den Bach runter, Ruhm ist Zeitverschwendung und die VIP-Kultur ekelerregend. Wenige haben den Mut, das zu kritisieren, ihre Bekanntheit auf positive Weise einzusetzen. Und jedes Mal, wenn ich es versuche, fühle ich mich wie ein Idiot, weil nur Bono tatsächlich etwas erreicht. Während alle auf George W. Bush schimpften, leierte Bono ihm eine Milliarde Dollar für Afrika aus dem Kreuz. Die Leute können so zynisch sein – sie mögen keine Gutmenschen –, aber Bono denkt: „Mir egal, was die anderen denken. Ich sage meine Meinung.“ Er hat so viel geschafft, mit Greenpeace, in Sarajevo, bei dem Konzert für die Stilllegung der nordenglischen Atomanlage Sellafield, und er ist immer noch so streitbar wie eh und je.
Als die Zeit für Coldplay kam, um über Fair Trade nachzudenken, haben wir seine Rolle übernommen und das ausgesprochen, was viele Leute denken. Das ist es, was wir von U2 gelernt haben: Du musst den Mut haben, du selbst zu sein.
ReddingOtis Pain In My HeartFormat12″ Vinyl.jpg 21. Otis Redding
Von Steve Cropper
Wir sahen Otis 1964 das erste Mal. Er war der Fahrer von Johnny Jenkins and the Pinetoppers aus Macon, Georgia. Sie hatten einen kleinen Hit mit „Love Twist“, einem Instrumental, und wollten mit meiner Band Booker T. & The MGs die Nachfolgesingle aufnehmen. Ich sah diesen großen Kerl, der ausstieg, zum Heck des Busses ging und das Equipment auszuladen begann. Das war Otis. Und wir hatten keine Ahnung, dass er auch Sänger war. Damals hatten die Instrumental-Bands immer einen Sänger dabei, damit sie die Hits aus dem Radio spielen konnten, zu denen die Kids tanzen wollten.
Am Ende der Session hatten wir noch ein paar Minuten Zeit, und Al Jackson, unser Schlagzeuger, sagte: „Der Typ, den Johnny dabei hat – er will uns mal vorsingen.“ Booker hatte sich schon verabschiedet, also setzte ich mich ans Klavier. Ich spiele nicht besonders. Otis sagte: „Spiel einfach so dieses Kirchendings.“ Er meinte Triolen. Ich sagte: „Welche Tonart?“ Er sagte: „Egal.“ Dann fing er an zu singen, „These Arms Of Mine“. Und ich kriegte eine Gänsehaut. Jim (Stewart, Mitbesitzer von Stax) kam reingerannt und schrie: „Das ist es! Das ist es! Wo sind denn alle? Wir müssen das aufnehmen!“ Also schnappte ich sämtliche Musiker, die noch nicht zu ihren Abend-Gigs aufgebrochen waren, und wir nahmen an Ort und Stelle auf. Wenn man etwas hört, was besser ist als alles, was man je zuvor gehört hat, dann weiß man das. Und wir stimmten alle darin überein, dass wir es hier mit etwas Besonderem zu tun hatten.
Wir spielten das Band hinterher fast kaputt. „These Arms Of Mine“ wurde Otis Reddings erste Hitsingle – die erste von 17 in Folge. Otis war sanft wie Sam Cooke und harsch wie Little Richard und ein ganz eigenständiger Typ. Es machte auch Spaß, mit ihm zusammen zu sein – immer hundertprozentig voller Energie. So viele Sänger damals waren – bei allem Respekt – einfach schon zu lange im Geschäft. Frustriert und verbittert, weil man sie immer schlecht behandelt hatte. Otis war nicht so. Ich hab noch nie jemanden getroffen, der so überhaupt keine Vorurteile hatte. Alles an ihm war groß: sein Körper, sein Talent, die Klugheit, mit der er andere sah. Nach seinem Tod stellte ich erstaunt fest, dass wir gleich alt waren. All die Jahre hatte ich immer zu ihm aufgesehen wie zu einem großen Bruder.
Als ich mit Otis zusammenarbeitete, war es mein Job, ihm dabei zu helfen, seine Songs fertig zu kriegen. Er hatte so viele Ideen – da musste ich mir nur eine rauspicken und sagen: „Lass uns das machen!“ Und wir arbeiteten fast jede Nacht. „I Can’t Turn You Loose“ bestand aus einem Riff, das ich bereits auf einigen Stücken der MGs verwendet hatte. Otis hatte es binnen zehn Minuten mit ein paar Bläsern versehen. Ein Riff und eine Strophe, die Otis immer und immer wieder singt. Das ist alles. Bei ihm ging es ausschließlich um Gefühl und Ausdruck.
Otis fehlt mir. Ich vermisse ihn heute noch genauso, wie kurz nachdem wir ihn verloren hatten. Ich war mal an dem See in Madison, Wisconsin, wo die Gedenk-Plakette ist. Die beste Erklärung, die ich gelesen habe, war, dass sein Flugzeug die Landebahn verpasste und über dem See kreisen musste – und dann vereisten die Tragflächen. Das war am 10. Dezember 1967. Ich habe seither große Schwierigkeiten, seine Musik zu hören. Da kommen zu viele Erinnerungen hoch – und nur gute, bis auf die letzte.